Das Verhältnis von Literatur und Friedensbewegung

“Dann gibt es nur eins, sag nein!”

von Alexander Leistner

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge, heißt es, ergo auch von vielen schlechten Antikriegsgedichten“. Dieses bissig-polemische Zitat des Lyrikers Günter Kunert lässt an zahlreiche Anthologien zum Thema denken und es zielt auf das Vordergründige des Verhältnisses von Literatur und Frieden: Dass nämlich Dichters Wort selbst die Kraft haben könne, Kriege zu befrieden. Und obschon Kunert selbst wortmächtige Gedichte wider das Menschenschlachten schrieb, bleibt er skeptisch: „Noch nie haben Gedichte einen Krieg verhindert, ja, die gesamte Weltliteratur seit der Antike ist der Beweis für ihre Folgenlosigkeit angesichts der Fortsetzung von Politik mit den schlimmen anderen Mitteln.“

Aber ist Literatur deshalb nutzlos? Auf engem Raum möchte ich drei Funktionen von Literatur für die Friedensbewegung skizzieren. Diese Funktionen beziehen sich jeweils auf verschiedene grundsätzliche Probleme, mit denen Aktive in sozialen Bewegungen konfrontiert sind. In den drei folgenden Schritten wechselt – unterschiedlich ausführlich – der Fokus der Betrachtung: beginnend mit der öffentlichen Präsenz einer Bewegung hinein in die Tiefe der einzelnen Biografien von AktivistInnen.

1. Die Legitimation und öffentliche Akzeptanz der eigenen Anliegen
September 1983, hunderte Menschen blockieren auf der Straße sitzend die Militärbasis in Mutlangen, wo die Pershing-II Raketen stationiert werden sollen. Unter ihnen sind zahlreiche prominente KünstlerInnen und PolitikerInnen. Die SchriftstellerInnen Günter Grass, Peter Härtling, Walter Jens, Ingeborg Drewitz, und der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll herausgehoben auf einem Campingstuhl sitzend. Unter dem Stichwort Prominentenblockade ist diese Aktion Teil des kulturellen Gedächtnisses der Bundesrepublik geworden. Öffentlich bekannte FürsprecherInnen zu gewinnen, hat für die Bewegung vor allem die strategische Funktion, nach außen und also in die Breite zu wirken. Diese Aktion sollte wachrütteln, den Protest sichtbar machen und die Aktionen Zivilen Ungehorsams vor Kriminalisierung schützen. Die Bedeutung der blockierenden LiteratInnen war somit weniger durch das Werk als deren Prominenz begründet, also der Fähigkeit, durch schiere Anwesenheit Aufmerksamkeit zu erregen. Sie agierten gleichsam als vielzitierte und tagesschautaugliche Fürsprecher und Übersetzer der Anliegen.

2. Die Zuspitzung programmatischer Grundüberzeugungen
Die zweite Funktion zielt nicht auf den Schriftsteller als Figur des öffentlichen Lebens, sondern auf das Werk selbst. Orts- und Szenenwechsel. Unter dem Titel “Entrüstet Euch” findet im Rahmen der Friedensdekade in der Leipziger Nikolai-Kirche im Jahr 1981 ein Jugendgottesdienst mit 800 TeilnehmerInnen statt. Themen sind die innere Militarisierung der Gesellschaft, die Bedrohung durch Atomwaffen und die unpolitische Passivität vieler Zeitgenossen. Danach wird ein Gedicht von Erich Fried vorgelesen, das “Gründe” für das Nichtstun phrasenhaft aneinanderreiht und deren apokalyptischen Konsequenzen beschwört: “Das sind Todesursachen / zu schreiben auf unsere Gräber/ die nicht mehr gegraben werden/ wenn das die Ursachen sind“. Ein zentrales inhaltliches Motiv ist die eigene Verantwortlichkeit für den Frieden. Ein weitere Beispiel. 1982 findet eines der frühen Leipziger Friedensgebete statt. Die Predigt schließt mit einem Gedicht von Rudolf Otto Wiemer und dessen programmatischem Lob der kleinen Schritte. Einer der Initiatoren dieser Friedensgebete sagt dazu im Rückblick: “Die Sachen waren eben total naiv organisiert. Wir hatten dann einen Text und wir waren selber so betroffen und meinten eben, wenn wir jetzt hier die Kirchentüren da aufmachen und ein Plakat raushängen ‚Friedensgebet’, kommen sie alle rein. Dann kommen die alle und teilen unsere Betroffenheit, und dann fangen wir alle an, für den Frieden zu kämpfen. Und ich kann mich an eins erinnern, da hat man alles mühsam vorbereitet, weil man auch gar nicht richtig wusste, wie man das macht und hat man dann hier ein Gedicht von Erich Fried oder von Wolfgang Borchert gelesen.“ An der Rückschau des Aktivisten irritiert zunächst die ironische Distanz. Sie gilt aber weniger dem Anliegen selbst, sondern vor allem dem heutigen erinnerungskulturellen Kult um die Bedeutung der Leipziger Friedensgebete. Diese begannen eben unscheinbar, über lange Zeit in sehr kleiner Runde, von Laien organisiert und viele Jahre vor dem Herbst 1989. Irritierend auch: Begriffe wie „Betroffenheit“ klingen heute seltsam abgegriffen. Aber gerade darum geht es. Die Verwendung literarischer Texte innerhalb der Friedensbewegung zielt vor allem nach innen auf die verdichtete, prägnante Zuspitzung gemeinsam geteilter Grundüberzeugungen: Krieg ist schrecklich, Krieg ist zu widerstehen, Frieden schaffen ist mühsam, ich selbst bin dafür verantwortlich. Und sie dient der Selbstvergewisserung: Das, was wir tun, ist richtig und alternativlos. Es ist schließlich Ausdruck einer starken Emotionalität, typisch für die damalige angstgeprägte Zeit und zugleich auch heute noch wichtig für ein Engagement, das nicht zuletzt von der Empörung lebt.

