NATO-Bündnisfall

Bündnisfall ohne Ende?

von Sabine Jaberg
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Seit zwanzig Jahren gilt der Bündnisfall. Die NATO stellte ihn zum bislang einzigen Mal einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 fest, um ihn am 4. Oktober definitiv zu beschließen: Gemäß Artikel 5 seien „die NATO-Verbündeten der Vereinigten Staaten bereit, den Beistand zu leisten, der als Folge dieses barbarischen Aktes erforderlich sein mag“ (1). Bereits drei Tage später, am 7. Oktober, eröffneten amerikanische und britische Streitkräfte die Operation Enduring Freedom (OEF) zunächst gegen Afghanistan, wo die Hintermänner der Terrorangriffe vermutet wurden.

Diese immer mehr Staaten umfassende und weltweit aktive „Koalition der Willigen“ wurde exklusiv von den USA geführt. Unter NATO-Kommando stand hingegen die lediglich für die Seeraumüberwachung im Mittelmeer zuständige Operation Active Endeavour (OAE). Hinzu kam die nur wenige Monate dauernde Mission Eagle Assist zur Überwachung des amerikanischen Luftraums. Mittlerweile hat sich die Einsatzlandschaft grundlegend verändert: So wurde Anfang 2015 OEF durch die US-amerikanische Operation Freedom’s Sentinel sowie OAE 2016 durch die nicht mehr unter Artikel 5 firmierende Operation Sea Guardian ersetzt. Und an die Stelle der zur Unterstützung der afghanischen Regierung vorgesehenen, aber zusehends für den Antiterrorkrieg gekaperten, UNO-mandatierten International Security Assistance Force (ISAF) ist die NATO-Ausbildungsmission Resolute Support getreten. Der Bündnisfall ist aber bis heute nicht aufgehoben (Stand: 16. Juni 2021).

Immerhin könnte seine Ausrufung auf den ersten Blick berechtigt erscheinen, ist doch ein Mitglied auf seinem Territorium attackiert worden. Und die Partner bekennen sich in Artikel 5 dazu, einen Angriff auf mindestens einen von ihnen als „Angriff gegen sie alle“ zu betrachten und einander Beistand zu leisten, „indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“. Allerdings handelt es sich beim Recht auf Selbstverteidigung, auf dem auch der NATO-Vertrag gründet, um eine relationale Norm. Seine Bedeutung erschließt sich erst durch Einbettung in seinen völkerrechtlichen Zusammenhang; die Zulässigkeit seiner Inanspruchnahme hängt vom Gesamtkontext ab.

Das Recht auf Selbstverteidigung als Notbehelf im Kollektivsystem der UNO
Grundlegend für die völkerrechtliche Kontextualisierung des Rechts auf Selbstverteidigung ist das absolute Gewaltverbot in Artikel 2 (4) der UNO-Charta. Demnach „unterlassen [alle Mitglieder] jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“. Zu diesen Zielen zählt die Präambel an erster Stelle, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Daher ist in Artikel 51 das „Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung“ gleich mehrfach konditioniert: (1.) Materiell sind die erfassten Tatbestände auf einen „bewaffneten Angriff“ begrenzt. (2.) Funktional geht es ausschließlich darum, sich gegen diesen zu verteidigen. (3.) Zeitlich darf Selbstverteidigung nur solange andauern, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. (4.) Prozessual sind die Maßnahmen „dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen“.

Der Grundgedanke ist klar: Nicht nur das Gewaltverbot, auch die Hauptverantwortung des Sicherheitsrats für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit soll geschützt werden. Da das Selbstverteidigungsrecht aber aus dem Kollektivsystem hinausführt, gilt es diese Ausstiegsluke so klein wie nötig zu halten, das Tor für den Rückweg so weit wie möglich zu öffnen, wenngleich das Vetorecht der fünf Ständigen Mitglieder diese Absicht im Einzelfall strukturell zu unterlaufen droht. Bereits der Sachverhalt, dass der Bündnisfall seinen Anlass so lange überlebt hat, zeigt: Hier ist etwas gehörig schiefgegangen.

Vom eng umrissenen Bündnisfall zum entgrenzten Krieg gegen den Terror
Schon der genauere Blick auf Artikel 51 lässt erahnen, dass das Selbstverteidigungsrecht und der hierauf fußende Bündnisfall dem Problem, um das es geht, nicht entsprechen: Es handelt sich um einen Kategorienfehler. Da die Attentäter die gekaperten Zivilflugzeuge auf ihrem Todesflug zur Waffe umfunktionalisierten, ließen sich die Angriffe materiell zwar noch als „bewaffnet“ qualifizieren, auch wenn NATO und UNO auf eine solche Zuschreibung verzichteten. Schwieriger wird es beim funktionalen Ziel der Selbstverteidigung. Die terroristischen Attacken waren in dem Moment, indem sie erfolgten, abgeschlossen, die Attentäter tot. Selbstverteidigung gegen sie war nicht mehr möglich, Vergeltung nicht erlaubt. Zweifelsfrei erlaubt und geradezu geboten wäre es jedoch gewesen, der Hintermänner polizeilich habhaft zu werden, um sie vor Gericht zu stellen, und dem transnationalen Terrorismus seine Reproduktionsbedingungen zu entziehen. Genau dazu forderte der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1373 vom 28. September 2001 auf. Das hätte aber geheißen, die Attentate als kriminelle und eben nicht als kriegerische Akte zu betrachten. Dies erschien den USA und ihren Verbündeten angesichts der zahlreichen Opfer und starken Bilder der Anschläge offenbar nicht genug. Um ihr Recht auf Selbstverteidigung zu plausibilisieren, wurde zum einen das afghanische Taliban-Regime für die Attentate mitverantwortlich gemacht, da es Al Qaida mutmaßlich einen sicheren Hafen gewährte. Damit erhielten die Maßnahmen auch einen quasi-staatlichen Adressaten. Zum anderen unterstellten die USA und ihre Verbündeten einen andauernden terroristischen Angriffskrieg, dem sie sich in einem ebenfalls permanenten globalen Verteidigungskrieg zu erwehren hätten. Daher betrachteten sie die in der oben genannten Resolution enthaltenen Maßnahmen als nicht hinreichend, um ihrem in der Charta zugestandenen „naturgegebene[n] Recht“ auf Selbstverteidigung zu entsprechen. Selbst wenn dessen Inanspruchnahme prinzipiell eingeräumt worden wäre, worauf ja die Resolutionen 1368 und 1373 hindeuten, die dieses Recht bekräftigen, ohne jedoch darauf gründende Maßnahmen zu legitimieren: Auf militärische Schläge hätte zeitlich in dem Moment verzichtet werden müssen, als der Sicherheitsrat in der Resolution 1373 die seines Erachtens erforderlichen Schritte unter Kapitel VII der Charta beschlossen hatte. Beim war on terror handelt es sich demnach um einen unzulässigen Selbstverteidigungsexzess. (2) An der Gesamtbewertung ändert die prozessual vorschriftsmäßige Unterrichtung des Sicherheitsrats nicht das Geringste.

