Die Exekutive entscheidet

Bundeswehr als Hilfspolizei

von Frank Brendle
Schwerpunkt
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Die relativ strikte Aufgabentrennung zwischen Polizei und Militär, die es in Deutschland (noch) gibt, ist historisch gesehen relativ jung und entwickelte sich parallel zur allmählichen Herausbildung eines festen Polizeiapparates. Noch die Verfassung der Weimarer Republik erlaubte den Einsatz der Streitkräfte zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Auf die Definition konkreter Einsatzgrundlagen wurde großzügig verzichtet, so dass Militär wiederholt gegen Streikende oder Massenproteste eingesetzt werden konnte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war damit zunächst Schluss: Das Grundgesetz verbot bis 1968 ausdrücklich jegliche Betätigung der Streitkräfte im Inneren, egal zu welchem Zweck, egal ob bewaffnet oder nicht. Papier war aber schon damals geduldig.1962 forderte der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (später Bundeskanzler) anlässlich einer schweren Sturmflut die Bundeswehr an, nicht nur fürs Schleppen von Sandsäcken, sondern auch für Sicherungsaufgaben wie dem Schutz vor Plünderern. Später gestand Schmidt ein, „wissentlich und willentlich“ das Grundgesetz und die Hamburgische Verfassung übertreten zu haben. Konsequenzen: keine.

Mit den 1968 eingeführten Notstandsgesetzen wurden im Grundgesetz erstmals Bundeswehreinsätze im Inland geregelt. Polizeiähnliche Einsätze (außerhalb des Verteidigungsfalles) wurden auf die Unterstützung ziviler Behörden zur Bewältigung von Katastrophenlagen beschränkt. Das umschließt etwa grundrechtsrelevante Maßnahmen wie Verkehrslenkung, Straßenabsperrungen, Platzverweise u. ä., sofern (!) diese zur Durchführung der Katastrophenhilfe notwendig sind.

Die seit Anfang des Jahrtausends zur offiziellen Doktrin erhobene Idee der „Vernetzten Sicherheit“, verlangt indes die Zusammenführung aller zivilen und militärischen Fähigkeiten.

Im Vorfeld der Fußball-WM 2006 entfachte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble ein wahres Trommelfeuer, um die Bundeswehr als Hilfspolizei engagieren zu können, bis hin zum Auffahren von Panzern vor Stadien. Daraus wurde nichts, aber ein Jahr später sahen sich Zehntausende Demonstrant*innen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm einem massiven Bundeswehreinsatz gegenüber. Dutzendfach überflogen Tornado-Flugzeuge die Region, Fennek-Spähpanzer und Hunderte von Feldjägern spähten in Felder und Wälder nach „Waffendepots“ von Gipfelgegnern, wie es hieß – eine klassische Polizeiaufgabe. Als Rechtsgrundlage wurde die „Amtshilferegelung“ von Artikel 35 Abs. 1 Grundgesetz bemüht, die einfache Hilfe zwischen den Behörden von Bund und Ländern erlaubt. Nur: Eingriffe in die Grundrechte der Bürger*innen erlaubt dieser Artikel gerade nicht. 

Dennoch blieb die juristische Aufarbeitung rudimentär. Lediglich ein einziger Tiefflug über einem Protestcamp wurde im Jahr 2021 (!) vom Oberverwaltungsgericht Schwerin als verfassungswidrige Verletzung der Versammlungsfreiheit erklärt. Eine gegen den Bundeswehreinsatz an sich gerichtete Organklage der Grünen-Bundestagsfraktion vor dem Bundesverfassungsgericht hingegen wurde abgewiesen, im Wesentlichen aus formalen Gründen, weil ein Inlandseinsatz der Bundeswehr – anders als ein Auslandseinsatz – keinem Parlamentsvorbehalt unterliege.

Was immerhin aufzeigte, dass derlei Einsätze weder vom Parlament noch von Gerichten angemessen kontrolliert werden können.

Der Heiligendamm-Einsatz scheint ein Testballon gewesen zu sein, wohl auch infolge massiver Proteste und juristischer Zweifel hat sich ein solcher Einsatz bislang nicht wiederholt.

