"Karls-Rühe" hat gesprochen:

Bundeswehr darf ab sofort mitschießen!

von Martin Singe
Hintergrund
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Deutschland wird "normal"

Der 12.7.1994 war ein dunkler Tag für die Friedensbewegung. Das, was die Bundesregierung, allen voran Kohl, Kinkel und Rühe seit dem Golfkrieg vorbereitet haben, findet einen krönen­den Abschluß im Richterspruch von Karlsruhe. Die Bundeswehr darf ab so­fort fast alles - und hätte es auch schon immer gedurft, wenn sie selbst und alle bisherigen Regierungen nicht das Falsche aus der Verfassung herausgele­sen hätten: daß die Bundeswehr nur zur Verteidigung da sei. Das steht zwar im Grundgesetz wörtlich drin, aber - es war leider nicht so gemeint. 

Bill Clinton: "Alles ist möglich"

Das Urteil von Karlsruhe kann am be­sten im Lichte des nicht gerade schlecht inszenierten parallel zum Urteilsspruch stattfindenden Auftritt Clintons am Brandenburger Tor gesehen werden. Clinton interpretierte nämlich dort das Urteil am treffendsten - obwohl nur Eingeweihte wussten, was er meinte: "Nichts wird uns aufhalten. Alles ist möglich." (Clinton, nach FAZ, 13.7.94)

Grundgesetzverbieger am Werk

Wie haben die VerfassungsrichterInnen diese Verkehrung des Grundgesetzes geschafft?

1.    Das Urteil geht über die Problematik des Art. 87 a GG, in dem geregelt ist, daß die Bundeswehr nur zur Vertei­digung eingesetzt werden darf, schlicht und einfach hinweg, indem es behauptet, daß dieser Artikel wei­tergehenden Einsätzen, die über Art. 24 GG legitimiert werden, nicht ent­gegensteht.

2.    Das Urteil behauptet, daß sich die Bundesregierung mit dem UNO-Bei­tritt gemäß Art. 24 GG auch allen damit zusammenhängenden Rechten und Pflichten unterwirft. Dazu gehört nach Meinung der Verfassungsrichte­rInnen auch die Beteiligung an mili­tärischen Maßnahmen. Daß es aber keinen Automatismus lt. UN-Charta für die Zurverfügungstellung von Truppen gibt, spielt keine Rolle für Karlsruhe. Die UN-Charta schreibt lediglich vor, daß Verhandlungen über die Zurverfügungstellung von Truppen geführt werden sollen - nach Maßgabe des Verfassungsrechts der jeweiligen Länder.

3.    Auch die NATO wird kurzerhand zu einem System kollektiver Sicherheit umdefiniert, obwohl es ein klassi­sches Verteidigungsbündnis ist, das im Gegensatz zu sicherheitspolitisch nach innen gerichteten Systemen kollektiver Sicherheit ein nach außen gerichtetes System ist. Dieser "Unterschied ist nicht minimal, son­dern fundamental. Militärallianzen bilden das klassische Instrument der Kriegs- und Gewaltpolitik. Die UN - und vor ihnen der Völkerbund - sind gegründet worden, um diese Gewalt­instrumente und die dazugehörige Machtpolitik überflüssig zu machen" (E.-O Czempiel, FR 24.8.94).

4.    Indem keinerlei Einschränkungen für die Bundeswehr mehr im Grundge­setz gesehen werden und Artikel 87 a für irrelevant erklärt wurde, sind also alle Einsätze unter UN-Dach oder UN-Legitimierung wie im Golfkrieg (auch wenn hier einige SPD-Politiker oder Friedensforscher widerspre­chen), im Rahmen der NATO oder der WEU oder auch in frei gebildeter Militärallianz möglich, da die UN-Charta ja allen Staaten das Recht auf  kollektive Selbstverteidigung belässt (Art.51 UN-Charta). Lediglich ein deutscher Alleingang bleibt ausge­schlossen.

Alle von der Bundesregierung geplan­ten Einsatzformen sind mit einfacher Parlamentsmehrheit möglich

So weitreichend wie jetzt Militärein­sätze legitimiert sind, wäre es noch nicht einmal gekommen, wenn die Regie­rungskoalition ihren Gesetzentwurf von Januar 1993 durchbekommen hätte, der damals an der fehlenden, für eine Grundgesetzänderung notwendigen 2/3-Mehrheit scheiterte. Jetzt hat der Spruch von Karlsruhe dasselbe erreicht, aber unter noch vereinfachten Bedingungen. Der Gesetzentwurf sah drei Einsatzfor­men vor: friedenserhaltende Maßnah­men, "friedensherstellende Maßnah­men" (Kampfeinsätze) durch die UN oder durch UN-Auftrag wie im Golf­krieg, Ausübung des Rechtes zur kol­lektiven Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta. Die beiden ersten Maß­nahmen sollten mit einfacher Parla­mentszustimmung möglich sein, die letztere - weil besonders heikel - nur mit 2/3-Mehrheit. Nach Karlsruhe ist nun aber auch letztere Einsatzform mit ein­facher Mehrheit möglich. Die Regierung selbst hatte in ihrem Gesetzentwurf an­gemerkt, was mit "Einsatzversion 3" gemeint ist: "Die Vorschrift zielt auf den Fall der darin eingeschlossenen kollektiven Nothilfe, d.h. ein dritter Staat muß angegriffen sein und um Bei­stand ersuchen oder mit der Beistands­leistung einverstanden sein". - Wie schnell können solche Hilferufe oder das "Einverstandensein mit der Bei­standsleistung" konstruiert werden!

