Bundeswehrreform:

Der Apparat plant seine Zukunft

von Stefan Gose
Schwerpunkt
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Soldaten formulieren,
was der Minister verkündet

Generalinspekteure der Bundeswehr haben einen undankbaren Job. Als ranghöchste Soldaten sollen sie ihren Minister ungeschminkt über den Zustand der Truppe informieren. Sie sollen Pläne entwickeln, wie die Aufgaben der Soldaten besser zu bewältigen wären, ja seit 1989 mutierten die obersten Soldaten zu Sinnstiftern der Truppe, die ihrem Minister Konzepte bastelten, wofür eine Streitmacht auch ohne Feind zu gebrauchen sei. Das erste Strategiepapier nach dem Kalten Krieg, die "Verteidigungspolitischen Richtlinien" vom November 1992, die erstmals Auslandseinsätze der Bundeswehr begründeten, stammte aus der Feder von Generalinspekteur Klaus Naumann. Doch Naumann nahm seinen Auftrag zu ernst: Schrittweise wollte sein damaliger Chef, Verteidigungsminister Volker Rühe, die deutsche Öffentlichkeit mit jedem neuen Auslandseinsatz an den Interventionskurs der Bundeswehr gewöhnen. Doch der nüchterne Soldat Naumann verkündete in der Presse militärisch knapp auch alle Defizite dieses Kurses: keine Transportkapazitäten, mangelhafte Aufklärung, unflexibles veraltetes Großgerät, kein Führungskommando, zu wenig Feldlager und Lazarette, verweichlichte Motivation - die Soldaten sollten wieder preußische Tugenden lernen, die Öffentlichkeit sich wieder an Zinksärge gewöhnen. Nur mit Mühe konnte Rühe seinen "politischen Nebenlautsprecher" 1996 zur NATO nach Brüssel abschieben.

Hinter den Kulissen gab Rühe Naumann allerdings Recht. Der Minister plante einen Hubschrauberträger, neue Tender und installierte das Führungszentrum der Bundeswehr. Dabei kam Rühe zunehmend mit seinen Finanzen in Konflikt. Für seine neuen Projekte wollte er nicht auf überdimensionierte Truppenstärke und alte Waffenprogramme verzichten. "Reformstau" polterte die SPD, als sie mit der Regierungsübernahme 1998 eine Bundeswehrreform ankündigte. Bei Licht betrachtet ist allerdings Klaus Naumann der Vater dieser Reform. Seine Blaupausen haben mehr Einfluss auf das vorläufige Reformergebnis, als alle späteren Expertenpapiere. Denn Naumann argumentierte aus der militärischen Effizienzlogik. Finanzielle oder politische Einschränkungen interessierten ihn nicht. Und diesem Primat des militärischen Apparates ist noch jeder deutsche Verteidigungsminister unterlegen.
Am 3. Mai 1999 legte Naumanns Nachfolger, Generalinspekteur Hartmut Bagger, seine "Bestandsaufnahme der Bundeswehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" vor: ein maximalistischer Wunschzettel, der die Hardware nach Rühes Kreisquadratur einforderte. Diesmal war es Rudolf Scharping, der den Boten in die Wüste schickte. Das Papier seines höchsten Generals bedrohte das Reformimage des Ministers. Gleichwohl gab Scharping die 1.300-seitige "Bestandsaufnahme" Baggers als Arbeitsgrundlage der Wehrstrukturkommission um Altpräsident Richard von Weizsäcker.

Wehrstrukturkommission als ziviles Feigenblatt
Diese honorige "Zukunftskommission" wurde am 24. April 1999 eingesetzt. Einen Tag zuvor hatte sich Scharping auf dem Washingtoner Geburtstagsgipfel der NATO auf das Long Term Defense Planning [Aufrüstungs-]Programm und künftige Interventionen im Rahmen des "Strategischen Konzepts" der NATO festgelegt. "Ergebnisoffen und ohne Vorgaben" (Scharping) sollte die Weizsäcker-Kommission die Bundeswehr auf den Prüfstand stellen. Gleichzeitig legte sich der Verteidigungsminister öffentlich auf den Erhalt der Wehrpflicht fest, gab Bestandsgarantien für Standorte, forderte mehr Investivmittel für Waffenkäufe, unterschrieb in Köln den Aufbau europäischer Streitkräfte und in Helsinki die deutsche Teilnahme an einem europäischen Interventionscorps.