3. Die Selbstbeauftragung zur Friedensarbeit
Die ersten Friedensgruppen, die in der DDR der 70er Jahre zunächst vor allem aus den Kreisen der Bausoldaten und Wehrdienstverweigerer entstanden, waren nach soziologischem Verständnis Bekenntnisgemeinschaften. Die jungen Männer wurden in den 60er Jahren in der Frage der Wehrdienstverweigerung anfänglich politisiert, ohne dass mit dieser punktuellen Entscheidung gegen den bewaffneten Wehrdienst automatisch schon eine Entscheidung zur Friedensarbeit verbunden war. Das entwickelte sich erst später, aber für diese weitreichendere Entscheidung und für das, was ich Selbstbeauftragung nenne, war die gemeinsame Zeit bei den im Jahr 1964 als Alternative zum Wehrdienst eingeführten Baueinheiten wichtig. Die versprengten Wehrdienstverweigerer – junge Theologiestudenten, Arbeiter, junge Männer aus der kirchlichen Jugendarbeit, kritische Marxisten – sie alle wurden zentral an einem Ort zusammengeführt. Unter den Bedingungen dieser klösterlichen Vergemeinschaftung in den Kasernen und den gemeinsam durchlebten wie durchlittenen Mitmach-Konflikten bildete sich bei einigen Beteiligten eine Selbstbeauftragung zum Friedensdienst. Es entstand also das Selbstverständnis, das Engagement nach der Entlassung fortzusetzen. „Bausoldat ist man lebenslänglich“, lautete eine entsprechende Bekenntnisformel. Wie entstand aber dieses Selbstbild von zur Friedensarbeit „Berufenen“ und von opferbereiten „Zeugen“ für die gute Sache? Neben ihrem regulären Dienst entwickelten die Bausoldaten der ersten Jahrgänge ein intensives geistliches Leben. Sie organisierten untereinander Buchlesungen und Diskussionsrunden. Die Analyse von Biografien wie von historischen Dokumenten zeigt, dass die Attraktivität bestimmter Schriftsteller oder konkreter Bibeltexte sehr stark vom historischen Kontext abhing und abhängt. Sie stießen und stoßen nicht automatisch und gleichermaßen auf Widerhall. Es sind meist Texte, in denen sich das Motiv der radikalen Kriegsablehnung verbindet mit der Frage nach der eigenen Verantwortung und dem persönlichen Auftrag, mit all den schmerzlichen Konsequenzen, die das nicht nur, aber vor allem in der DDR haben konnte.

Vier Typen damals relevanter Literatur kann man exemplarisch unterscheiden: (1)

a) Biblische Texte, die in den Bibelarbeiten intensiv besprochen und kontextuell ausgelegt wurden. Dementsprechend stark ist die Dominanz und Attraktivität der prophetischen Literatur des Alten Testaments. Dort finden sich Geschichten einer persönlichen Berufung, Geschichten des Festhaltens am eigenen Glaubenszeugnis auch und gerade inmitten einer ablehnenden und desinteressierten Umwelt, Geschichten radikaler Umkehrforderungen durch eine kleinen Minderheit auf der einen und der fehlenden Resonanz durch die Mehrheit auf der anderen Seite.

b) Autobiografische Texte von geistigen Mentoren. Gemeint sind hier exemplarische Lebensläufe von bekannten und bewunderten Aktivisten. Beispiele aus dieser Zeit wären die Bücher von Martin Luther King – der  Lichtgestalt gewaltfreier Emanzipationsbewegungen mit der programmatischen Bekenntnisformel “ich wollte kein Zuschauer sein”. Es gab aber auch und vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit persönlicher Schuld wie mit persönlichen Wandlungsprozessen. Und dies immer mit Blick auf die Verbrechen des Dritten Reiches. Beispiele für solche nachdenklichen Rückblicke wären die autobiografischen Bücher von bekannten Vertretern der Bekennenden Kirche. Etwa Martin Niemöllers Buch Vom U-Boot zur Kanzel oder Helmut Gollwitzers Erinnerung an Krieg und Gefangenschaft Und führen wohin du nicht willst.

