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Brasiliens "Guerra urbana"
vonHochbewaffnete rivalisierende Banditenmilizen liefern sich fast permanent heftige Gefechte, terrorisieren Millionen von Slumbewohnern, sind eine Parallelmacht im Staate. Regierung und Eliten der zwölftgrößten Wirtschaftsnation schauen zu. Der "nichterklärte Bürgerkrieg" kostet jährlich weit über vierzigtausend Menschen das Leben.
Politiker und Autoritäten sprechen beschönigend von einem Sicherheitsproblem, um das sich die Polizei zu kümmern habe - Menschenrechtsexperten und selbst der schweizerische UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler weisen auf unumstößliche Tatsachen: "Für die Vereinten Nationen sind 15.000 Gewalt-Tote jährlich in einem Land ein Hinweis auf Krieg - doch in Brasilien werden sogar gemäß offiziellen Statistiken rund vierzigtausend umgebracht!" Tatsächlich sind es weit mehr, getötet aus politischen oder kriminellen Motiven, oft vermischt - doch auch in Deutschland verbinden viele mit dem Tropenstaat sozialromantische Vorstellungen, verdrängen gewöhnlich, dass gerade in Millionenstädten wie Rio de Janeiro nur unweit der Touristenstrände tagtäglich heftige Gefechte im Gange sind - ausgetragen auch mit NATO-Waffen, darunter Granatwerfern. In Deutschland werden jährlich laut BKA rund eintausend Menschen umgebracht, bei einer Gewaltrate wie in Brasilien wären es indessen weit über zwanzigtausend. Zudem befänden sich mehr als zehn Millionen illegaler Waffen fast jeden Kalibers in Privat-bzw. Gangsterhand. Jeder kann erahnen, wie Deutschland dann aussähe.
Die Weltmedien, so analysiert man in Brasilien, widmeten sich derzeit völlig übertrieben den Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern, oder dem Krieg in Afghanistan. Dabei sei es in Ramallah, Jerusalem oder Kabul weit ungefährlicher als in Brasiliens Großstädten. Denn dort kämen monatlich weit mehr Menschen im "Guerra urbana" ums Leben. Allein in dem nach Sao Paulo wirtschaftlich-politisch zweitwichtigsten Teilstaate Rio, mit einem Bruttosozialprodukt über dem von ganz Chile, sind es sogar laut amtlichen Daten weit über sechshundert. Die größte brasilianische Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo" macht im Januar 2003 folgende Rechnung auf: "In den letzten zwanzig Jahren wurden 1,9 Millionen Brasilianer getötet - 1,5 Millionen davon waren junge Menschen. Hätte Brasilien in diesen Jahren an einem Krieg teilgenommen, wären garantiert nicht so viele Opfer zu beklagen."
Bereits 1992 hatte der progressive Abgeordnete Carlos Minc betont: "In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen - das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Slums, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Rio-Bewohner missachten." Mincs Analyse wurde unlängst von einer parlamentarischen Untersuchungskommission für große Teile Brasiliens und zahlreiche andere Millionenstädte bestätigt.
Kindersoldaten wie in Afrika
Heute sehen Soziologen und Menschenrechtler viele Parallelen zur Lage in Kolumbien und in Afrika. Fernando Olinto, der als Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" bereits in Ruanda und Bosnien im Einsatz war, konstatiert, dass in Brasilien ebenso wie in Afrika bewaffnete Jugendliche, Kindersoldaten, Terror ausüben, sich die Bilder gleichen. Rio de Janeiros Stadtautobahnen zum internationalen Flughafen müssen regelmäßig wegen Banditengefechten, bewaffneten Raubüberfällen auf LKW, Busse, PKW gesperrt werden. Es reicht, sich ein solches Szenario für touristische Städte Deutschlands vorzustellen - und die entsprechenden Wirkungen auf die Fremdenverkehrsbranche. Um so erstaunlicher, dass von Brasiliens Autoritäten die enormen Einnahme- und Arbeitsplatzverluste etwa im Tourismus hingenommen werden - während die global vernetzten neofeudalen Verbrechermilizen ihre Profite ständig steigern. Immerhin werden alleine in Rio de Janeiro laut Polizeiangaben von Comando Vermelho (Rotes Kommando) und Terceiro Comando (Drittes Kommando), den beiden wichtigsten Gangsterkartellen Brasiliens, monatlich sechs Tonnen Kokain verkauft - in Lateinamerikas Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, mit über tausend deutschen Firmen, etwa ebensoviel. Gleich nach den USA ist Brasilien zweitgrößter Kokainverbraucher.
Die rivalisierenden Milizen sind zudem auf illegalen Waffenhandel, Serienentführungen, Frachtraub und Banküberfälle spezialisiert. Selbst zur Machtdemonstration feuern sie täglich Mpi-Salven ab - erhöhen damit den psychischen Druck besonders auf die Slumbewohner.