Parallel zur Weizsäcker-Kommission beauftragte Scharping seinen neuen Generalinspekteur, Hans-Peter von Kirchbach, mit der Erarbeitung eines hauseigenen Reformkonzepts. Damit brüskierte er die Weizsächer-Kommission als zivilgesellschaftliche Alibi-Veranstaltung. Zwar hatte der Minister handverlesen überwiegend konservative "Transatlantiker" in die Weizsäcker-Kommission berufen. Doch die beanspruchten zu Scharpings Verdruss, ihren Job einer Bundeswehrinventur ernst zu nehmen. Scharping verkürzte die Beratungszeit der Wehrstrukturkommission um ein halbes Jahr. Die Weizsäcker-Kommission reagierte mit der Bildung von Arbeitsgruppen, um trotzdem zu seriösen Ergebnissen zu kommen. Als Scharping dämmerte, dass sich seine diplomatische Glanzbesetzung Richard von Weizsäcker keinen Maulkorb verpassen ließ, antichambrierte er auf drei Ebenen:

Als "Gast" hielt sich Scharping ständig über die Beratungsschritte der Weizsäcker-Kommission auf dem Laufenden. Er setzte schonmal erste Vorschläge der Kommission als seine eigenen in Szene (Vertrag mit der Zivilwirtschaft, Verträge mit zivilen Krankenhäusern, europäischer Lufttransportpool, Rüstungsagentur),

Scharping distanzierte sich von der Auftragsreform seines Generalinspekteurs, weil das ambitionslose Werk die Reformfreudigkeit des Ministers in Zweifel ziehen musste. Nach der Übergabe der "Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte" am 23. Mai 2000 feuerte Scharping den "Held des Oderhochwassers", Hans-Peter von Kirchbach. Um Reformstärke zu zeigen entließ er auch gleich seinen Staatssekretär Peter Wichert, der als Relikt der Kohl-Ära im BMVg für die Personalplanung zuständig war.
 

Von seinem Chef des Planungsstabes, Harald Kujat, ließ sich Scharping ein 42-seitiges Kurzpapier schreiben. Der General hielt sich nicht mit der Relevanz der Bundeswehr auf, sondern rückte die Interessen des Apparates, - Beförderungsstau, Ausbildung, Soldforderungen und Ausrüstung - in den Vordergrund. Kaum war von Kirchbach entlassen, übernahm Scharpings Souffleur Kujat den Job des Generalinspekteurs.

Nur eine Woche lag zwischen der gleichzeitigen Vorlage der Arbeitsergebnisse der Weizsäcker-Kommission, der Eckwerte von Kirchbachs am 23. Mai 2000 und der Präsentation von Rudolf Scharpings "Eckpfeiler für eine Reform von Grund auf". Statt nun endlich die seit zehn Jahren überfällige Debatte über Sinn und Unsinn einer 45 Milliarden-Truppe ohne Feind zu führen, verabschiedete das Bundeskabinett eiligst am 14. Juni 2000 das Scharping-Papier. Die Öffentlichkeit möchte Scharping erst nach Vollzug mit einem neuen Weißbuch über seine Pläne unterrichten. Soviel zur Reformfreudigkeit der Bundesregierung und ihres Verteidigungsministers, die einst als Oppositionsparteien nicht müde wurden, eine öffentliche Diskussion über die künftige Rolle der Bundeswehr mittels einer parlamentarischen Enquète-Kommission zu fordern - Schnee von gestern.

Worum geht es bei Scharpings "Reform"?
Die "Reform"-Prämissen aller drei Papiere - von Weizsäcker, von Kirchbach und Kujat/Scharping - waren gleich: Es ging weder um Einsparungen noch um Abrüstung.
 

  •  Zwei Bundeswehrverbände sollen künftig gleichzeitig langfristig für zwei Auslandseinsätze mit je 10.000 Soldaten einsatzfähig sein. Alternativ dazu soll die Bundeswehr mindestens ein Jahr zu einem Großeinsatz mit 50.000 Soldaten fähig sein. Diesen Zahlen liegt keine Bedrohungsperzeption zu Grunde, sondern das Kalkül, dass Frankreich und Großbritannien je zwei Interventionsverbände aufbauen und die Bundesrepublik im internationalen Konzert nur dann Gewicht habe, wenn sie militärisch mit den (Post-)Kolonialmächten gleichzöge.
     