c) Quasi-dokumentarische Kriegsberichte.(2) In ihnen wurde – gegen die romatisierende Kriegsprosa der Landserheftchen – die Kriegswirklichkeit in ihrer Brutalität und Vernichtungsmacht dramatisiert. Beispiele sind die Bücher von Erich Marie Remarque (Im Westen nichts neues), Henri Barbusse (Das Feuer) oder die Texte von Wolfgang Borchert (Die Hundeblume).

d) Es sind schließlich Texte, in denen das Motiv der individuellen Verantwortlichkeit zentral war. Das reichte von den Büchern Heinrich Bölls (Wo warst du, Adam?) oder Günter Anders (Die Antiquiertheit des Menschen) über existentialistische Philosophen wie Albert Camus bis hin zu zeitgenössischen Interventionen. Etwa Carl Friedrich Weizsäckers Friedenspreisrede Bedingungen des Friedens oder Linus Paulings Text Leben oder Tod im Atomzeitalter. In ihnen wurde lange vor den Auseinandersetzungen der 80er Jahre die Frage des individuellen Engagements angesichts der atomaren Bedrohung zu einer Überlebensfrage dramatisiert.

Diese Zeugnisse des Handelns Einzelner in den politischen Kämpfen der Zeit begleiteten die Zeit bei den Bausoldaten, von denen Ehemalige sagen, sie sei “eine Schule der praktischen Erfahrung. Eine Schule für das Handwerk der Opposition“.

Günter Kunert mag recht haben. Vielleicht ist Literatur kein Instrument, um Kriege zu verhindern. Sie ist und bleibt aber – ganz bescheiden – ein Mittel der Selbstvergewisserung. Sie erzählt Spiegel-Geschichten: eine kriegsgewöhnte oder -entwöhnte Gesellschaft schaut hinein und blickt im Idealfall erschaudernd in den Schlund menschlicher Vernichtungsmacht; sie schaut hinein und sieht Andere, die auf dem Weg des Friedens sind, abgekämpft oder heiter, entschlossen oder zweifelnd, und sie erblickt im Idealfall darin sich selbst.

Aber was bedeutet dies für die Friedensbewegung? Die dargestellten Wirkungen von Literatur lassen sich kaum zielgerichtet herstellen oder erzeugen. Es braucht einmal Texte, die den Nerv der Zeit treffen und – auch das zeigt die Geschichte – es braucht das gemeinsame Lesen, den Austausch, die gegenseitige Ermutigung, das auffordernde Gespräch. Das heißt aber auch: Neben dem sich professionalisierenden Friedensengagement einzelner VollzeitaktivistInnen sind die kleinen (Bekenntnis-)Gemeinschaften vor Ort unverzichtbar.(3) Derart sozial eingebettet kann aus einer lediglich interessanten oder aufwühlenden Lektüre ein biografisch folgenreicher Anstoß und eine Wegweisung werden.

Literatur:
Bausoldatenberichte, in: horch und guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur 46/2004

Eisenfeld, Bernd & Peter Schicketanz: Bausoldaten in der DDR. Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA, Berlin 2011

Haspel, Michael: Politischer Protestantismus und gesellschaftliche Transformation. Ein Vergleich der evangelischen Kirchen in der DDR und der schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA, Tübingen  1997

Kluge, Matthias: „Bausoldat ist man lebenslänglich“, in: Thomas Widera (Hrsg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964-1989, Göttingen 2004

Kunert, Günter: Poeten an die Front. Über die Hilflosigkeit pazifistischer Lyrik in den Zeiten des Krieges, in: DIE ZEIT 13/2003

Leistner, Alexander: Sozialfiguren des Protests und deren Bedeutung für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen: Das Beispiel der unabhängigen DDR-Friedensbewegung, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2/2011, Art. 14, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1102147

Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Sonderheft der KZfSS, Opladen 1994

Schneider, Thomas F. & Wagner, Hans (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Amsterdam, New York 2003

Anmerkungen
1) Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Als Quellen wurden historische Studien über konkrete Bausoldateneinheiten (Kluge 2004), über den Einfluss Martin Luther Kings auf die ostdeutsche Opposition (Haspel 1997), Selbstzeugnisse von Protagonisten und Quellensammlungen zur Geschichte der Bausoldaten in der DDR (Eisenfeld 2011) verwendet.

2) Nicht immer handelt es sich aber um authentische, dokumentarische Texte wie das Beispiel von Remarques fiktionalem Text Im Westen nichts Neues zeigt.

3) Oder anders, zugespitzt gesagt: die gleichermaßen gealterte wie gereifte Friedensbewegung unsere Tage hat viele aktions- und projekterfahrene VeteranInnen und SpezialistInnen, aber nur wenige MentorInnen, die für die Entstehung neuer Gruppen so wichtig sind.

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Alexander Leistner: Soziologe, Doktorand am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig, Gründungsmitglied und zwischen 1998 und 2002 stellvertretender Vorsitzender des Martin Luther King Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage e.V. und Mitglied im Vorbereitungskreis des 1973 gegründeten Christlichen Friedensseminars Königswalde. In seiner Doktorarbeit untersucht er Biografien von FriedensaktivistInnen mit Blick auf Bedingungen für deren Langzeitengagement.