Dem Krieg ein Gesicht geben

von Urs Zuberbühler
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Seit Juli 1993 läuft in Pakrac in Westslawonien ein internationales Wie­deraufbauprojekt, welches von der Antikriegskampagne Zagreb organi­siert wird. Junge Menschen aus ganz Europa arbeiten beim Wiederauf­bau mit und nehmen für einige Wochen am Alltag in der vom Krieg schwer betroffenen Region teil.

Vor dem Krieg lebten in Pakrac etwa 10.000 Menschen, im Dezember 1993 sind es gerade noch 3.300. Die Region, heute Teil einer der vier UNPA-Zonen (UN-protected areas) war zwischen Sommer und Spätherbst 1991 Schau­platz schwerster Kämpfe zwischen Ser­ben und Kroaten. Kaum ein Haus hat den Krieg unbeschadet überstanden, von vielen sind nur noch Trümmer übrig­geblieben. Heute ist Pakrac eine geteilte Stadt: mitten hindurch verläuft die Grenze zwischen serbisch und kroatisch kontrolliertem Gebiet. Die Region ist offiziell entmilitarisiert, und seit Januar 1992 werden UN-Einheiten für die Frie­denssicherung eingesetzt.

Rückkehr zum Alltag

Zerschossene Fassaden, ausgebrannte Geschäfte und eingestürzte Häuser, so präsentiert sich das Zentrum des ehe­mals schmucken Städtchens. UN-Sol­daten, UN-Polizisten, kroatische Polizei und die weißen UN-Fahrzeuge mit der blauen Flosse dominieren das Bild in den Straßen, dazwischen Menschen mit Einkaufstaschen und Kinder mit Schul­mappen, die der Stadt einen Hauch von Alltag verleihen. Mehr und mehr kehren jene Menschen zurück, die aus dieser Stadt flüchten mußten. Menschen, die durch die schrecklichen Kriegsereig­nisse ihr Haus, oft aber auch Nachbarn oder Verwandte verloren haben. Sie versuchen, hier ihre alte Existenz wie­deraufzubauen. Die Antikriegskampa­gne, eine kroatische Friedensorganisa­tion und internationale Freiwillige un­terstützen sie in dieser Arbeit.

Seit Juli 1993 läuft in Pakrac ein inter­nationales Freiwilligenprojekt, an dem bis Ende Dezember neunundsiebzig junge Menschen aus ganz Europa, Au­stralien und Nordamerika im Rahmen eines jeweils dreiwöchigen Aufbauhilfe-Einsatzes teilgenommen haben. Aufge­teilt in die örtlichen Arbeitsbrigaden helfen die Freiwilligen beim Wieder­aufbau zerstörter Häuser und befreien Straßen und Plätze vom Schutt der Kriegstage.

In Pakrac geht um viel mehr als nur um den Wiederaufbau von Häusern, wie ich bald verstehen lernte. Menschen, die sich oft von der ganzen Welt vergessen glauben, für die die Welt nicht mehr üb­rig hat als eine Heerschar uniformierter Soldaten und Polizisten, sehnen sich nach Kontakten nach außen, brauchen die Gespräche mit "Zivilisten" wie wir es sind. Der Wiederaufbau ziviler sozi­aler Strukturen ist denn auch eines der wichtigen Ziele der Freiwilligenein­sätze. Durch die Organisation von Par­ties, Sprachkursen und kulturellen Akti­vitäten sowie dem Aufbau eines Ju­gendzentrums ist es gelungen, wieder etwas Leben in den Ort zu bringen. Un­sere Englischkurse, die Jazzdance-Gruppe und auch die Spielstunde für die Kinder erfreuen sich einer großen Be­liebtheit im Ort.

Menschliche Schicksale

Mit Menschen in Kontakt zu kommen, bei einem türkischen Kaffee zu plaudern und so Freud und Leid zu teilen, dies ist ein ganz wichtiger Aspekt der Einsätze in Pakrac. Marija und der junge Zoran sind nur zwei der vielen Menschen, die ich in Pakrac getroffen habe. Zoran, 19 Jahre alt, ist den größten Teil des Tages betrunken und kennt fast nur ein Ge­sprächsthema: seine Kriegserlebnisse. Als siebzehnjähriger war Zoran bereits bei der Verteidigung seiner Stadt gegen die serbischen Angreifer mit dabei, mußte miterleben, wie Freunde getötet wurden, wurde selber zum Mörder. "Mein Haus ist kaputt, das ist schlimm, aber auch wieder nicht so schlimm. Meine Seele ist kaputt, das ist schlimm, sie ist kaputt fürs ganze Leben", erzählt er mir bei einem Besuch. Immer wieder betont er, daß er halt verrückt sei, daß aber allein der Krieg daran schuld sei. "Verstehst Du? Nein, Du verstehst nicht!" meint er unter Tränen.

Marija ist zwischen 60 und 70 Jahre alt, sie wirkt fröhlich, scheint gesund und zufrieden zu sein, sie begrüßte mich bei jedem Besuch mit größter Herzlichkeit. Ihre Herzlichkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie unter schwie­rigsten Bedingungen lebt. Von Marijas stattlichem Haus sind nur noch die Grundmauern übriggeblieben, jetzt wohnt sie im ehemaligen Gartenhäus­chen. Auf kaum drei Quadratmetern Fläche bilden eine kleine Bank (gleich­zeitig ihr Bett), ein Holzherd und zwei kleine Küchenschränke ihr neues Zu­hause. Nachts kann sie nicht schlafen, muß sie doch regelmäßig ein Holzstück in den Ofen nachschieben, um in der winddurchlässigen Hütte nicht zu erfrie­ren. Doch Marija hat nicht aufgegeben, der Wille zu leben ist stärker. Schon stehen die Backsteine nebenan für den Wiederaufbau im nächsten Frühjahr be­reit. Es muß weitergehen, auch wenn viele Nachbarn tot sind und es niemals mehr sein wird wie früher.

Durch die Begegnung mit diesen Men­schen hat für mich dieser unverständli­che Krieg ein Gesicht bekommen, ja nicht nur eines, sondern viele. Erst jetzt habe ich eine Beziehung zu all den Mel­dungen in der Presse, weil sie plötzlich nicht irgendwen, sondern meine Freun­dInnen betreffen.

Die Grundlagen, um einen soliden, dau­erhaften Frieden zu schaffen, werden noch Jahrzehnte beanspruchen. Die konkrete Hilfeleistung beim Wiederauf­bau der Häuser und das Durchbrechen der Isolation der Menschen in Pakrac durch internationale Freiwillige ist ein erster Schritt auf diesem langen Weg. Doch auch bescheidene Hoffnung ist angebracht: Im Januar hat ein kleines Freiwilligenteam auch mit dem Wieder­aufbau im serbisch kontrollierten Teil von Pakrac begonnen.

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Urs Zuberbühler war im Dezember 1993 als Freiwilliger des Service Civil International in Pakrac.