  •  Der investive Anteil am Veteidigunghaushalt soll für Waffenkäufe von derzeit 25% (12 Mrd. DM) auf 30% steigen.
     
  •  Die mittelfristige Finanzplanung von jährlich ca. 45 Mrd. DM für den Verteidigungsetat soll nicht überschritten werden. Dieser Prämisse wird nur das Weizsäcker-Papier gerecht.
     
  •  Die vierte Prämisse ist der Erhalt der Wehrpflicht, wobei die Weizsäcker-Kommission ein zweites Modell errechnete, nach dem auch eine reine Berufsarmee mit 220.000 Soldaten den künftigen Interventionsauftrag haushaltskonform erfüllen könnte.
     

Im Ergebnis kommt von Kirchbach auf eine Truppe von 290.000 Soldaten (Ist 2000: 320.000), Scharping auf 277.000 und die Weizsäcker-Kommission auf 240.000 Soldaten. Die "Bedarfsdifferenz" von 50.000 Soldaten trotz gleichem Auftragsprofil weist auf die unseriösen Zahlenspiele. Das von Kirchbach-Papier ist wenig mehr, als die Anpassung der gegenwärtigen Planzahlen an die schwindsüchtige Realität der Bundeswehr, garniert mit halbherzigen Einsparungen von Überkapazitäten, die künftigen Waffenkäufen zu Gute kommen sollen. Das Scharping-Papier ist eine "Kirchbach-light-Version", dessen Personalstärke vordergründig zwar den Generalinspekteur unterbietet. Da Scharping sich jedoch mit Händen und Füßen gegen Standortschließungen wehrt - von Weizsäcker hatte die Halbierung der 600 Bundeswehrstandorte vorgeschlagen, Scharping will lediglich die Aufgabe von 161 Kleinststandorten "prüfen" - dürfte nach den erwarteten Protesten der Kommunen wieder ein Truppenbestand um die 290.000 Soldaten herauskommen. Unseriös ist das Scharping-Papier auch deshalb, weil der Verteidigungsminister dem Finanzminister zwar die Einhaltung des 45-Milliarden DM-Haushaltslimits zugesagt hat. Tatsächlich belaufen sich die Kosten für Scharpings Modell aber auf jährlich etwa 56 Mrd. DM. Für Auslandseinsätze, die Scharping unter der 45 Mrd.-Vorgabe künftig aus dem eigenen Haushalt bestreiten soll, ist erst recht kein Geld mehr übrig. Scharpings Reformtruppe würde also um knapp 30 Prozent teurer als von Hans Eichel gebilligt, ohne aus eigenen Mitteln einsetzbar zu sein.

Aus dem Weizsäcker-Papier hat sich Scharping sämtliche "Outsourcing"-Vorschläge zu eigen gemacht. Wo immer Bundeswehraufgaben von zivilen Dienstleistern übernommen werden können, soll dies künftig passieren. Ob die daraus erwarteten Einsparungsmilliarden allerdings tatsächlich für künftige Waffenkäufe zur Verfügung stehen, wenn etwa zivile Unternehmen die Ausbildung der Hubschrauberpiloten übernehmen oder ein Monopol für die U-Boot-Wartung erhalten, ist zweifelhaft. Mit Sicherheit führt diese "Public-Private-Partnership" zu einer Privatisierung hoheitlicher Aufgaben, die sich der demokratischen Kontrolle zunehmend entzieht.

Transparenz und Kontrolle sind auch nicht Ziele der künftig gestrafften Kommandostruktur. Der Generalinspekteur erhält zusätzliche Kompetenzen zur Streitkräfteplanung und erstmals das Mandat zur operativen Einsatzführung. Mit dem "Einsatzführungskommando" erhält die Bundeswehr einen Generalstab, auf den aus historischen Misserfahrungen 50 Jahre verzichtet wurde. Es schwinden nicht nur interne "checks and balances", die parlamentarische Kontrolle wird durch stärkere Eigenverantwortung der militärischen Führung und privatwirtschaftliche Militärplanungen verringert. Selbst der Verteidigungsminister verliert als "Inhaber der Befehls und Kommandogewalt/IBuK" an Gewicht.

Juristisch ist das Scharping-Konzept aus mehreren Gründen verfassungswidrig:

Dem Zwangsdienst Wehrpflicht fehlt der Nachweis militärischer Notwendigkeit (Art. Art. 12, Abs. 2, 12a GG), "Wehrgerechtigkeit" ist nicht gewährleistet, wenn nur 77.000 von 430.000 allgemein Wehrpflichtigen einberufen werden (Art. 3, Abs. 3; 12 Abs. 2 GG).

