Datenschutz in Deutschland

von Thilo Weichert
Schwerpunkt
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Der Widerstand gegen die Volkszählung 1983 führte nicht nur dazu, dass diese gewaltige Aushorchung gestoppt wurde, sondern auch dazu, dass das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung ableitete, ein "Grundrecht auf Datenschutz". Damit sollte eine von George Orwell in "1984" beschriebene Gesellschaft verhindert werden, in der der Staat die BürgerInnen unter dauernder Überwachung hält und damit manipuliert und einschüchtert. Eine solche Gesellschaft vor Augen protestierten die Menschen in den 80er Jahren gegen Volkszählung, Geheimdienstbeobachtung und zentrale Polizeidatenbanken. Dessen ungeachtet wurden die zentralen Staatscomputer ausgebaut, z.B. das polizeiliche INPOL-System, das NADIS-System der Geheimdienste, das Zentrale Verkehrsinformationssystem ZEVIS oder das Ausländerzentralregister AZR. Statt die Verdatung der Menschen zurückzuschrauben, wurde das bisher Praktizierte von den Parlamenten nachträglich legitimiert und festgeschrieben.

Entgegen den Anforderungen des Verfassungsgerichts nach Transparenz und Berechenbarkeit wurden staatliche Befugnisse dort ausgebaut, wo diese Prinzipien ohnehin schon missachtet werden: bei sog. Vorfeldermittlungen und verdeckten Maßnahmen. Bloße Vermutungen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen genügen, um ins Visier der Polizei zu geraten. Mit geheimen Ermittlungen wird in die intimsten Lebensbereiche eingebrochen. Die Legalisierung des Lauschangriffs ermöglicht die Zerstörung der Privatheit der Wohnung. Mit der Telefonüberwachung wird die unbeobachtete Kommunikation verhindert. Auch Peilsender, Richtmikrofone, Wanzen, verdeckte Ermittler und V-Leute zielen gegen organisierte Kriminelle, treffen aber meistens Unbescholtene. Ebenso schreitet die Alltagsüberwachung voran: vage Sicherheitsbedürfnisse legitimieren die immer mehr flächendeckende Videoüberwachung. Zur Verhinderung der ungerechtfertigten Inanspruchnahme staatlicher Leistungen knüpft der Staat ein immer enger werdendes Netz von Kontrollen, mit dem auch der letzte Sozialhilfebetrug, die letzte Subventionserschleichung und die letzte unbegründete Beantragung politischen Asyls aufgedeckt werden soll. Die Daten des Sozialamtes werden mit den Daten der Arbeitsverwaltung oder der Kraftfahrzeugverwaltung abgeglichen. Asylsuchende müssen im automatisierten System AFIS wie Kriminelle ihre Fingerabdrücke abspeichern lassen, um eine Antragstellung unter falscher Identität zu verhindern. Mit Hilfe einer Chipkarte soll ihr Aufenthaltsort jederzeit kontrolliert und jede erhaltene Leistung registriert werden. Unter dem Vorwand der Missbrauchskontrolle und der gerechten Güterverteilung sammeln die Behörden intimste private Details und bauen computergesteuerte Ressourcenmanagement-Systeme auf. Wer sich der Kontrollogik der Bits und Bytes entziehen will, fällt entweder durch die Maschen des sozialen Netzes ins Bodenlose oder wird umso gnadenloser vom elektronischen Datennetz gefangen. Dabei werden das verfassungsrechtliche Gebot der Zweckbindung und das der informationellen Gewaltenteilung ins Gegenteil verkehrt: Die Kooperation der Geheimdienste mit der Polizei, der Polizei mit der Ausländerverwaltung, der Ausländer- und Asylverwaltung mit den Sozialbehörden, der Sozialbehörden mit Gesundheits-, Kraftfahrzeug-, Melde- und Wohnungsbehörden sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

So in Deutschland, so in Europa: Dem "Asylmissbrauch" soll mit dem europäischen AFIS, dem "EURODAC" zu Leibe gerückt werden. Das Schengen-Informationssystem ermöglicht die europaweite Fahndung. In einer europäischen Polizeibehörde EUROPOL wird grenzüberschreitend, verdeckt und verdachtsunabhängig, gegen tatsächliche und vermeintliche Kriminelle ermittelt, von Lissabon bis Narvik, das Ganze ohne wirksame gerichtliche und ohne parlamentarische Kontrolle.

