Autonome Abwehr als eine Brückenstrategie

Defensive Verteidigung als Alternative

von Wilhelm Nolte

Michael Gorbatschow hat nicht nur dem Ost-West-Konflikt ein Ende bereitet und Deutschland seine Wiedervereinigung beschert (vgl. Beitrag von Mikhail Polianskii in diesem Heft). Er hat zugleich der hier intensiver als in anderen Staaten des Westens geführten Debatte über sog. „Alternative Strategien“ den Wind aus den Segeln genommen. Wladimir Putin hingegen drängt mit seinem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine die Frage nach wirksamen, die Zivilbevölkerung schonenden Verteidigungsformen von Neuem auf. Schon rückt Ulrich Stadtmann „Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten“ als „Alternative Verteidigung“ gleich an zwei Orten in den Vordergrund. (1)

Militärische Eroberung zerstört die Städte und mit ihnen zentrale Lebensräume der Bevölkerung. Da kommt Soziale Verteidigung zu spät, auch die, die Stadtmann im Ukrainekrieg ausmachen kann. Hätten die Ukrainer*innen die russische Invasion einfach über sich ergehen lassen, Stadt und Land einfach besetzen lassen sollen - und danach sie wieder mit Methoden Gewaltfreien Widerstandes außer Landes drängen sollen? Drängen können? Oder hätte die Ukraine der Völkerrechtsoption der Offenen Stadt folgen sollen, die Norman Paech (2) aktuell in Erinnerung ruft? Erleichterte dies das Hinausdrängen des Besatzers? Hätte diese Option alleine den Aggressor von seiner Invasion abgehalten? Mitnichten! Oder die Option in Verbindung mit der Androhung gleichzeitiger Sozialer Verteidigung? Hätten beide zusammen kriegsverhindernde Wirkung entfalten können? Oder ließen sich gar militärische Verteidigungsformen mit Formen Sozialer Verteidigung in eine gemeinsame Funktion der Kriegsverhinderung bringen?
Aber hatte der Begründer der Sozialen Verteidigung, Theodor Ebert, einen „Mix“ aus Soldat*innen mit Zivilverteidiger*innen - eingehend begründet! - nicht nachdrücklich abgelehnt? Immerhin schien ihm „zumindest eine deutliche zeitliche und räumliche Trennung von militärischen und zivilen Widerstandsmaßnahmen“ geboten. (3) Eine die Ablehnung hinterfragende Debatte steht seither aus.

Wo heute nach einer „neuen Rolle für die NATO“ gefragt wird (vgl. Beitrag Andreas Zumach), sah das Westbündnis in den frühen neunziger Jahren die „NATO-Strategie in der Krise“. (4) Die von Bundeskanzler Helmut Schmidt über die sog. „Nachrüstungsdebatte“ vorangetriebene Stationierung von Pershing-II als Gegengewicht gegen sowjetische SS-20-Nuklearraketen nahm der Öffentlichkeit mehr und mehr das Vertrauen in die Verlässlichkeit Atomarer Abschreckung und - bei ihrem Versagen - in eine wirksame, Land und Volk erhaltende Verteidigung.

Unbehagen mit der militärisch konventionell konzipierten, mit notfalls nuklearen Eingriffen durchsetzten Vorneverteidigung machte sich in wissenschaftlichen Kreisen breit und brach sich in einer rapide aufwachsenden Friedensbewegung öffentlich Bahn. Ihr Protest kulminierte in einer mit rund 500.000 Teilnehmer*innen bis dato unerreicht großen Anti-Atom-Demonstration im Bonner Hofgarten am 22. Oktober 1983. Vom Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll eröffnet und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt befeuert, markierte die Demonstration einen deutlichen Wendepunkt in der politischen Wahrnehmung von Alternativen zur NATO-Strategie, denen bislang nur randständiges Interesse galt. So randständig wie eine aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland getragene „Friedensforschung“, die sich hier nur in wenigen Instituten hatte etablieren lassen. Erste weitertragende Erkenntnisse hatte das in Starnberg ansässige Institut unter Leitung von Carl Friedrich von Weizsäcker mit der Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ (5) vorlegen können. In Mitarbeit hieran entwickelte der Physiker und Jurist Horst Afheldt das Grundtheorem einer Nicht-Offensiven, an den zu verteidigenden Raum gebundenen (Tiefen-)Verteidigung. (6) Seinen Leitideen schlossen sich der Sozialwissenschaftler Lutz Unterseher, Begründer und Leiter der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (SAS) in einer ausgeprägten Netzstruktur (7) an, Oberstleutnant a.D. Norbert Hannig unter Einbringung von vorwärtsverteidigenden Elementen sowie die beiden pensionierten Generale Eckard Afheldt und Jochen Löser.