Der Gleichberechtigungsgrundsatz ist verletzt, wenn Männer zwangsrekrutiert werden, während Frauen künftig in allen Bundeswehrlaufbahnen freiwillig tätig sein dürfen (Art. 3. Abs. 3; 12 Abs. 2 GG).

Die von Scharping geplante Öffnung aller Bundeswehrlaufbahnen für Frauen, wie es das EuGH in seinem Spruch vom 11.1.2000 forderte, steht nach wie vor im Widerspruch zum Waffendienstverbot für Frauen (Art. 12, Abs. 4 GG).

Weltweite nationale Evakuierungen und "Ad-Hoc-Allianzen" für Militärinterventionen widersprechen den vom BverfG 1994 geforderten und definierten Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art. 24, Abs. 2 GG). Bundeswehreinsätze "im Einklang" statt "in Übereinstimmung" mit der UN-Charta widersprechen Art. 25 GG. Eine Reihe juristischer Probleme, wie das Verbot der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges (Art. 26 GG), die juristisch nicht codifizierte "Militärische Nothilfe" und die vertragswidrige Entgrenzung von geographischem Operationsbereich, wurden im Scharping-Konzept nicht behandelt.

Ausblick
Die Brisanz des Scharping-Papiers durch seine Gesetzwidrigkeit, seine finanzielle Unseriosität oder die Autorschaft des Militärs für die eigene Reform hat einen politischen Skandal zur Grundlage: die undemokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse der rot-grünen Bundesregierung. In der fundamentalsten Frage der Demokratie, nämlich der Entscheidung über Krieg und Frieden, wurde die Öffentlichkeit weder in die Argumentationen einbezogen, noch wurde ihr Gelegenheit gegeben, die Expertenpapiere zu erörtern. Weder die Bundeswehrkonzepte anderer Parteien noch der Sachverstand externer ExpertInnen fanden im Bundesverteidigungsministerium Beachtung. Das vorliegende "Reformergebnis" ist nicht verwunderlich, wenn man den Apparat seine eigene Zukunft planen lässt. Der unverfrorene Umbau einer "Verteidigungs-" zu einer ungeschminkten Interventionsarmee von 150.000 "Einsatzkräften" (plus 105.000 Soldaten der "militärischen Grundorganisation" und 22.000 Soldaten in Ausbildung) markiert den vorläufigen Höhepunkt einer zehnjährigen "Rückkehr zu deutscher Normalität".

Bei Lichte betrachtet ist die Bundeswehrreform mit den bisherigen Beschlüssen jedoch alles andere als langfristig abgeschlossen.

Erreicht wurde ein parteiübergreifender Konsens von Grünen bis CSU für einen Militarisierungsschub, der, mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff begründet, eine Fortsetzung Naumannscher Interventionskonzepte ist. Erreicht wurde damit zugleich, dass in der Phase ihres geringsten Bedarfs kaum noch über die Notwendigkeit einer Bundeswehr nachgedacht wird.

Nicht erreicht wurde trotz steigender Militärausgaben, den maßlosen Wunschzettel des Militärs in eine langfristig seriöse Finanzplanung zu übertragen.

Damit fällt Scharping seinen eigenen Sachzwang- und Buchungstricks zum Opfer. Schon sehr bald werden sich neue Rechnungen für Großwaffensysteme, Auslandseinsätze und europäische Militärstrukturen auftun. Bald wird das Bundesverfassungsgericht Teile aus Scharpings Konzept herausbrechen. Im Herbst wird die Friedhofsruhe um die Bundeswehr durch die Kommunaldebatte um Standortschließungen gestört werden. Bald wird auch das Verteidigungsministerium erkennen, dass private Dienstleister ihre neuen Versorgungsmonopole nicht zum Vorteil der Bundeswehr nutzen werden. Doch wahrscheinlich müssen erst einige Zinksärge aus dem nächsten Auslandseinsatz zurückkehren, bis das Parlament seine Verantwortung erkennt und zu der Einsicht gelangt, dass die Bundeswehr keine ABM-Maßnahme für die Industrie und einen selbstgefälligen Apparat ist.
 

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Stefan Gose ist Redakteur der "antimilitarismus information" (ami).