Fünf Bücher

Bücher gegen die „blinde Gefolgschaft“

von Peter Lock
Schwerpunkt
Schwerpunkt

In diesem Artikel sollen Thesen aus fünf Büchern jüdischer Autor*innen vorgestellt werden; vier sind bei deutschen Verlagen erschienen. Es sind kritische Analysen der Entwicklung der israelischen Gesellschaft zu einem identitären Staatsgebilde mit einer alttestamentarisch abgeleiteten Ideologie eines erweiterten territorialen Anspruchs, die zur Unterdrückung und Vertreibung weiterer palästinensischer Bevölkerung führen muss. Zwei der Autoren sind emeritierte Historiker, die an israelischen Universitäten gelehrt haben und im Lande leben, während vier Autor*innen bedeutende Stimmen der globalen jüdischen Diaspora sind.

Die Dominanz religiöser und völkischer Ausrichtung von (National)Staaten in Europa war die Ursache für die Jahrhunderte währende Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Bevölkerung. Isolation, Migration und Flucht waren immer wieder die Folge ebenso wie die seit dem 19. Jahrhundert angesichts der Pogrome in den russischen Siedlungsgebieten diskutierte Bildung eines jüdischen Nationalstaates (Zionismus).

„Volk ohne Raum erobert ein Territorium vermeintlich ohne Volk“ (Barenboim) ist eine konstitutive Lüge der Gründung des Staates Israel und seine Anerkennung als Ausnahme vom Völkerrecht. Der deutsche Holocaust war eine wesentliche Ursache für die irreversible Staatsgründung im Jahre 1948, die mit Terroraktionen gegen die britische „Kolonialherrschaft“ und durch Vertreibung ansässiger palästinensischer Bevölkerung (Nakba) ermöglicht wurde.

Heute leben weniger als die Hälfte aller Jüd*innen in Israel und im seit 1967 militärisch besetzten Westjordanland. Man kann daher davon ausgehen, dass mindestens ebenso viele Jüd*innen ein Leben in der „Diaspora“ vorziehen. Die auf 1,4 Millionen angewachsenen israelischen Staatsbürger*innen palästinensischer Herkunft haben nur eingeschränkte Rechte, sodass auch die gern gebrauchte Bezeichnung „einziger demokratischer Staat im Nahen Osten“, die von deutschen Politiker*innen ständig wiederholt wird, nicht den Verhältnissen in Israel entspricht.

Eyal Weizmann
2008 hat der in London lehrende Architekturanalytiker Weizman eine detailreiche Topographie des Westjordanlandes und der bereits damals fortgeschrittenen Durchdringung dieses palästinensischen Siedlungsgebietes durch israelische – im Bedarfsfall von israelischer Polizei und Militär geschützte – Siedlungen und deren exklusives, nur Siedler*innen dienendes Straßennetz zur Verbindung mit israelischem Staatsgebiet vorgelegt. Diese überzeugende Bestandsaufnahme der Siedlungsstruktur im Westjordanland nach drei Jahrzehnten militärischer Besatzung durch Israel bestätigt Tony Judts Befund aus dem Jahre 2003, veröffentlicht im New York Review of Books, wonach eine Zweistaatenlösung unmöglich und ein pluralistischer israelisch-palästinensischer Staat alternativlos geworden ist.

Diana Pinto
Diana Pinto ist Historikerin und arbeitet in Paris. Das Buch aus dem Jahre 2013 basiert auf einem persönlichen Protokoll eines Besuchs Israels, das viele Aspekte jüdischen Lebens in Israel und im Westjordanland erfasst. In einem Epilog kommt sie zu der Aussage, dass der zunehmend dominante Anspruch einer Mehrheit der Israelis auf ein alttestamentarisch begründetes Territorium, das einen vorgeblich sicheren Lebensraum ausschließlich für das Judentum bilden soll, scheitern müsse und dass Leben in der weltweiten, sehr erfolgreichen Diaspora langfristig die Zukunft des Judentums sein werde. Ihre Beobachtungen der israelischen Armee und deren ideologischer Ausrichtung besagen, dass es inzwischen undenkbar geworden sei, dass die Armee zur Räumung illegaler Siedlungen im Westjordanland herangezogen werden kann und damit die Bildung eines lebensfähigen palästinensischen Staates unmöglich geworden ist.

Sylvain Cypel
Sylvain Cypel ist in einem zionistisch-sozialistisch geprägten Elternhaus in Frankreich aufgewachsen und zwanzigjährig nach Israel ausgewandert, hat in der Armee als Fallschirmjäger gedient und in Israel studiert. Nach 12 Jahren ist er enttäuscht nach Frankreich zurückgekehrt und hat eine sehr erfolgreiche journalistische Laufbahn als Amerikakorrespondent der „Le Monde“ Mitte des letzten Jahrzehnts abgeschlossen. Der Titel seines Buches, das nicht als deutsche Übersetzung vorliegt, „Der Staat Israel gegen die Juden“ benennt das Ergebnis seiner viele Bereiche erfassenden Untersuchung zwischen 2018 und 2020. Israel habe sich immer schneller in einen ethnonationalistisch-segregationistischen Staat gewandelt, der alle Merkmale eines gewählten Apartheidstaates aufweise und der  das Westjordanland und den Gazastreifen wie Kolonien behandele und militärisch kontrolliere. Seine Analyse zeigt zugleich, dass weder die israelische noch die palästinensische Seite endgültig verlieren können.

In elf Kapiteln untersucht er den beschleunigten Abbau rechtsstaatlicher Strukturen durch die Verabschiedung entsprechender Gesetze. Orthodox-religiöser Einfluss auf grundsätzlich säkulare staatliche Aufgaben sei sogar bei der Ausbildung von Offizieren der Armee zu beobachten. In einer religiös-orthodox kontrollierten Akademie im Westjordanland werden regulär Offiziere (1) ausgebildet.

Die massiven und andauernden Proteste eines sehr großen Teils der israelischen Bevölkerung gegen die parlamentarische Entmachtung des Obersten Gerichtshofes haben zwar den rechts-nationalistischen Kurs des Netanjahu-Regimes international sichtbar gemacht. Aber mangels einer sorgfältigen Berichterstattung der Entwicklung des israelischen Staates, besonders in Deutschland, wird die Rolle des Obersten Gerichtshofes als Wahrer von Rechtsstaatlichkeit falsch eingeschätzt. Omri Böhm hat darauf hingewiesen, dass dieser Gerichtshof u.a. die illegale Landnahme durch Siedler im Westjordanland für rechtmäßig erklärt hat.

Zuckermann und Zimmermann
Die beiden an israelischen Universitäten emeritierten Historiker Moshe Zuckermann und Moshe Zimmermann haben einen Gedankenaustausch zur verbreiteten Ignoranz politischer Strömungen im Verhältnis zwischen Israel und Deutschland im Jahre 2022 abgeschlossen. Er wurde in Deutschland lange vor dem 7. Oktober veröffentlicht.

Jenseits der deutschen Floskel, dass die Sicherheit Israels Staatsraison sei und der aggressiv vertretenen Position des Netanjahu-Regimes, dass jede Kritik an der Politik Israels Antisemitismus sei, beleuchtet dieses kenntnisreiche Gesprächsprotokoll die historischen Wurzeln des zionistischen Projektes. Die Unterstützung der aktuellen israelischen Regierung, einschließlich der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung seit  mehr als einem halben Jahrhundert, durch amerikanische Evangelikale, einschließlich Trump, und durch rechte Parteien in Europa, darunter die AfD, wird überzeugend erläutert.

Abschließend fragen beide Autoren besorgt, wie es kommen konnte, dass die Politik gegenüber Israel die nach dem Holocaust mit der Vereinten Nationen kodifizierten Menschenrechte ausblendet. Man kann dieses Buch als Hilfeersuchen zweier israelischer Demokraten lesen, die angesichts „der israelischen ‚Okkupationsbarbarei‘“ (S. 300) die Gleichsetzung von Kritik der Politik des Netanjahu-Regimes und Antisemitismus endlich zurückzuweisen.

