Die ersten Ostermärsche

Damals in Bergen-Hohne flossen Tränen

von Andreas Buro

Mit einer gewissen Berechtigung kann man sagen, die außerparlamentarische Opposition als unabhängige Friedensbewegung wurde durch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bewirkt. Es begab sich nämlich zu der Zeit in Bad Godesberg 1959, dass die SPD ihre Kampagne "Kampf dem Atomtod" abrupt beendete. Der große Stratege Herbert Wehner hatte erkannt, die SPD würde niemals an die Regierung kommen, wenn sie sich nicht in Richtung auf die Adenauer`sche Politik der Wiederbewaffnung Deutschlands orientieren würde. Über eine große Koalition konnte der Weg zur Macht geebnet werden, wenn nur die größten Stolpersteine aus der SPD-Programmatik gestrichen würden. Einer der größten war die radikale Ablehnung jeglicher atomarer Waffen durch die Partei, die sich eben gerade in jener Kampagne gegen den Atomtod bislang kräftig geäußert hatte. Der Parteivorsitzende Ollenhauer selbst hatte alle rhetorischen Register gezogen und die Gewerkschaften schritten Seit an Seit mit den Genossen.

 

Doch über Nacht sollte das nun alles nicht mehr gelten. Die Kampagne wurde auf allen Ebenen eingestellt. Freilich erklärte keiner der Sozialdemokrat*innen, für Nuklearwaffen zu sein, aber man kämpfte halt nicht mehr dagegen. In dieser Situation mischte sich die Ungleichzeitigkeit von Entwicklung in den europäischen Ländern ein. In England nämlich wuchs der Protest mit den Ostermärschen von Aldermaston nach London unter dem runenartigen Zeichen des sterbenden römischen Kriegers oder, wie andere das Zeichen deuteten, als übereinander kopiertes N und D aus der Flaggensignalsprache. ND stand für Nuclear Disarmament. Helga und Konrad Tempel, zwei engagierte Pazifist*innen und Quäker, nahmen an den Märschen in England teil und brachten die Protestform nach Deutschland. 1960 sollten auch in Deutschland Ostermärsche stattfinden. Pazifist*innen und Kriegsdienstverweigerungsgruppen in den vier norddeutschen Städten Hamburg, Bremen, Hannover und Braunschweig beschlossen, in einem Sternmarsch 3 bis 4 Tage über Ostern nach Bergen-Hohne zu marschieren, wo die US-Army die Honest John Raketen als Träger für Atomwaffen erprobte. Kriegsdienstverweigerung und Pazifismus waren in dieser hohen Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West noch sehr, sehr randständig und Bergen-Hohne in der Heide war umlagert von Orten mit kräftiger nationalsozialistischer Vergangenheit und Bevölkerung. Da mussten wir durch.

Das Unternehmen wurde von Ost und West, links und rechts mit Häme und Spott überschüttet. Naive Sektierer und idealistische Spinner waren noch die freundlichste Bezeichnung. Die Diffamierungsmaschine lief auch auf einer anderen Ebene. Ein bekanntes Boulevard-Blatt schrieb "Sex auf dem Ostermarsch". Der Hintergrund: Bei den 3-4-tägigen Märschen hatten wir auch Turnhallen für die Übernachtungen angemietet. Dort nächtigten die Marschteilnehmer*innen nicht getrennt nach Geschlechtern, sondern gemeinsam in den großen Hallen. Damals zog solche Diffamierung noch. Heute würde man darüber nur lachen - auch ein deutliches Zeichen für den Wandel der Zeiten und vor allem des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht zuletzt durch die Arbeit der sozialen Bewegungen.

Der erste Ostermarsch der Atomwaffengegner*innen war alles andere als eine Massenbewegung. Aus Braunschweig standen wir zu 24 zwischen zwei Stützpfeilern der Kirche, deren Pfarrer uns mit bewegenden Worten in die kalte und nebelige Landschaft rausschickte. Ich wäre lieber zwischen den Pfeilern stehen geblieben. Damals waren die meisten von uns das Demonstrieren noch nicht gewöhnt. Drei Tage Marsch bei Kälte und Schnee und vielen Anfeindungen. Wir lernten schnell, wie wichtig die Gruppe für unsere seelische Stabilität war. Am Tag der Vereinigung mit den anderen "Marschsäulen" war es eine große Erleichterung zu sehen, dass auch andere den Protest mittrugen. In Bergen-Hohne angekommen, wurden vom Dach eines VW-Busses Reden gehalten und der Protest gegen Atomwaffen in Ost und West verkündet. Als H. G. Friedrich, der Vorsitzende unserer Braunschweiger Gruppe der IdK (Internationale der Kriegsdienstgegner), auf den Bus stieg, um zu sprechen, versagte ihm vor Tränen und Rührung die Stimme, als er sah, wie viele sich doch zusammen gefunden hatten. Es waren mehrere Hundert. Heute fände das kaum noch jemand erwähnenswert, denn man hat sich an größere Zahlen gewöhnt.

Das eigentliche Wunder von Bergen-Hohne geschah jedoch erst in der Zeit nach Ostern 1960. Viele politische und religiöse Gruppen entdeckten den Ostermarsch als eine fabelhafte Möglichkeit, mit vielen anderen und auch vielen unterschiedlich Gesinnten gegen Atomwaffen zu protestieren. So konnten damals ganz randständige Gruppen von Pazifist*innen zu einem Fokus werden für die erste von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und anderen Großorganisationen unabhängige außerparlamentarische Opposition. Sie breitete sich nicht nur in Windeseile über die ganze Bundesrepublik aus, sondern arbeitete auch während des ganzen Jahres und nicht nur zu Ostern, erweiterte ihre Thematik, so dass sie sich später über viele soziale Lernprozesse zu der "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" verwandelte, einer Art Urmutter der "neuen sozialen Bewegungen".

Mit der Ausweitung und Verbreiterung der Ostermärsche geschah ein zweites Wunder. Sehr viele der sonst so disziplinierten SPD-Genoss*innen und Gewerkschaftskolleg*innen konnten nicht begreifen, dass der einst so wichtige Kampf gegen den Atomtod nun etwas Verabscheuungswürdiges sein sollte, das man besser nach "drüben" zu schicken habe. Sie verweigerten den Herrschern ihrer Apparate in diesem Punkt die Gefolgschaft - so eine Art ziviler Ungehorsam. Das hat uns sehr gefreut, aber auch die unerbittliche Feindschaft von Wehner und anderen Oberen eingetragen, die damals vor keiner Diffamierung zurückschreckten.

 

Quelle: Geschichte aus der Friedensbewegung - Persönliches und Politisches -, S. 13, Köln 2005, Hrsg: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln

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