Das "neue Denken" konkretisieren

von Karlheinz Koppe

Die Bedrohungssituation weltweit und in Europa hat sich in den vergangenen zehn Jahren entscheidend verändert. 1979, als die neue Friedensbewegung sich zu organisieren begann, schien es in der Tat gerechtfertigt, alle Kräfte auf die Verhinderung der atomaren Nachrüstung, und damit auf die Überwindung des Abschreckungsdenkens zu konzentrieren. Die Bedrohung der Weltgesellschaft - und auch Europas - durch den Verfall der Weltwirtschaftsordnung, die in der ungerechten Verteilung der Ressourcen und entsprechender Verschuldung der Zweidrittelwelt (und Osteuropas) zum Ausdruck kommt, und die zunehmende Zerstörung der Umwelt zeichnete sich zwar bereits ab, wurde aber zunächst in der breiten Öffentlichkeit weniger zur Kenntnis genommen als die militärischen Bedrohungspotentiale. Dementsprechend fanden die abrüstungsorientierten Ak­tionen der Friedensbewegung großes Echo und mobilisierten Millionen Bürger­Innen.

1989 sind die Prioritäten anders ge­setzt. Die ökonomischen und ökologischen Bedrohungen sind ins öffentli­che Bewußtsein gedrungen. Nicht nur Wissenschaftler, auch Politiker und vor allem einfache BürgerInnen be­greifen die Gefahren, die von der weltweiten ungerechten Güterverteilung und von der zunehmenden Zer­störung der natürlichen Existenz­grundlagen (Wasser, Luft, Böden, Klima) ausgehen, Lebensqualität min­dern und Millionen Menschen durch Hunger und Dürre töten. Hinzu kommt, daß Krieg im Norden, vor al­lem wegen der verwundbaren industriegesellschaftlichen Strukturen, nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich erscheint, eine Auffassung, die inzwischen sogar von Militärs in West und Ost geteilt wird. Michail Gorbatschow hat dies offenbar eher als die politisch Verantwortlichen im Westen erkannt. Zwar sind Rüstung und Militarisierung nach wie vor be­drohliche Erscheinungen, aber weni­ger weil sie kriegstreibend sind, son­dern weil sie wertvolle Ressourcen vergeuden und binden, die wir gerade für die Abwehr der ökonomischen und ökologischen Gefahren dringend brau­chen. Rüstung und Abschreckungs­denken sind zu Relikten einer Epoche der machtpolitischen und militärischen Konfrontation geworden, die inzwi­schen von der zwingenden Einsicht in weltweite Kooperation im Interesse des Überlebens aller abgelöst wurde. Daß an solchen Relikten noch festge­halten wird, ist nicht verwunderlich. Neues Denken braucht seine Zeit und es ist die dringende Aufgabe der Frie­densbewegung als neuer sozialer Be­wegung, das neue Denken weiter zu konkretisieren und noch stärker ins öffentliche Bewußtsein zu rücken und damit in politisches Handeln umzuset­zen.

Die Friedensbewegung hat dies an der Basis längst erkannt, während der Ko­ordinierungsausschuß den Eindruck erweckt, die Kampagnen der frühen achtziger Jahre wiederbeleben zu wollen. Obwohl die neue Lage im KA mehrfach andiskutiert wurde, ist es ihm nicht gelungen, Konsequenzen zu ziehen und eine dieser neuen Lage entsprechende Strategie auszuarbei­ten. Dabei bietet sich eine solche Strategie fast wie selbstverständlich an:

  1. Sensibilisierung  der  Öffentlichkeit für die neue Bedrohungslage;
  2. Selbstbeschränkung in den reiche­ren Industriegesellschaften zugun­sten der ärmeren Entwicklungsge­sellschaften in Ost und Süd, das heißt  Schuldenerlaß, Hebung der Lebensqualität bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcen durch Entwicklung und Einsatz modern­ster umweltgerechter Technologien;
  3. Unterstützung der  Reformen in der  Sowjetunion und in Osteuropa sowie der laufenden Abrüstungs­verhandlungen;
  4. Kampagnen zur Beschränkung der Rüstungshaushalte bis hin zu umfassender Abrüstung und Entmilita­risierung sowie zum Stopp Rüstungsexporte, die nach wie vor das Kriegsgeschehen anheizen.

Der Koordinierungsausschuß muß sich zu diesem Zweck selbst erneuern und vor allem solche Gruppen hören und aufnehmen, die an der Basis längst in dem vorgenannten Sinne tätig werden, Netzwerke aufbauen und an einer wirklichen sachgerechten und nicht kopflastigen Koordinierung interes­siert sind. Das sind in erster Linie die berufsorientierten Friedensinitiativen und andere Friedensinitiativen, die sich in Richtung Entwicklung und Ökologie als Aufgaben heutiger Frie­densarbeit umorientiert haben. Wieder andere Gruppen verknüpfen ihre Frie­densarbeit mit innenpolitischer Auf­klärung gegen Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus sowie mit Einsatz für Menschenrechte.

Die Vielfalt des Friedensbegriffes, der sich an der Basis der Friedensbewe­gung widerspiegelt, ist ohne Zweifel schwierig zu handhaben. Gerade des­halb wäre es eine Aufgabe des KA, die Basisaktionen aufzugreifen, zu bün­deln und zu einer Strategie zu ver­knüpfen, die geeignet ist, Öffentlich­keit für notwendiges Handeln zu schaffen.

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Im Blickpunkt
Karlheinz Koppe ist ehemaliger Leiter der Bonner Arbeitsstelle Friedensforschung.