Castor und das Demonstrationsrecht

von Wolfgang Ehmke
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Der Castor, von dem hier die Rede ist, ist kein Fabelwesen, das der griechischen Mythologie entsprungen ist, sondern steht für Cask for storage of radioactive material. Ein gusseisernes Ungetüm, je nach Baureihe zwischen 60 und 120 Tonnen schwer, in dem abgebrannte Brennelemente oder verglaste hochradioaktive Abfälle aus der Wiederaufarbeitung transportiert sowie - mangels Endlager - dauerhaft "zwischengelagert" werden sollen. Und doch schimmert in der Namensgebung Mythologisches hindurch, gäbe es sonst den Pollux, den Behälter, der für die Endlagerung der heißen Fracht konstruiert wurde? Der Castor, also "Retter in höchster Not", soll die Atomindustrie aus höchster Not, dem Atommülldilemma, befreien.
Im November 1961 ging der erste (Versuchs-)Reaktor in Kahl mit 15 Megawatt Leistung ans Netz. Joachim Radkau zitiert in seinem Grundlagenwerk mit dem Titel "Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft" einen Bericht des zuständigen ministeriellen Arbeitskreises aus dem Jahr 1961, welche geringfügige Bedeutung der Atommüllfrage beigemessen wurde. Es heißt dort, zu berücksichtigen sei "nicht zuletzt die Tatsache, daß mit einem einmal angelegten Lager eine säkulare Anhäufung radioaktiven Materials geschaffen" werde; dies alles gebe der Endlagerung "eine gewisse Endgültigkeit", und daher solle sie "nicht unter Zeitdruck getroffen und wohl erwogen werden" (Radkau, S. 302). Es sollte noch rund 15 Jahre dauern bis zur Novelle des deutschen Atomgesetzes im Jahr 1976, in dem seitdem verlangt wird, daß radioaktive Abfälle entweder schadlos zu verwerten oder in eine Anlage des Bundes zur Endlagerung zu verbringen sind. Die Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle war gar nicht vorgesehen, sie war eine Notlösung mangels Entsorgungsvorsorge. Erst vor zwei Jahren, 1994, wurde die Praxis der Brennelementzwischenlagerung im Nachhinein legalisiert durch eine entsprechende Novelle des Atomgesetzes.

Die Auseinandersetzung um Castortransporte ist vielschichtig motiviert. Es geht um Transportrisiken und Unfallgefahren, es geht um die sträflich unterschätzte Schadwirkung der Neutronenstrahlung für das Begleitpersonal und Anwohner/innen der Transportrouten. Wir fragen auch, was passiert "danach": Wie weit schreitet bei einer Dauerlagerung mit entsprechend dauerhafter radioaktiver Bestrahlung der Behälter aus Sphäroguß die Materialermüdung voran, in welchem Zustand befinden sich dann die Brennelementhüllrohre, hält das Deckelsystem die Radioaktivität zurück? Uns geht es auch um Grundsätzliches, um das Atommülldilemma, denn ein Entsorgungsbeitrag ist es eben nicht, die Behälter für 40, 50 oder 100 Jahre in ein, zwei oder drei Hallen wie in Ahaus, Greifswald oder Gorleben abzustellen. Besorgnis erregt die Konzentration hochradioaktiver Abfälle in externen Zwischenlagern. Könnte dies nicht auch ein politisches Druckmittel für Erpresser oder Aktionsziel für Attentäter in globalen Krisensituationen sein? Werden in Gorleben alle 420 Stellplätze belegt, so wird dort das schier unvorstellbare radioaktive Inventar von 40 Atomkraftwerken kon¬zentriert. Gorleben ist immer noch das (un-)heimliche Atommüllzentrum der Bundesrepublik Deutschland mit einem Faß- und Brennelementzwischenlager, einer Atommüllfabrik (die Pilot-Konditionierungsanlage) und der Endlagerbaustelle. In einer kürzlich publizierten Studie der Universität Köln plädiert deren Autor Ingo Hensing gar dafür, den Salzstock Gorleben-Rambow aus Kostengründen als internationales Atommüllgrab zu nutzen.