Die in Bjørn Møllers „Dictionary of Alternative Defense“ (8) herausgehobenen Protagonist*innen zeigen an, dass selbst Bundeswehrsoldaten nach einem Ausweg aus dem nuklearen Inferno suchten, das ein Versagen Atomarer Abschreckung in Flexible Response bis hin zur Mutual Assured Destruction erwarten lassen musste. Sogar die Bundeswehradministration beschäftigte sich mit Alternativen zur geltenden Strategie. Ein Jahr nach der Demonstration im Bonner Hofgarten legte das Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr eine aktualisierte „Strategie-Synopse - Kritiken, Argumente, Vorschläge“ als „Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch“ vor, die ein Jahr zuvor in Teilen noch als „Vertraulich“ oder „Geheim“ eingestuft worden war. Zum Jahresschluss 1984 gebe sie „einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der in der Öffentlichkeit geführten sicherheitspolitischen und militärstrategisch-operativen Diskussion“ wieder, heißt es im vorangestellten Berichtsblatt. (9)

So systematisch die Studie mit kategorial getroffenen Betrachtungen diverser Argumentationsfelder und hierin anzusiedelnder Autoren angelegt war, so unvermittelt mündeten ihre Schlussbewertungen in Auszügen aus früheren Publikationen des damaligen Verteidigungsministers Manfred Wörner. Mainstreamgerecht attestierte er der „sogenannten Friedensbewegung ... Realitätsverweigerung“ und warnte: „Die Friedensbewegung beschwört genau die Kriegsgefahr herauf, die sie zu bannen sucht.“ Dabei nehme die vom Politikwissenschaftler Theodor Ebert propagierte Soziale Verteidigung als „radikale Alternative zur Militärischen Verteidigung“ die „Besetzung des eigenen Territoriums durch einen Aggressor hin“ und überschätze die „Möglichkeiten des Widerstandes gegen eine entschlossen durchgreifende Besatzungsmacht.“ (Vgl. aktuell den Beitrag von Ulrich Stadtmann in diesem Heft). Konventionell bewaffnete Raumverteidigung ihrerseits sei „bereit, Teile der Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke eines zweifelhaften Zeitgewinns aufzugeben“ und somit „eher eine Kriegsführungsstrategie als eine Kriegsverhinderungsstrategie“. (10)

Auch ein vom Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages um den Jahreswechsel 1983/1984 veranstaltetes, mehrtägiges Hearing fand zu dem Schluss, dass es „zur gültigen NATO-Strategie der flexiblen Antwort derzeit keine Alternative“ gebe. In fünf öffentlichen Sitzungen waren den Alternativstrategen Horst Afheldt, Theodor Ebert und Lutz Unterseher wenige Friedensforscher an die Seite und über 15 „Wissenschaftler, Diplomaten, Militärs und auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik anerkannte Fachleute als Experten“ (11) entgegengestellt worden.

Ungeachtet dieser deutlichen politischen Abfuhr veröffentlichte das Hamburger Institut für Friedensforschung (IFSH) unter Leitung des Politikwissenschaftlers Dieter S. Lutz nach dem Hearing eine dritte Alternative: Autonome Abwehr. (12) In Verknüpfung von Sozialer Verteidigung nach dem Ebert-Modell mit Raumverteidigung in der Netzstruktur nach Unterseher unter Inanspruchnahme der Völkerrechtsoption der „Offenen Stadt“ (13) führt Autonome Abwehr Gewaltfreien Widerstand in den militärisch nicht verteidigten Städten in eine Kofunktion mit den militärisch konventionell zu verteidigenden stadtfreien Räumen. Darüber bindet Autonome Abwehr die alles überwölbende Kriegsverhinderungsstrategie ausdrücklich an die Bereitschaft zu gesamtgesellschaftlichem gewaltfreiem Widerstand gegen Nukleargewalt. „Gegen einen genozidalen Gegner ist ziviler Widerstand nicht durchführbar.“ (14)

