Gewaltfreiheit in der Türkei

Das Istanbuler Zentrum für Gewaltfreiheit

von Hülya Üçpınar
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Der Grundstein für das Zentrum für Gewaltfreiheit wurde 2014 von zwei Aktivist*innen der War Resisters’ International aus Izmir in Istanbul gelegt, und das Zentrum wurde 2015 offiziell gegründet.

Die Gründung des Zentrums basiert auf einem Traum aus dem Jahr 1996. Erste Studien zur Gewaltfreiheit in der Türkei wurden in der Izmirer War Resisters Association (İSKD) begonnen. Zusammen mit einigen friedensorientierten Freund*innen aus Deutschland organisierten wir Trainings, um verschiedene Dimensionen und Möglichkeiten der Gewaltfreiheit in der Türkei und in Deutschland zu diskutieren. Es war die Zeit, in der staatliche Gewalt, außergerichtliche Morde, Verschwinden-Lassen und Folter an der Tagesordnung waren. Gleichzeitig sprechen wir von einer Zeit, in der sehr viele (?)Oppositionsgruppen den bewaffneten Kampf als die einzige Form des Kampfes befürworteten und Gewaltfreiheit als „spirituell“ wahrgenommen wurde. In dieser Zeit haben wir viel gearbeitet und mit Aktivist*innen mit sehr unterschiedlichen politischen Hintergründen zusammengearbeitet. Wir haben Gewaltfreiheit sowohl als eine Form der Politik als auch als Teil unseres täglichen Lebens gefördert.

Die Idee, ein Zentrum in der Türkei zu eröffnen, wurde als Zukunftsplan in einem der internationalen Trainings entwickelt. Obwohl diese Idee uns sehr begeisterte, musste sie nach einer Weile als entfernter Traum zurückgestellt werden, da die Bedingungen nicht geeignet waren. Nach einer Weile schloss der ISKD, Jahre vergingen, die Bedingungen änderten sich. Und 2013 wurde diese Idee aus der Truhe geholt, allmählich konkretisiert, und es wurden die ersten Schritte unternommen. Wir haben zuerst als zwei Personen angefangen zu arbeiten. Da es viele Organisationen gibt, die sich mit direkter Gewalt befassen, waren wir nicht besonders motiviert, im Bereich des Kampfes für Grundrechte zu arbeiten. Eigentlich hatten wir uns kein großes Ziel gesetzt. Zunächst wollten wir die Perspektive der Gewaltfreiheit und des gewaltfreien Handelns in die Politik einbringen und Debatten eröffnen. Unser langfristiges Ziel war es, zu zeigen, dass die Basis, auf der revolutionäre Gewalt als legitim angesehen wird, tatsächlich die Kultur der Gewalt nährt, und dass eine friedliche zukünftige Vision nur möglich ist, wenn die Oppositionsgruppen sich ihrer eigenen Strukturen und der eigenen Kultur bewusst sind, eine Kultur, zu der sie beitragen.

Unser Hauptbezugspunkt ist die Analyse struktureller und kultureller Gewalt nach Johan Galtung, der Gewalt als Schichtstruktur definiert, die die Formen von Gewalt nähren und legitimieren, die direkt in unserem täglichen Leben auftreten. Um unser Ziel zu erreichen, organisierten wir zunächst Treffen, in denen wir die Reflexionen von Gewalt und Gewaltfreiheit in den Bereichen des Kampfes für Menschenrechte diskutierten. Durch Übersetzungen trugen wir zu den sehr begrenzten auf Türkisch zur Verfügung stehenden Ressourcen bei und wir organisierten Trainings, um Bewusstsein zu schaffen, indem wir unser Wissen und unsere Erfahrungen in diesem Feld austauschten.

Die ersten Reaktionen waren misstrauisch. Aktivist*innen linker Bewegungen betrachteten unsere Einrichtung als einen Versuch, die liberale Politik zum Leben zu erwecken und das bestehende Verständnis von Kampf zu befrieden, und fanden es unheimlich. Gewaltfreie und gewaltfreie Handlungen mit pazifistischem Hintergrund und Prinzipien wurden allgemein als Passivität angesehen. Obwohl die Kämpfe um Rechte (1) auf gewaltfreien Aktionen beruhten, galt die Prämisse, dass es keine geeigneten Instrumente für einen systematischen Kampf gegen die Unterdrückung gebe. Tatsächlich greifen aber sogar die Freiheitsbewegungen, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben haben, neben dem bewaffneten Kampf aktiv auf gewaltfreie Aktionen zurück. Diese Methoden wurden jedoch nicht als kategorisch gewaltfreie Aktion bezeichnet oder bewertet. Dies ist auch heute noch weitgehend so.

Der Prozess, der vordergründig als Aktion begann, um Bäume im Gezi-Park im Zentrum von Istanbul zu schützen, die gefällt werden sollten, und der sich in eine Massenaktion verwandelte, an der die Regierungspolitik kritisiert wurde und an der Menschen aus verschiedenen Segmenten teilnahmen, geschah 2013 kurz vor der Gründung des Zentrums. Zunächst begannen das Gezi-Park-Kollektiv (Taksim Solidarity) und nach und nach die Nachbarschaftsinitiativen, gemeinsam zu diskutieren, gemeinsam zu entscheiden und gemeinsam zu handeln. Sowohl die kollektiven als auch die individuellen gewaltfreien Aktionen eroberten die überwiegende Mehrheit und schufen einen sicheren Raum, in dem sich jede*r ausdrücken konnte. Diese außergewöhnliche Erfahrung, die von Mai bis September 2013 dauerte, wurde leider gewaltsam unterdrückt. Acht Bürger*innen wurden von Sicherheitskräften getötet und Tausende verletzt.