Grausames Normendiktat der neofeudalen Milizen
Die Internationale Arbeitsorganisation/IAO in Genf hat erstmals untersucht, wie Kinder und Jugendliche in den "Arbeitsmarkt" der Verbrechersyndikate integriert sind: Allein in Rio de Janeiro wurden mehrere zehntausend Minderjährige, darunter auch zahlreiche Straßenkinder, rekrutiert, bewachen mit umgehängter NATO-Heeres-Mpi Drogendepots, attackieren von feindlichen Syndikaten beherrschte Slums, nehmen an Raubüberfällen teil, exekutieren gefangene Gegner, schüchtern mit ihren Kampfhundemeuten ein. Und setzen das Normendiktat der neofeudalen Milizen gegen die Verelendeten grausam mit durch. Auch die berüchtigte "Microonda" (Mikrowelle) gehört zu den Facetten des "Guerra urbana": Das Opfer wird angebunden, Autoreifen werden bis in Kopfhöhe darübergestülpt. Aus einem Kanister reichlich Benzin über den modernen Scheiterhaufen - und dann Streichholz dran.
Jedermann in Brasiliens Slums muss Drogen, Waffen, Raubgut, bei Razzien selbst Banditen in seiner Kate verstecken, Ausgangssperren einhalten, die gewöhnlich ab zwanzig Uhr gelten. Und vor allem - zu niemandem ein Wort über interne Slumvorgänge, über die Banditen sagen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Nur ein von Rivalen besetztes Elendsviertel zu betreten, kann das Leben kosten. "Wenn ein Junge mit acht Jahren schon mit einer nordamerikanischen Heeres-Mpi umgeht, wird es kompliziert", sagt Rios angesehene Menschenrechtsanwältin Cristina Leonardo, "doch darüber spricht niemand, das müsste Hauptthema auch im Ausland sein!" Aber dort habe man eine völlig verklärte, sozialromantische Sicht der Lage. "Was hier passiert", so ein Slum-Padre, "erinnert an Horrorfilme".
Brasilien hat rund 170 Millionen Einwohner - die Hälfte der Beschäftigten verdient monatlich nur umgerechnet höchstens 170 Euro. Da ist die Gehaltstabelle für Kindersoldaten aber verlockender - sie können bereits in der Woche bis zu fünfhundert Euro verdienen. Selbst Brasiliens Bischofskonferenz prangert an, daß in den Slums ganze Generationen von Minderjährigen mit völlig verzerrten ethisch-moralischen Werten aufwachsen, "nämlich Gangsterwerten der Gewalt, des Unrechts und der Rache".
Streitkräfte bleiben passiv
Da Brasiliens nur zu oft tiefkorrupte Militär- und Zivilpolizei mit den Gangstermilizen kooperiert, Waffen und Munition liefert, forderten selbst Menschenrechtler und Geistliche, endlich die Streitkräfte einzusetzen, um den unerträglichen Stadtkrieg, den Terror der Banditenmilizen gegen die Slumbewohner zu beenden. Große Hoffnungen wurden deshalb letztes Jahr in Rios Gouverneurin Benedita da Silva gesetzt, die zur sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) des neuen Staatschefs Luis Inacio Lula da Silva gehört. Doch der Terror, die Morde im Stadtkrieg nahmen sogar zu - die Gouverneurin akzeptierte sogar, dass Armenfamilien aus ihren Katen vertrieben wurden. Benedita da Silvas Polizei sicherte zumindest den Abtransport der wenigen Habe. Weil die Lage eskalierte, bot die Zentralregierung in Brasilia ihr sogar den Einsatz der Streitkräfte an - doch sie lehnte ab. Es blieb bei den alltäglichen Greueltaten und Gefechten, der Rekrutierung von Straßenkindern, den Ausgangssperren. Inzwischen ist Benedita da Silva sogar Sozialministerin.
Würde, wie viele erwarteten, Staatschef Lula sofort nach seinem Amtsantritt die Armee einsetzen, um den Stadtkrieg zu stoppen, Millionen von Slumbewohnern zu ihren Basis-Menschenrechten zu verhelfen? Immerhin hatte dies der neue Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, Josias Quintal, gleich im Januar öffentlich vorgeschlagen. Doch die Lula-Regierung lehnte ab - ein Einsatz der Streitkräfte komme nicht in Frage. Auch Sozialexperten ist deshalb ein Rätsel, wie Staatschef Lula sein groß angekündigtes Anti-Hunger-Programm und andere Maßnahmen zur Elendsbekämpfung durchsetzen will. Schließlich lassen die Verbrechersyndikate bislang staatliche Präsenz in den riesigen Slums kaum zu, verbieten häufig sogar kirchlichen Sozialwerken und Nicht-Regierungs-Organisationen den Zutritt.