Früher sind wir gegen festungsartige Mauern in Brokdorf, Kalkar und Wackersdorf angerannt und haben den Sofortausstieg gefordert. Das erstere haben wir satt (das mit den Mauern), das zweite (das mit unseren Forderungen) natürlich nicht. Der Castor hat die alte Symbolik der Anti-AKW-Bewegung der 70er und 80er Jahre, den "Kampf gegen's AKW / gegen die WAA" ersetzt. Die reisenden Atommülltonnen sorgen in den 90er Jahren für ein flächendeckendes Aktionsprogramm, sie vernetzen die Initiativen. Dann und wann öffnen sich die Pforten der atomstromproduzierenden Hochsicherheitstrakte, wenn wieder so ein "Retter" auf die Reise geht, damit eröffnen sich uns vielfältige Handlungsperspektiven. Mit Blockaden, Gleisbesetzungen und Demonstrationen gegen die Castortransporte, mit der Störung des nuklearen Alltags, zu dem das Hin- und Herschieben des Atommülls gehört, rücken wir ins öffentliche Bewußtsein, daß es für die Risikotechnologie Atomkraft keine Akzeptanz im Lande gibt, treiben wir die Kosten für die Nutzung der Atomkraft ein wenig in die Höhe. 50 Millionen DM kostete der erste Polizeieinsatz am Tag X im vergangenen Jahr, 90 Millionen waren es beim Tag xř, NiX3 sagen wir jetzt. Wer nicht hören will, muß zahlen.

Die Durchsetzung der Castortransporte mit quasi-militärischen Mitteln war stets flankiert von flächendeckenden Versammlungsverboten, die seitens der Bezirksregierung Lüneburg und des Landkreises Lüchow-Dannenberg verordnet wurden. Bereits im Sommer 1994, als die Einlagerung eines ersten Castorbehälters aus dem AKW Philippsburg unmittelbar bevorstand, dann im November des gleichen Jahres, kurz bevor das Verwaltungsgericht Lüneburg den Klagen gegen den Sofortvollzug zur Einlagerung ein letztes Mal statt gab, am Tag X im April 1995 "natürlich" auch etc. - im Ernstfall wurde per Allgemeinverfügung die "Beschränkung von öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen in den Landkreisen Lüneburg und Lüchow-Dannenberg" bekanntgegeben. Auch wenn die Behörden in Nuancen, z.B. durch Fettdruck und Hervorhebungen, in den seitenlangen und in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung kaum nachvollziehbaren Verfügungen Akzentverschiebungen vornahmen, um dem Vorwurf zu begegnen, es sei ein generelles Versammlungsverbot ausgesprochen worden, das Strickmuster der Verfügungen glich sich immer wieder. Bereits mehrere Tage im Vorfeld eines Transporttermins war es verboten, die Bahnflächen, "und zwar in einer Entfernung von bis zu 50 m, gemessen ab Gleisachse", Brücken und Unterführungen zu betreten, das galt in ähnlicher Form auch für die 19 Straßenkilometer, die der Castor nach dem Umladen von der Bahn auf einen Straßentransporter zu¬rückzulegen hatte. Im Bereich des Brennelementzwischenlagers galt sogar eine 500 m Verbotszone. Begründet wurde das Verbot in erster Linie mit ei¬ner Gefahrenprognose. Vor allem Bahn-anschläge, die mit dem Demonstrations¬geschehen im Wendland nichts zu tun haben, wurden aufgelistet, um zu unterstellen, daß Demonstrationen gegen den Castor einen kollektiv unfriedlichen Verlauf nehmen würden. Die Aufrufe der Bürgerinitiative Umweltschutz, der Bäuerlichen Notgemeinschaft oder zahlreicher Einzelpersonen -  "Stop Castor - Tag X! Wir stellen uns quer!" - "Wir stoppen den Castor, bevor er losfährt" - "Wir versuchen den Castor-Transport mit allen unseren Kräften zu behindern!" - mussten für die Gefahrenprognose herhalten. Angedroht wurde allen Menschen, die das Versammlungsverbot missachten, eine Geldbuße bis 1000 DM. Wer als Veranstalter oder Leiter einer verbotenen Versammlung in Erscheinung tritt, musste demnach mit "Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe" rechnen (alle Zitate stammen aus der Verbotsverfügung vom 2.5.96).