Es bleibt jedoch die Erinnerung, wie effektiv gewaltfreie Aktionen sein können und wie die Art von Widerstandskampagnen einen sehr integrativen Charakter haben kann, wenn die Aktionsachse gewaltfrei ist. Der Gezi-Widerstand war ein kritischer Punkt, um sowohl Aktivist*innen als auch dem Staat zu zeigen, dass gewaltfreies Handeln ein wirksames Instrument sein kann. In der folgenden Zeit ist die Teilnahme an den Gezi-Protesten und die Organisation von gewaltfreien Aktionen zum Anlass genommenworden, um Aktivist*innen zu verfolgen, sie zu verhaften und zu inhaftieren. Und jetzt ist selbst die kleinste Protestaktion von Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen aufgrund der Unterdrückung und der Verbote sehr schwierig geworden.

Wie sich gewaltfrei organisieren
Die Einrichtung des Zentrums für Gewaltfreiheit fiel auch mit dieser Zeit zusammen, in der Gewaltfreiheit und gewaltfreies Handeln im Bereich der Politik ausführlich diskutiert wurden, und eröffnete mehr Raum für die Diskussion über Gewaltfreiheit. Teilweise aufgrund des politischen Umfelds, aber mehr noch, da das Zentrum hier die Notwendigkeit sieht, haben wir uns seit langer Zeit eher auf das Konzept der gewaltfreien Organisation als auf gewaltfreie Aktionen und Kampagnen konzentriert.

Es ist eine Tatsache, dass Organisationen (einschließlich uns selbst), die sich für eine gerechtere, friedlichere und gerechtere Zukunftsvision einsetzen, tatsächlich von der Kultur der Gewalt beeinflusst werden, die der Gesellschaft innewohnt. Erkenntnisse und intellektuelle Hintergründe basieren darauf, und dadurch werden Strukturen der Gewalt reproduziert. In diesem Zusammenhang konzentriert sich unsere aktuelle Arbeit auf die Bildungsarbeit mit Organisationen, die gegen verschiedene Formen von Gewalt arbeiten, um das Bewusstsein für ihr Potenzial als Träger von Gewalt und für Mittel zur Transformation zu stärken. In unserer Arbeit zur gewaltfreien Organisation verweisen wir auf Natalya Timoshkinas Arbeit zu nicht hierarchischen Organisationen sowie auf Galtungs Analyse.

Seit unserer Gründung haben sich unsere Perspektive auf Gewaltfreiheit und unsere Arbeitsfelder allmählich erweitert und fokussiert. Ebenso hat sich unsere menschliche Kapazität – zu Beginn waren wir nur zu zweit - mit der regelmäßigen Unterstützung unserer Freiwilligen auf fünf erhöht, von denen einige dauerhaft im Zentrum tätig sind. Darüber hinaus haben wir 12 Trainer*innen, die in der Lage sind, Trainings und Seminare zu organisieren und durchzuführen.

Wir haben ein Büro mit einem Tagungsraum in sehr zentraler Lage in Istanbul. Unser Büro steht jedem offen, der es nutzen möchte. Anfangs haben wir diesen Austausch auf der Grundlage der individuellen Bedürfnisse der Organisationen und als eine Form der Solidarität durchgeführt, aber jetzt ist dieser Austausch für uns ein unverzichtbarer Bestandteil der Umsetzung von Gewaltfreiheit.

Seit 2014 hat unsere Arbeit viele verschiedene Bereiche berührt, und wir haben mit vielen verschiedenen politischen Gruppen interagiert. Damit hat sich auch das soziale und politische Umfeld des Zentrums erweitert: Feminist*innen, Umweltschützer*innen, LGBTQI, Initiativen für faires Essen, Genossenschaften und mehr gehören heute dazu. Wir haben in den Jahren 2018 und 2019 so viele Workshop-Anfragen erhalten, dass es nicht möglich war, alle zu erfüllen. Im letzten Jahr haben wir 36 Trainings in der ganzen Türkei durchgeführt.
Trotz des Umfelds, in dem wir leben, motivieren Schwierigkeiten, materielle Bedingungen und Einschränkungen, die Anforderungen und die Arbeit, die wir im Zentrum leisten, uns und die Gruppen, mit denen wir arbeiten, sehr. Unser Einfluss liegt nicht nur darin, dass wir die einzige Organisation sind, die in diesem Bereich tätig ist, sondern dass wir die Organisierung als Hauptarbeitsbereich und zusammen mit den passenden Methoden ausgewählt haben.
Jeden Tag, unter allen Umständen, alle zusammen für eine gewaltfreie Welt!

Anmerkung
1 Das Konzept der „Rechte“ umfasst mehr als nur Grund- oder Menschenrechte, sondern es geht auch um Natur und Tierrechte. (Red.)

Das Zentrum kann hier kontaktiert werden:
web: http://siddetsizlikmerkezi.org/
instagram : https://www.instagram.com/siddetsizlik/
facebook : https://www.facebook.com/siddetsizlik/

 

Übersetzung aus dem Englischen: C. Schweitzer

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Hülya Üçpınar ist eine Menschenrechtsanwältin, Menschenrechts- und Friedensaktivistin, die sich hauptsächlich mit Gewaltfreiheit und Kriegsdienstverweigerung in der Türkei befasst.