Aber die großen zentralen Computersysteme sind "out". Die sich revolutionär verändernde Informationstechnik ist schneller, kleiner, leistungsfähiger, vernetzter und billiger als das, was zu den Zeiten der Angst vor dem Großen Bruder technisch möglich war. Die Bedingungen zur Inanspruchnahme des Grundrechts auf Datenschutz werden nicht so sehr von politischen Vorgaben geprägt als vom technisch Machbaren. Die Telekommunikation in international verknüpften Netzen, insbesondere im Internet, ermöglicht einerseits eine räumlich und zeitlich nicht mehr zu fassende weltweite Kommunikation, aber auch die totale Kontrolle hierüber. Die Nutzung von Chipkarten im Zahlungsverkehr, im Gesundheitsbereich, bei der Mobilkommunikation oder im Verkehrswesen erlaubt die elektronische Registrierung von bisher anonymen Alltagsverrichtungen. Die Automation des gesamten Privatlebens, z.B. bei Telebanking, Teleshopping oder Telelearning, macht unsere Konsum- und Massengesellschaft zur kontrollier- und manipulierbaren Größe für Staat und Wirtschaft. Die Automation des Arbeitslebens perfektioniert die Kontrolle der Beschäftigten. Elektronische Verzeichnisse mit mehreren Mio. Personendatensätzen, auf CD-ROM gepresst, sind für wenig Geld in jedem Kaufhaus erwerbbar. Hochauflösende Satellitentechnik erlaubt Luftbilder, die für Adresshändler ebenso wie zur Aufdeckung von Umweltverstößen geeignet sind, sie ermöglicht die Navigation und Kontrolle im Luft-, See- und Straßenverkehr. Biometrische Angaben, vom Fingerabdruck über Gesicht und Iris bis hin zum genetischen Code, sind elektronisch speicherbar und werden zur eindeutigen Identifizierung durch Arbeitgeber oder Polizei, Bankinstitut, Sozial- oder Asylverwaltung genutzt.
 

Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Vielmehr wachsen die bisher getrennt angewandten Technologien immer mehr zusammen. So wird der frühere Personal Computer zur individuellen Informations- und Kommunikationsstation, zum Arbeits-, Unterhaltungs- (TV) und Haushaltsgerät und zum Lebensplaner. Jede der täglichen Verrichtungen wird auswertbar. In der Zusammenschau der erlangten Daten ergeben sich detaillierte Verhaltens-, Bewegungs- und Kommunikationsprofile. Die Chipkarte als beweglicher Kleinrechner, der bei jeder Nutzung Datenspuren hinterlässt, garantiert nicht nur telekommunikative Mobilität, sondern auch die Überwachung des Besitzers. Mindestens ebenso gravierend für unser Leben wird die Integration von Bio- und Gentechnik mit der bisherigen Informations- und Kommunikationstechnik. Schon heute arbeitet man an der Koppelung menschlicher Sinne und elektronischer Medien, an der Implantierung von Chips zur Steuerung menschlicher Funktionen oder zur Erweiterung menschlicher Fähigkeiten (Neurobionik). Damit wird die Einzigartigkeit und Subjektivität jedes einzelnen Menschen als intelligentes und fühlendes Wesen sowie dessen Würde zurückgedrängt zugunsten eines auf Produktion und Konsum reduzierten Informationsmusters.

Man darf nun nicht dem Trugschluss erliegen, diese Entwicklung werde durch ein mehr oder weniger geheimes staatliches Machtzentrum eines "Big Brother" geplant. Sie ist vielmehr das zwanglose Resultat des technischen Fortschritts, der sich dezentral und weitgehend unkoordiniert, fast "naturwüchsig" entwickelt. Hauptakteur ist nicht mehr der Staat. Bedeutender wird das Handeln der in Konkurrenz zueinander stehenden Wirtschaftsunternehmen, die in einem sehr freien Spiel strategische und taktische Allianzen eingehen: Banken, Versicherungen und sonstige Finanzdienstleister, Online-Dienste und Medienunternehmen, Adressenhändler und Auskunfteien, Versandhandelsunternehmen und private Sicherheitsfirmen, Rechenzentren und Telekommunikationsprovider und natürlich die Arbeitgeber erfassen sensible persönliche Daten, speichern und gleichen sie ab, werten sie aus. Dabei geht es weniger um Kontrollgelüste als um Profit. Je transparenter der Markt und die Geschäftspartner, desto höher der mögliche Gewinn. In privaten Datenbanken werden so intimste Details über Vorlieben, Konsumverhalten, Finanzkraft und soziale Stellung gespeichert. Diese Datenbestände sind auch eine Fundgrube für den Staat. Über Datenabgleiche und Rasterfahndungsmaßnahmen, aber auch schon durch direkte Abrufmöglichkeiten beschafft sich z.B. die Polizei das für ihre präaktiven und repressiven Aufgaben nötige Hintergrundwissen vom Kfz-Produzenten bis zur Handelsauskunftei.
 