Versuche der Grundgesetzänderung
Der Versuch der Großen Koalition, die Einsatzoptionen der Bundeswehr durch eine Grundgesetzänderung zu erweitern, scheiterte 2008 an fehlenden Mehrheiten. Ein bereits von der vorangegangenen SPD-Grünen-Koalition im Jahr 2003 unternommener Anlauf, es ohne Verfassungsänderung zu probieren, scheiterte ebenfalls: Das sog. Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss terrorverdächtiger Flugzeuge durch Militärjets vorsah, wurde 2006 vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Das Leben Unschuldiger bewusst zu opfern, um andere Unschuldige zu retten, verstoße gegen die Menschenwürde.

Die Linie war: Terrorbekämpfung ist Polizeisache, und dabei dürfen auch nur polizeiliche Mittel eingesetzt werden. 2012 jedoch schwenkte das Gesamtplenum des Bundesverfassungsgerichtes um und entschied, dass die Verwendung militärischer Mittel zur Gefahrenabwehr (unter engen Voraussetzungen) möglich sei. Das Gericht verwies auf „heutige Bedrohungslagen“, die eine „zweckgerechte“ Auslegung des Grundgesetzes erforderten.

Der damals getroffene Beschluss entspricht einer faktischen Verfassungsänderung, hatte allerdings bislang noch keine praktischen Folgen. Dennoch ist ein Militäreinsatz zur Bewältigung einer auch menschengemachten Katastrophe seither prinzipiell möglich. Parallel zu diesen Entwicklungen baute die Bundeswehr bis 2007 bundesweite Strukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (ZMZ) auf, die als Scharniere zwischen zivilen Behörden (inkl. Polizei) und dem Militär fungieren, um im Katastrophenfall rasch militärische Hilfe bereitzustellen. Was als Katastrophe gilt, ob etwa eine Bedrohung durch „extremistische“ Straftäter, die „Waffendepots“ anlegen, um die Staatsführung hochzujagen, dazu gehört, definiert die Exekutive.

Corona-Einsatz
Der Amtshilfeeinsatz während der Corona-Krise war mit Abstand der größte in der Geschichte der Bundeswehr. Zivile Behörden machten landauf, landab von der Möglichkeit Gebrauch, Soldat*innen kostenlos zur Bewältigung der Krise hinzuzuziehen. Das galt weithin als alternativlos – es sei aber darauf hingewiesen, dass die Kompensation ziviler Defizite durch das Militär maximal so lange gut geht, bis die Bundeswehr sich auf ihre „Kernaufgaben“ besinnt. Im April 2022 erklärte sie, „vor dem Hintergrund der aktuellen Lageentwicklung in der Ukraine“ gebe es nunmehr „kaum noch Spielräume für das dauerhafte Vorhalten eines Hilfeleistungskontingentes.“ Die Truppe goutiert zwar den Imagegewinn durch solche Hilfseinsätze, will sich aber keineswegs langfristig zur Unterstützung chronisch unterfinanzierter ziviler Behörden verpflichten.

Verfassungsrechtlich gesehen war der Einsatz unproblematisch, da die Grundrechte der Bürger*innen nicht tangiert wurden. Grundrechtsrelevante Tätigkeiten wie etwa Einlasskontrollen in Krankenhäuser usw. übernahmen die hierfür befugten zivilen Einrichtungen. Bisweilen allerdings formulierten diese Unterstützungsgesuche, die über den Verfassungsrahmen hinausgingen: In mindestens 19 Fällen wurde gewünscht, Soldat*innen mögen den Zugang zu Krankenhäusern oder medizinischen Lagern bewachen, eine unter Quarantäne stehende Flüchtlingsunterkunft abriegeln, oder bei der medizinischen Triage helfen. Soweit bekannt, wurden alle derartigen Anträge vom Verteidigungsministerium abgelehnt.

Als Fazit bleibt: Das grundlegende Tätigkeitsverbot des Militärs im Inland, das seinen Einsatz gegen Bürgerinnen und Bürger auch außerhalb eines Kriegsfalls erlaubt, ist in Deutschland passé. Die militärischen Einsatzbefugnisse sind seit dem Verfassungsurteil von 2012 erweitert, aber ohne exakt abgezirkelt zu sein. Da Inlandseinsätze zugleich keinem Parlamentsvorbehalt unterliegen, hat die politische Führung sehr viel Interpretationsfreiheit für die Verwendung der Bundeswehr als Quasi-Polizei. Es kommt nur noch darauf an, bis wann sie den Bedarf dafür sieht.

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