Wie weiter mit dem Bündnisfall?
Den bedingungslosen Abzug aus Afghanistan begründet der Außenminister der USA Antony Blinken wie folgt: „Gemeinsam haben wir diese Ziele erreicht, die wir uns gesetzt haben“ (3), nämlich die Angreifer vom 11. September zur Rechenschaft zu ziehen und ihren sicheren Hafen in Afghanistan trockenzulegen. Wenngleich argumentiert werden könnte, der Bündnisfall habe völkerrechtlich ohnehin nie bestanden oder sich faktisch überholt, wäre es konsequent, ihn nun explizit aufzuheben. Das unterstriche die Absicht, sich künftig nicht mehr auf ihn zu berufen. Möglicherweise soll der Bündnisfall aber auch als politisches Hintergrundrauschen, Grundlage für Sonderrechte amerikanischer Geheimdienste (4) und völkerrechtliche Legitimationsressource bestehen bleiben. Immerhin stuft das NATO-Gipfeldokument vom Juni dieses Jahres den Terrorismus weiterhin als große Bedrohung ein. (5) Mit Blick auf mögliche Bündnisfälle schiebt es aber auch andere Themen nach vorne: Das betrifft die neuen Dimensionen des Cyberspace und des Weltalls. Vor allem aber erinnert die Rückkehr klassischer Großmächtekonkurrenz wieder an den eigentlichen Zweck der Allianz: die Verteidigung des Bündnisgebiets gegen militärische und mittlerweile auch gegen hybride Angriffe. Besondere Sorge gilt dabei dem Baltikum. Jedoch sollten angesichts wachsender Konflikte mit China die Schiffe von NATO-Staaten im Südchinesischen Meer nicht vergessen werden: Zwar ist der Geltungsraum der Beistandsverpflichtung gemäß Artikel 6 auf den Raum nördlich des Wendekreises des Krebses beschränkt, was aber längst nicht mehr mit der Rolle der Allianz als globale Ordnungsmacht korrespondiert. Eine Bestandsgarantie lässt sich dieser Begrenzung daher nicht attestieren.

Aus völker- und bündnisrechtlicher – übrigens auch aus grundgesetzlicher – Perspektive gilt es zu beachten, dass nur jenen Mitgliedern beigesprungen werden darf, die unverschuldet Opfer eines bewaffneten Angriffs geworden sind. Vertragsparteien, die selbst aktiv zündeln  oder Aggressionen begehen, ist hingegen jede Unterstützung zu verweigern. Das hat der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn im Oktober 2019 offenbar übersehen, als er nach dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien bereits einen potenziellen Bündnisfall heraufziehen sah. (6) Die Intensivierung militärischer Anstrengungen wäre jedoch der falsche Weg: Sie verschärfte das Sicherheitsdilemma, befeuerte die Eskalation und erhöhte das Kriegsrisiko. Allen Beteiligten mangelt es schon jetzt weder an Waffen noch am Willen zum Muskelspiel, sondern an Vertrauen und Dialogbereitschaft. Hier gilt es den Hebel anzusetzen.

Anmerkungen
(alle Websites abgerufen am 16.6.21)
1 Der Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags. Erklärung des Nordatlantikrats vom 12. September 2001 (Wortlaut) (https://www.blaetter.de/ausgabe/2001/oktober/der-buendnisfall-nach-art-5...).
2 Vgl. Paech, Norman: „Die Auffassung der Bundesregierung ist falsch“. Gutachten zum Antrag der Bundesregierung vom 7. November 2001 (Auszüge), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2001, S. 1516-1518.
3 Zit. nach: Augen zu und raus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. April 2021.
4 Vgl. „Gewisse Scheinheiligkeit in diesen europäischen Protesten“ (Dick Marty im Interview mit Friedbert Meurer vom 9. Juli 2013) (https://www.deutschlandfunk.de/gewisse-scheinheiligkeit-in-diesen-europa...).
5 Vgl. NATO sieht Russland und Terror als größte Bedrohungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Juni 2021.
6 Vgl. Asselborn: Türkischer Feldzug könnte Nato-Bündnisfall auslösen, in: Luxemburger Wort vom 14. Oktober 2019 (https://www.wort.lu/de/international/asselborn-tuerkischer-feldzug-koenn...).

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