Das Szenario verdient die Etikette Atomstaat. Die staatliche Unterstützung der Atomkraftnutzung erstreckt sich nicht allein auf die gesetzliche Förderung einer spezifischen Form der Energiegewinnung, sondern auch auf eine - wie auch immer - geordnete Beseitigung der Abfälle, formaldemokratisch gere-gelt durch das Atomgesetz, ein Technologieförderungsgesetz, das am 1.1.1960 in Kraft trat. Die bundesrepublikanische Geschichte, die Ära des Kalten Krieges holt uns immer wieder ein, wenn man erinnert, daß die Verabschiedung des Atomgesetzes jahrelang verzögert wurde, weil Franz Josef Strauß als Atomminister der Jahre 1955/56 weniger auf die kommerzielle Nutzung der Atomspaltung, sondern auf deren nuklearstrategische Bedeutung setzte. Der Entstehung des Atomprogramms haftet die Option der militärischen Nutzbarkeit an, die Heftigkeit, mit der um das Atomprogramm gestritten wird, zeugt davon, daß maßgebliche Kräfte in der Bundesrepublik auch heute noch nicht allein kommerzielle Ziele, sondern Großmachtinteressen mit der Atomkraft verbinden.
Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit bleibt - im wörtlichen Sinne - auf der Strecke, denn ubiquitäre Gefahren, die dem Transportrisiko wie zum Beispiel der Neutronenstrahlung innewohnen, können von einzelnen Menschen nicht beklagt werden, so die jet¬zige Rechtsprechung. Das Grundrecht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit bleibt als nächstes auf der Strecke, schutzwürdig ist allein das "Privatinteresse" der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) auf einen reibungslosen Ablauf des Transports. Dazu werden zigtausende Polizist/innen und BGS-Beamte eingesetzt, die in Ausübung ihres Dienstes sich außerdem dem Vorwurf ausgesetzt sehen, Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Sachbeschädigung begangen zu haben. Rund 120 gut recherchierte Anzeigen haben wir im August gegen die Staatsdiener/innen bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg erstattet, um dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben.
Das Verwaltungsgericht Lüneburg hat am 30. April 1996 nach mündlicher Verhandlung gegen die Versammlungsverbote im Jahr zuvor die Allgemeinverfügung als rechtswidrig bezeichnet. In der Begründung des Gerichts heißt es: "Zum Schutzbereich des Art. 8 GG ge¬hört ergänzend zu dem bereits durch Art. 5 GG geschützten Recht der freien Meinungsäußerung die Gewährleistung, durch Kommunikation Meinungen zu bilden und durch die Anwesenheit der versammelten Menschenmenge selbst sowie durch die Form und Art der Darstellung der Meinungen, des Lebensstils oder des Weltverständnisses etc. der Versammelten, dieser "Botschaft" Ausdruck zu verleihen und auch Eindruck erzeugen zu können ... Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit gebührt in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang. Denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform ... Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes" (VG Lüneburg, Aktenzeichen 7 A 50/95).
Die Unterstellung, unsere Veranstaltungen hätten einen kollektiv unfriedlichen Verlauf genommen, wurde vom VG Lüneburg ebenfalls zurückgewiesen. Bleibt nachzutragen, daß der Rechtsstreit natürlich längst in die nächste Runde gegangen ist und wir vor dem OVG Lüneburg erneut um unsere Grundrechte streiten müssen.
Einige Kernsätze dieses Urteils nehmen direkt Bezug auf das sogenannte "Brokdorf-Urteil" des BVerfG vom 14.5.85. Wir sind entschlossen, in dieser rechtlichen Auseinandersetzung, sofern es nötig wird, bis in die letzte Instanz zu gehen. Denn wir sind es, die ein modernes Verfassungsverständnis mit Leben erfüllen, weil die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens sich auch in unserer vielschichtigen und phantasievollen Demonstrations- und Protestkultur spiegelt.