Autonome Abwehr fordert die ganze Gesellschaft zur Kooperation gegen Kriegsgefährdung heraus, sie wendet Kriegsdrohung und Krieg autonom ab (Strategie der Abwendung). Gelingt dies nicht, müssen - in einer gesetzlich zu fassenden „Allgemeinen Abwehrpflicht“ - nicht alle Bürger*innen Soldat*innen sein. Gleicherweise müssen nicht alle Soziale Verteidiger*innen sein. Allerdings müssen sich beide Verteidigergruppen - in ihren Eigenheiten autonom - organisieren und strukturieren, zudem in ihrer je eigenen Verteidigungsaufgabe führen, ausbilden und ausstatten lassen. Nicht zuletzt müssen sie sich, wie von Ebert angedeutet, über Abgrenzungen zwischen Stadt und Raum sowie Zeitabfolgen verständigen. Indem jede der Gruppen von der je anderen Gruppe wirksame Verteidigungsleistung erwartet, treten beide untereinander in Konkurrenz. Die Offenen Städte müssen ebenso wirksam „sozial“ verteidigt werden, wie dem Angreifer die Einnahme der stadtfreien Räume militärisch verwehrt bleiben muss. Ein Aggressor muss schließlich aus Stadt und Land hinausgedrängt werden.

Nicht zuletzt kann Autonome Abwehr als eine Brückenstrategie in eine völlig gewaltfreie Kriegsverhinderungs- und Verteidigungsstrategie gelesen werden: Je überzeugender die Verteidigung der Offenen Städte durch Soziale Verteidigung gelingt, umso mehr können die Stadträume ausgeweitet, kann die militärische Raumverteidigung eingeengt und zurückgenommen werden.

Anmerkungen
1 Ulrich Stadtmann: Alternative Verteidigung - Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten, BSV-Rundbrief 1/2022, S. 3-4; ders.: Nicht anerkennen, nicht kooperieren - Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten, in: W&F Wissenschaft und Frieden, 2/2022, S. 15-17
2 Norman Paech: So können wir die Städte der Ukraine vor dem Krieg bewahren, in: Telepolis, 10.3.2022, unter: https://www.heise.de/tp/features/So-koennen-wir-die-Staedte-der-Ukraine-...
3 Theodor Ebert: Soziale Verteidigung - Formen und Bedingungen des Zivilen Widerstands, Waldkirch 1981, S. 86
4 K.-Peter Stratmann: NATO-Strategie in der Krise? Militärische Optionen von NATO und Warschauer Pakt in Mitteleuropa, Baden-Baden 1981
5 Carl Friedrich von Weizsäcker (Hg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1970.
6 U.a.: Horst Afheldt: Defensive Verteidigung, Reinbek bei Hamburg 1983
7 Zuletzt zusammenfassend: Lutz Unterseher: Frieden schaffen mit anderen Waffen? Alternativen zum militärischen Muskelspiel, Wiesbaden 2011
8 Bjørn Møller: Dictionary of Alternative Defense, Boulder/Col. / London 1994/95, S. XXIX
9 Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr: Strategie-Synopse - Kritiken, Argumente, Vorschläge, akt. u. erw. Neuauflage (VS-NfD), Bergisch-Gladbach 1984
10 Ebd. S. V-1-3, V-1-10, V-1-7.
11 Alfred Biehle (Hg.): Alternative Strategien - Das Hearing im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, Koblenz 1986
12 Hans-Heinrich Nolte, Wilhelm Nolte: Ziviler Widerstand und Autonome Abwehr, Baden-Baden 1984, Reihe: Dieter S. Lutz (Hg.): Militär, Rüstung, Sicherheit, Bd. 27, auch in: Jan Øberg, Dietrich Fischer, Wilhelm Nolte: Frieden gewinnen, Freiburg 1987; dies.: Winning Peace, New York/Philadelphia/London 1989
13 Wolf-Ruthart Born: Die Offene Stadt, Schutzzonen und Guerillakämpfer, Regelungen zum Schutz der Bevölkerung in Kriegszeiten ..., Berlin 1978
14 Hans-Heinrich Nolte, Stellungnahme vom 21.4.2022

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Schwerpunkt
Wilhelm Nolte, Jg. 1940, ehem. Berufssoldat Bw, danach freier Lektor für Friedensforschung, langjährig Datenbankführer der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK).