Antimilitarismus

Das Manifest gegen die Wehrpflicht

von Christian BartolfDominique Miething

Das internationale „Manifest gegen die Wehrpflicht und das Militärsystem“ wird seit Dezember 1993 von unserem Verein „Gandhi-Informations-Zentrum“ (Berlin) verbreitet. Dieses Manifest ist in mehr als 25 Sprachen übersetzt und von zahlreichen berühmten Einzelpersönlichkeiten unterzeichnet worden. Die erste Unterzeichnerin war am 23.12.1993 die Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte, Alisa Fuss, und die vorerst letzte Unterzeichnerin war am 27.6.2020 die berühmte US-amerikanische Liedermacherin, Sängerin und Schauspielerin Holly Near aus Kalifornien.

Im Jahr 1993 baten pazifistische Freund*innen Christian Bartolf, im Sommer während des International Conscientious Objectors‘ Meeting mit 90 Teilnehmer*innen aus 19 Nationen im türkischen Strandbad Ören einen Workshop zu organisieren. Er stellte in diesem Workshop vier historische internationale Manifeste vor: 1. die von Romain Rolland und Stefan Zweig verfasste und von Rabindranath Tagore solidarisch unterstützte „Erklärung der Unabhängigkeit des Geistes“ aus dem Jahr 1919 für eine Internationale der Intellektuellen, 2. das im Jahr 1925 von Hans Kohn aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina angeregte und von der War Resisters‘ International (WRI) 1926 verbreitete „Anti-Conscription Manifesto“, 3. das vom Joint Peace Council im Jahr 1930 veröffentlichte „Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend“, sowie 4. der „Nobel Prizes Manifesto Appeal“ von Nobelpreisträger*innen aus dem Jahr 1981.

Diese Manifeste waren von berühmten Unterzeichner*innen unterstützt worden, die Erklärung der Unabhängigkeit des Geistes (1919) z.B. von Jane Addams, Henri Barbusse, Albert Einstein, Heinrich Mann, Hermann Hesse, Selma Lagerlöf, Frans Masereel und Bertrand Russell. Das Anti-Wehrpflicht Manifest der WRI (1925/26) wiederum von Einstein und Tagore, jedoch auch von Martin Buber, M. K. Gandhi, Toyohiko Kagawa, George Lansbury, dem damaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe, Arthur Ponsonby, Leonhard Ragaz und H. G. Wells. Das „Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend“ (1930) dann von Alfred Döblin, Paul Geheeb, Käthe Kollwitz, Theodor Lessing, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, Kurt Tucholsky, Arnold Zweig und auf internationaler Ebene von John Dewey, Sigmund Freud, Upton Sinclair, Judah Leon Magnes und Rabindranath Tagore. Der Manifestaufruf der Nobelpreisträger*innen (1981), der den weltweiten Horror von Hunger und Armut anprangerte, empfahl „gewaltfreie Aktionen, wie sie beispielhaft von Gandhi verwirklicht worden sind“ und wurde unterzeichnet von Samuel Beckett, Saul Bellow, Willy Brandt, Elias Canetti, Gunnar Myrdal, Linus Pauling, Andrej Sakharov, Desmond Tutu und vielen anderen.

Das neue von uns im August 1993 abschließend redigierte internationale „Manifest gegen die Wehrpflicht und das Militärsystem“ enthält zwei Zitate aus den bereits erwähnten Manifesten der Jahre 1925/26 und 1930 sowie einen eigenen Text. Zunächst versandten wir einen Brief an Friedensgruppen in aller Welt und bekamen große Unterstützung; im Jahr 2001 veröffentlichten wir ein Buch über den Hintergrund des Manifests. Wir planen eine zweite, erweiterte Auflage.

Sehr erfreulich war die Unterstützung unseres neuen Manifests durch den Enkel von Leo Tolstoi, Graf Serge Tolstoi aus Paris und die Enkelin von Mahatma Gandhi, Ela Gandhi aus Durban:

" […] Als der letzte noch lebende Enkel von Leo Tolstoi freue ich mich über diese Initiative.
Zu Beginn des Jahrhunderts wollte mein Großvater an einem Kongress über die Abrüstung, der in Stockholm stattfand, teilnehmen. Aus Gesundheitsgründen fuhr er dort nicht hin, aber er sandte einen Aufsatz über die zwingende Notwendigkeit, den Militärdienst abzuschaffen, seiner Auffassung nach die einzige Möglichkeit, Kriege zu verhindern. Er glaubte nicht daran, dass internationale Institutionen dieses Ergebnis erzielen könnten. Leider gab unser Jahrhundert ihm recht - Man muss weiterhin gegen alle Widrigkeiten die Gewissen des größeren Teiles der Menschheit gegen diese tragische Absurdität mobilisieren.
Von ganzem Herzen mit Ihnen
Serge Tolstoi"
"[…] Ich glaube, dass die Wehrpflicht eine Verletzung des grundlegenden Menschenrechts ist, welches jeden Menschen darüber zu entscheiden befähigt, ob er sich an einem gewaltsamen Kampf beteiligt oder nicht. Dies vonseiten eines Staates irgendeiner Person gegen ihren Willen aufzuzwingen, ist ein Verbrechen und sollte als solches strafbar sein. Wir sind täglich Zeugen der Zwangsrekrutierung von Kindern durch Rebellen in verschiedenen Ländern. Die Auswirkungen solcher erzwungenen Kriegsteilnahme auf diese kleinen Kinder sind verheerend und hinterlassen bei ihnen lebenslange Narben. Wir sind zudem Zeugen des Kriegshorrors und seiner Nachwirkungen auf die zurückkehrenden Soldaten. Ich glaube, dass die Wehrpflicht sofort von allen Ländern beendet werden sollte und möchte deshalb meine Unterschrift und meinen Namen dem Manifest gegen die Wehrpflicht hinzufügen." (Ela Gandhi)