Verblüffend ist bei dieser Entwicklung, dass nicht die Politik die Richtung vorgibt. Diese reagiert eher als dass sie lenkt. Fehlende Kompetenz verurteilt die demokratisch legitimierten Entscheidungsträger zum Absegnen der Faktizität der Technik, degradiert sie zur Legitimationsinstanz. Parlamente und Ministerialverwaltung scheinen völlig überfordert, die sozialen, demokratischen und bürgerrechtlichen Implikationen der modernen Informationstechnik zu erfassen, geschweige denn politisch und rechtlich zu gestalten. Nicht weniger schmeichelhaft ist die Rolle der BürgerInnen. Diese sind nicht mehr die reinen Verdatungsobjekte der 80er Jahre, sondern aktive Teilnehmer im telekommunikativen Prozess. Durch ihre scheinbar völlig freiwillige Beteiligung, die den Eindruck der Selbstbestimmung vermittelt, ja die Illusion, die treibende Kraft zu sein, wird in vielen Bereichen erst die Fremdbestimmung durch Staat und Wirtschaft ermöglicht. Das Einklicken in Online-Dienste und Internet, das Nutzen elektronischer Zahlungskarten und von Telediensten, von digitalem Fernsehen und Gesundheitschipkarten - all dies lässt erst die Datenspuren entstehen, die zu Zeiten des anonymen Konsums nicht vorstellbar waren und die zu umfassenden Persönlichkeitsprofilen zusammengestellt werden.

Völlig unsinnig wäre jetzt aber der Maschinensturm und der Rückmarsch in die vorelektronische Zeit. Das technische Know-How ist Fluch und zugleich Chance, womit wir zu leben lernen müssen. Die Technik enthält eben auch ein gewaltiges positives Potential: Mühselige Verrichtungen werden zum Kinderspiel, Zeit und Energie für kreatives Schaffen werden freigesetzt, Informationsmöglichkeiten werden exorbitant ausgeweitet. Fatal wäre es, der technischen Entwicklung freien Lauf zu lassen und auf die technische Lösung der entstehenden sozialen Probleme zu vertrauen. Durch die Konfiguration der Technik, durch Verschlüsselungsverfahren oder die Nutzung von anonymen Chipkarten, durch Virensuchmaschinen und Kinderschutzprogramme, durch elektronische Abschottungen mit Hilfe von sog. "Firewalls" oder mit Selektionsprogrammen lassen sich die Risiken begrenzen und kalkulierbar machen. Die Definitionsgewalt, was zugelassen wird und was nicht, muss von der Technik auf die Menschen, auf die Politik zurückübertragen werden. Es muss ein öffentlicher Diskurs initiiert werden, bei dem nicht technische und ökonomische Sachzwänge die Maßstäbe setzen, sondern menschliche Bedürfnisse und Wünsche.
 

Recht und Politik müssen Antworten auf die Entwicklung der Technik finden. Angesichts der Möglichkeiten in der Gentechnik muss den Menschen ein Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Disposition zugestanden werden. Angesichts der Monopolisierung vieler Lebensbereiche durch die Technik muss ein Recht auf anonyme Befriedigung existentieller Bedürfnisse entwickelt werden. Angesichts der Monopolisierung vieler Lebensbereiche durch die Technik ist es für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft nötig, unbeobachtete technikfreie Sphären für Kommunikation und Information zu bewahren. Eine Gesellschaft, in der der Mensch nicht zum Sklaven der Technik gemacht wird, sondern die Technik zum Diener der Menschen, ist nur zu realisieren, wenn der demokratische Diskurs über die Informations- und Kommunikations- und die Biotechnik vorangebracht wird. Dass eine solche Diskussion über die Technik zu deren politischer Gestaltung führen kann, hat trotz aller Rückschläge die Auseinandersetzung um Umweltverschmutzung, Ressourcenverschwendung und Atomtechnik gezeigt.
 

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Dr. Thilo Weichert ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Datenschutz.