Nun macht sich die Regierung lustig, daß dank der oppositionellen Klagen mehr erreicht ist, als man selbst zu for­dern wagte: "Wir wollten in dieser Frage Einigkeit mit der Opposition. Es ist ja nicht so, daß wir nicht gutwillig gewesen wären. Ursprünglich wären wir bereit gewesen, für bestimmte Einsätze eine Zweidrittelmehrheit vorzusehen. Sie (zur SPD gewandt) haben auch dazu nein gesagt, und jetzt besteht kein Grund mehr, das Grundgesetz zu än­dern." (Michael Glos, CSU, in der Bun­destagsdebatte zum Urteil in der Son­dersitzung am 29.7.94, in: Das Parla­ment, 31, 5.8.94)

Die SPD ist umgefallen, Schattenver­teidigungsminister Klose erleichtert - wo bleibt der Basisaufstand?

Das Urteil muß auch im Zusammenhang der ersten Debatte des Bundestages zu diesem Thema, der Sondersitzung am 29.7.94, gesehen werden. Hier zeigte sich als besonders Bemerkenswertes das Versagen der Opposition. Schon vor Monaten konnte man von SPD-Refer­enten auf Podiumsdiskussionen auf die Frage, wann denn die SPD in der Frage von Kampfeinsätzen umkippe, hören, daß dies wohl im Falle einer entspre­chenden Bundesverfassungsgerichtsent­scheidung kommen könne. Genauso ist's nun geschehen. Kein einziger der SPD-Redner in der Debatte hat die Par­teiposition der SPD aufrechterhalten. Alle sprachen lediglich noch von Zu­rückhaltung und Prüfung der Zustim­mung im Einzelfall. Dagegen war auf dem letzten Parteitag beschlossen wor­den, daß die SPD lediglich Blauhelm­einsätzen, aber keinen Kampfeinsätzen zustimme. Also hätte die SPD nun ange­sichts der neuen Verfassungsinterpreta­tion eine klarstellende Verfassungsände­rung zwecks Verbots von Kampfeinsät­zen fordern müssen. Aber selbst von Bündnis 90/Die Grünen war kein grund­sätzlicher Widerspruch zu hören. Umso stärker sind nun wieder die Friedens­gruppen, die Parteibasis von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie die au­ßerparlamentarischen Bewegungen ge­fordert.

Ein Zukunfts-Szenario mit ernstem Hintergrund

Ein Gipfel des Urteils ist die Umdefini­tion der NATO von einer nach außen gerichteten Militärallianz zu einem kol­lektiven Sicherheitssystem (s.o.). "Wenn aber die Militärallianz der NATO kein Verteidigungsbündnis mehr ist, sondern eine kleine UN, dann braucht diese NATO keine UN-Mandate mehr. Sie kann sich selbst ein solches Mandat er­teilen und es auch gleich ausführen. Die Kanonenbooteinsätze einer Militäralli­anz mutieren auf diese Weise zu frie­densschaffenden Maß-nahmen einer UN-gleichen Organisation." (Czempiel, a.a.O.)

Was geschähe aber, wenn unsere beiden kollektiven Sicherheitssysteme in Kon­flikt kämen. Was wäre, wenn z.B. ein­mal eine völlig reformierte UNO da wä­re, in der die 3.-Welt-Länder das mehr­heitliche Sagen hätten? Was wäre dann, wenn z.B. ein NATO-Mitglied Maßnah­men vornimmt, die die UNO verurteilt. - Erinnert sei an den Fall der Verminung der Häfen Nicaraguas durch die USA. Damals wurde die US-Maß­nahme von der UN eindeutig verurteilt, aber die USA setzten die Verminung fort, ohne daß die UN irgendeine militä­rische Konsequenz gegen die USA be­schlossen hätten. Was also, wenn in ei­nem ähnlich gelagerten neuerlichen Fall die UN die Staaten der Weltgemein­schaft ersuchen würde, eine Truppe zur Durchsetzung eines UN-Beschlusses z.B. gegen die USA zusammenzustel­len?

Dann stehen wir mit je einem Bein in jedem der beiden kollektiven Sicher­heitssysteme. Was würden dann die Deutschen entscheiden? Teilen sich dann die deutschen Krisenreaktions­kräfte auf beide Sicherheitssysteme auf und kämpfen gegeneinander? Die alten NVA-Soldaten zur UN-Truppe und die westlichen zur NATO, weil sie dieses Sicherheitssystem ja ein wenig besser kennen? Vielleicht wäre das dann der Gipfel deutsch-wiedervereinigt wahrge­nommener Weltverantwortung?

Die Friedensbewegung ist nach Karlsruhe erst recht gefordert

Mit Karlsruhe ist die Debatte jedoch nicht am Ende, denn in jedem Einzelfall muß immerhin noch das Parlament ent­scheiden. Deshalb kommt es darauf an, daß jetzt die Friedensgruppen und Akti­ven aus den sozialen Bewegungen umso intensiver in die Debatte um Kampfeinsätze einsteigen, damit die in­nenpolitische Auseinandersetzung in dieser Frage nicht zur Ruhe kommt. Die Alternativen der zivilen Konfliktbear­beitung sind in die Gesellschaft zu ver­mitteln und - soweit von unten möglich - selbständig zu entwickeln und umzu­setzen, wie z.B. der zivile Friedens­dienst. Die Entwicklung solcher nicht­militärischer Konfliktlösungsmechanis­men sind auch von der offiziellen Poli­tik der Regierung bis hin zur UNO ein­zufordern. Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob nicht neben der konstruk­tiv-alternativen Arbeit an Formen ziviler Konfliktbearbeitung auch ein konkreter Widerstandsplan gewaltfreier Aktion und zivilen Ungehorsams für den Fall eines nicht hinnehmbaren Interventions­krieges mit Bundeswehrbeteiligung schon heute zu entwerfen wäre.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".