So stehen wir derzeit vor einem Paradox. Während in anderen gesellschaftlichen Fragen wie z.B. dem Asylrecht Grundrechte zur Makulatur verkommen, vollzieht das BVerfG in der Frage des Demonstrationsrechts eine gesellschaftliche Entwicklung mit, die in dem "Sitzblockadenurteil vom 10.1.95 eine konsequente Fortsetzung fand. Die Verfassungsrichter machen nämlich deutlich, daß zu einer verfassungskonformen Interpretation des Gewaltbegriffs des _ 240 StGB auch die Einschätzung gehört, wie sich das Demonstrationsgeschehen in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Es ist eben antiquiert, in den 90er Jahren von Aufmärschen mit einem/r Versammlungsleiter/in im Stile der 50 Jahre auszugehen. Jene "Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens" bringt mittlerweile andere, neue  Formen des Protests hervor. Das BVerfG verhält sich in diesem Konflikt deskriptiv, nicht normativ, wenn es rügt, daß der _ 240 StGB nicht dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht. Sitzblockaden sind seit¬dem nicht per se verboten, vorausgesetzt, die politische Motivation der Blockierer/innen wird nicht als verwerflich eingestuft und/oder sie be¬zwecken nicht den instrumentellen Selbstverzug.

Mehr Freiheit also für Demonstrant/innen und Sitzblockierer/innen? Weitgefehlt! Denn es gibt eine massive Gegentendenz zur Liberalisierung des Demonstrations- und Versammlungsrechts, die sich - nicht nur in Niedersachsen - im Gefahrenabwehrgesetz niederschlägt. Das Polizeirecht hebelt die mühselig erstrittenen Grundrechte wieder aus. So hat der Niedersächsische Landtag mit seiner SPD-Einstimmen-Mehrheit am 20.5.96 eine Novelle des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes beschlossen, das vorsieht, daß Kontrollstellen der Polizei "zur Verhütung" einer Reihe von "Straftaten" ein¬gerichtet werden können, daß Platzverweise ausgesprochen werden können, und das eine präventive Ingewahrsamnahme zur Vereitelung von Straftaten ("Freiheitsbeschränkung") von bis zu vier Tagen ermöglicht. In der Debatte um die Verschärfung des Gefahrenabwehrgesetzes mussten die Punkertreffen in Hannover ("Chaostage") 1995 her¬halten. Im Sommer 1996 fand das neue Gesetz unter großem Mediengetöse erstmalig Anwendung. Wehe, wenn sich jemand unkonventionell kleidet, bunte Haare trägt oder Bier aus Dosen trinkt. Uns allen ist aber bewusst, daß die Vertreibung von Punker/innen nur ein Vorgeplänkel ist, daß wir als nächstes zu Chaoten hoch-stilisiert werden, wenn der Protest im Wendland nicht mehr kontrollierbar sein sollte. Bundesinnenminister Kanther hat uns schon einen Vorgeschmack dessen gegeben, wie der Bürger/innenprotest im Wendland dem¬nächst diskreditiert wird, wenn er von uns als "unappetitlichem Pack" sprach.
Es gehören Mut und Zivilcourage dazu, für Grundrechte einzutreten. Diesen Mut und die Zivilcourage werden die Menschen im Wendland weiterhin aufbringen, weil sie in den 20 Jahren der Auseinandersetzung um Gorleben eine Riesenportion Selbstbewusstsein entwickelt haben, weil sie das Demonstrations- und Versammlungsrecht als demokratische Selbstverständlichkeit begreifen und weil wir erleben, es dreht sich beim Castor nicht allein um den Zerfall der Atome, sondern auch um den Zerfall demokratischer Grundrechte.
Wir sind radikal. Radikal im Eintreten für eine Energieversorgung ohne die Atomkraft und gegen Großmachtinteressen. Radikal in der Verteidigung demokratischer Grundrechte.

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Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. www.bi-luechow-dannenberg.de buero@bi-luechow-dannenberg.de.