Das Manifest kann hier gelesen und unterzeichnet werden: http://www.themanifesto.info/
 

Manifest gegen die Wehrpflicht und das Militärsystem

Im Namen der Menschlichkeit,
für das Wohl aller Zivilist*innen, die von Kriegsverbrechen bedroht sind,
insbesondere der Frauen und Kinder,
und zugunsten der Mutter Natur, die unter Kriegsvorbereitungen und Kriegsführung leidet,
plädieren wir, die Unterzeichner*innen, für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht als einen größeren und entscheidenden Schritt zur vollständigen Abrüstung.

Wir erinnern uns an die Botschaft der Humanist*innen des 20. Jahrhunderts:

„Wir glauben, dass auf der Wehrpflicht aufgebaute Heere mit ihrem großen Stab von Berufsoffizieren eine schwere Bedrohung des Friedens darstellen. Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und dem menschlichen Tun.

Menschen dazu zu zwingen, ihr Leben aufzugeben, oder sie gegen ihren Willen, gegen ihre Überzeugung und gegen ihren Sinn für Gerechtigkeit zum Töten zu zwingen, stellt eine Erniedrigung der menschlichen Würde dar. Ein Staat, der sich für berechtigt hält, seine Bürger zum Kriegsdienst zu zwingen, wird auch in Friedenszeiten die gebührende Achtung und Rücksicht auf das Wohl und Wehe des Einzelnen vermissen lassen. Mehr noch: Die Wehrpflicht pflanzt der ganzen männlichen Bevölkerung einen militaristischen Geist von Aggressivität ein und das in einem Alter, in dem sie solchen Einflüssen am ehesten erliegt. So kommt es, dass durch die Ausbildung für den Krieg schließlich der Krieg als unvermeidlich, ja als erstrebenswert angesehen wird." (1)

„Die Wehrpflicht liefert die Einzelpersönlichkeit dem Militarismus aus. Sie ist eine Form der Knechtschaft. Dass die Voelker sie gewohnheitsmäßig dulden, ist nur ein Beweis mehr für ihren abstumpfenden Einfluss. Militärische Ausbildung ist Schulung von Körper und Geist in der Kunst des Tötens. Militärische Ausbildung ist Erziehung zum Kriege. Sie ist die Verewigung des Kriegsgeistes. Sie verhindert die Entwicklung des Willens zum Frieden." (2)

Wir wollen jeden dazu ermutigen, sich vom Militärsystem zu emanzipieren und darum Methoden gewaltfreien Widerstands anzuwenden, in der Tradition von Mahatma Gandhi und Martin Luther King, wie zum Beispiel: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (von Wehrpflichtigen und Berufssoldaten, in Kriegs- und Friedenszeiten), Ziviler Ungehorsam, Kriegssteuerverweigerung, Nicht-Zusammenarbeit mit der militärischen Forschung, der Rüstungsproduktion und dem Waffenhandel.

In unserem Zeitalter elektronischer Kriegführung und wirksamer Manipulation durch Massenmedien können wir unsere Verantwortung nicht verleugnen, rechtzeitig unserem Gewissen entsprechend zu handeln. Es ist höchste Zeit, unsere Einstellungen und unsere Gesellschaften zu entmilitarisieren und uns gegen den Krieg und alle Kriegsvorbereitungen auszusprechen.

Jetzt ist es an der Zeit zu handeln, jetzt ist es an der Zeit, kreativ zu werden und auf eine Weise zu leben, die das Leben der anderen Menschen rettet.

Anmerkungen
1  Manifest gegen die Wehrpflicht von 1926, neben anderen unterzeichnet von Henri Barbusse, Annie Besant, Martin Buber, Edward Carpenter, Miguel de Unamuno, Georges Duhamel, Albert Einstein, August Forel, M.K. Gandhi, Kurt Hiller, Toyohiko Kagawa, George Lansbury, Paul Loebe, Arthur Ponsonby, Emanuel Radl, Leonhard Ragaz, Romain Rolland, Bertrand Russell, Rabindranath Tagore, Fritz von Unruh, H.G. Wells
2 Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend von 1930, neben anderen unterzeichnet von Jane Addams, Paul Birukov und Valentin Bulgakov (Mitarbeiter von Leo Tolstoi), John Dewey, Albert Einstein, August Forel, Sigmund Freud, Arvid Jaernefelt, Toyohiko Kagawa, Selma Lagerloef, Judah Leon Magnes, Thomas Mann, Ludwig Quidde, Emanuel Radl, Leonhard Ragaz, Henriette Roland Holst, Romain Rolland, Bertrand Russell, Upton Sinclair, Rabindranath Tagore, H.G. Wells, Stefan Zweig.

Das Manifest wurde von der Friedensforum-Redaktion gendergerecht bearbeitet.

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Rubrik

Friedensbewegung international
Christian Bartolf ist Leiter des Gandhi-Informations-Zentrum in Berlin.
Dominique Miething ist Vorstandsmitglied Gandhi-Informations-Zentrum (Berlin) und Dozent für Politikdidaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.