Saul Friedländer
Saul Friedländer ist mit seinen deutschsprachigen Eltern aus Prag vor den Nationalsozialisten nach Frankreich geflohen. Seine Eltern sind 1942 im Vichy-Frankreich gefasst und in Auschwitz ermordet worden. Er hat als katholisch getaufter Schüler in französischen Internaten überlebt und ist frühestmöglich nach Israel ausgewandert. Er hat in Israel von Beginn an am Aufbau eines demokratischen Staates gearbeitet. Über Jahrzehnte hat er viele wichtige Beiträge zur Erforschung des Holocaust geliefert und war Hochschullehrer in Israel, der Schweiz, den USA und Deutschland (Jena).

Hochbetagt lebt er mit seiner Frau in Kalifornien und verfolgt täglich in den hebräischen Medien die politischen Projekte des ultrarechten Netanjahu-Regimes und den massiven Widerstand liberaler Israelis auf den Straßen in Tel Aviv und Jerusalem. In dieser Publikation lässt er uns an seiner täglichen Kommentierung der Ereignisse in Israel vom 9. Januar 2023 bis zum 26. Juli in einem Tagebuch teilhaben. Im Titel „Blick in den Abgrund“ sind seine Ängste angesichts der konkreten Gefahr formuliert, dass Israel endgültig zu einem autoritären religiös-rassistisch verfassten Regime verkomme. Für uns deutsche Leser*innen werden vielfältig die komplexen Bedingungen erläutert, die wesentlich zur heutigen Verfassung der israelischen Gesellschaft und der gewählten knappen Mehrheit in der Knesset beigetragen haben. Massiv unterstützt von der israelischen Diplomatie würde man jedoch in Deutschland als Antisemit gebrandmarkt, wenn man wichtige Einschätzungen in diesem Tagebuch als politische Kommentierung der Ereignisse in Israel veröffentlichte.

Es ist zu hoffen, dass die Einschätzungen der hier knapp vorgestellten Bücher jüdischer Autor*innen zu einer Revision der deutschen Außenpolitik gegenüber Israel beitragen, die die nahezu blinde Gefolgschaft der Ideologie der israelischen Regierungen ¬ die Sicherheit Israels wird in Deutschland seit 2008 als deutsche Staatsraison bezeichnet –, überwindet.

Die Bücher:
Eyal Weizman, Hollow Land, Israel’s architecture of occupation, London (Verso) 2007, 318 Seiten (2) deutsch: Eyal Weizman, Sperrzonen, Israels Architektur der Besatzung, Hamburg Nautilus 2009, 384 Seiten
Pinto, Diana, Israel has moved, Cambridge Harvard University Press 2013, 216 Seiten; <deutsch> Diana Pinto, Israel ist umgezogen, Suhrkamp 2013, 239 Seiten
Silvain Cypel, L’État d’Israel contre le Juifs, Paris La Découverte 2020, 322 Seiten
Zimmermann, Moshe; Zuckermann, Moshe, Denk ich an Deutschland Ein Dialog in Israel. Frankfurt Westend 2023, 304 Seiten
Friedländer, Saul, Blick in den Abgrund Ein israelisches Tagebuch, München C.H.Beck 2023, 238 Seiten

Anmerkungen
1 Auf Deutschland übertragen hieße das die Schaffung einer nationalistisch ausgerichteten Akademie in einem von der AFD regierten Bundesland zur Ausbildung von Offizieren zusätzlich zur Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.
2 Ausführliche Besprechung 2008: http://www.peter-lock.de/txt/weizmanhollowland.php

Rubrik

Schwerpunkt
Peter Lock ist freier Sozialwissenschaftler. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Globalisierung und bewaffnete Gewalt. Weiteres unter www.Peter-Lock.de