Militärdienst

Der Deserteur

von Jens Warburg

Was ist ein Deserteur? Was versteht das Militär darunter, und weshalb gilt die Desertion als ein schwerwiegendes Verbrechen? Hier wie dort wird man sich nicht des Eindrucks erwehren können, dass die Figur des Deserteurs nicht eindeutig zu bestimmen ist. Diese Empfindung verstärkt sich noch, wenn es darum geht, sich dem Deserteur aus seiner Sicht, also der Perspektive der Selbstdeutung zu nähern. Spätestens dann wird deutlich, dass es den Deserteur nicht gab, nicht gibt und wohl auch nicht geben wird.

Nur Soldaten können zu Deserteuren werden. Die Desertion gilt als ein strafbares Delikt, weil sie im engen Zusammenhang mit Rechten steht, die in verschiedenen Gesetzeswerken (1) zu den grundlegenden Menschenrechten gezählt werden, den Soldaten aber versagt bleiben: Das Recht auf körperliche sowie auf geistige Unversehrtheit und das Recht auf persönliche Freiheit. Die Figur des Deserteurs lässt sich im ersten Zugriff einfach bestimmen. Der Deserteur ist ein Soldat, der sich eigenmächtig und dauerhaft dem Dienst entzieht. Von anderen Eigenmächtigkeiten der Soldaten unterscheidet sich die Desertion vor allem dadurch, dass der betreffende Soldat nicht beabsichtigt, wieder seinen Dienst anzutreten. Deserteure sind deshalb auch von Soldaten zu unterscheiden, die lediglich vorübergehend den unmittelbaren Kontroll- und Machtbereich des Militärs verlassen haben, die also nicht zum befohlenen Zeitpunkt in der Kaserne oder auf dem Schiff eintreffen oder unerlaubt ihren Posten verlassen haben. Während die Desertion grundsätzlich als ein Verbrechen gewertet wird, werden solche temporären Abwesenheiten wesentlich milder beurteilt: Sie können als Dienstvergehen aufgefasst werden. Freilich, wie erkennt man, dass sich ein Soldat quasi für immer entschlossen hat, der Truppe fern zu bleiben? Diese Frage ist ein Einfallstor für Interpretationen. In den einzelnen Streitkräften haben sich unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe entwickelt, diese Eigenmächtigkeiten ihrer Soldaten zu bewerten. Auch unterscheiden sich zwischen den einzelnen Streitkräften die Verfahrensregeln zum Teil erheblich. Der Grund für diese Interpretationsvielfalt ist naheliegend. Wenn das Militär den flüchtigen Soldaten ergreift, muss es sich entscheiden, ob es ihm eine der schwerwiegendsten Verfehlung, die das Militär kennt, zur Last legt. Sollte es sich entscheiden, dass es sich bei seinem Handeln nicht lediglich um ein Dienstvergehen handelt, kann es die betreffenden Soldaten nicht mehr mit mehrtägigem Arrest oder Degradierung bestrafen, sondern nur mit Höchststrafen. Deserteuren droht langjährige Haft oder gar der Tod.

Desertion: ein Vertrauensbruch
Der Deserteur entzieht sich dem Militärdienst. Die Desertion gilt als umso schwerwiegender, je mehr sie als eine Gefahr für die Einsatzfähigkeit der Truppe interpretiert wird. Sie wird als ein Vertrauensbruch wahrgenommen und damit als eine Handlung, die jede soziale Beziehung in Frage stellt. Für Institutionen wie Familien stellt ein Vertrauensbruch eine Belastung dar. Für Organisationen wie das Militär bedeutet dagegen ein solcher Vertrauensbruch immer gleich die Infragestellung seiner Handlungsfähigkeit. Dies liegt entscheidend an der Aufgabenstellung des Militärs: Es soll Situationen bewältigen, deren Kennzeichen tödliche Unsicherheit sowie Kontingenz sind, und die permanent die gegebenen Organisationsstrukturen unter Stress setzen. Gewissheit ist folglich im Krieg ein rares Gut, und wenn die SoldatInnen und ihre Vorgesetzten sich einander nicht vertrauen - und das heißt zumindest, dass sie das tun, was ihnen befohlen wurde - dann werden sie im Gefecht nicht gemeinsam kämpfen, sondern fliehen. Deshalb gelten Desertionen als ein Angriff auf die Handlungsfähigkeit der Organisation und werden kategorial mit dem Verrat verbunden. Dies erklärt den hohen Verfolgungsdruck, dem sich Deserteure ausgesetzt sehen. Die Vielzahl negativer Attribute, die auf Deserteure angewendet werden, zeugen obendrein von der großen Wut, die ihre Handlungen sowohl bei ihren vormaligen Kameraden als auch bei ihren Vorgesetzten auslösen können. Da ist von Verrätern, von Kameradenschweinen, von Drückebergern, von Schwächlingen, von Feiglingen und summa summarum von Verbrechern die Rede. Bis vor wenigen Jahren galten auch in der Bundesrepublik solche Charakterisierungen für Deserteure als durchaus angemessen. Erst mit der in den 1980er Jahren einsetzenden historischen Aufarbeitung des Schicksals der Wehrmachts-Deserteure haben sich öffentlich andere Sichtweisen etablieren können. Das ändert freilich nichts daran, dass in anderen Staaten weiterhin die Desertion vor allem unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensbruchs und des Verrats thematisiert wird.

Desertion ist universell
Die Desertion tritt nicht nur bei bestimmten Streitkräften auf und sie ist auch nicht an ihre gegenwärtige Organisationsstruktur gebunden. Das Phänomen der Desertion ist ubiquitär, und der Deserteur ist keine historisch neue Figur. Er trat und tritt vielmehr immer dann auf, wenn es militärischen Verbänden gelang bzw. gelingt, gegenüber seinen Angehörigen als Kontroll- und Disziplinarmacht aufzutreten, die von ihnen auch dann die Ausführung von Befehlen verlangen kann, wenn der betreffende Angehörige nicht bzw. nicht mehr bereit ist, diese auszuführen. Desertionen zeigen die weitgehende Entrechtung der einzelnen Soldaten an. Wie zentral diese Entrechtung ist, zeigt ein Blick in die europäische Militärgeschichte. Noch bis Ende des 16. Jahrhunderts konnten sich Söldner auf kollektive Rechte berufen. Unter Berufung auf diese Rechte schlossen sich die Söldner häufig zusammen und äußerten ihren Unmut gegenüber ihren Kriegsherren, indem sie den weiteren Dienst von der Erfüllung ihrer Forderungen abhängig machten. Meutereien waren damals ein von den Kriegsherren gefürchtetes, endemisches Phänomen unter den Söldnertruppen. Nach einem sich über Jahrzehnte hinziehenden Prozess des Entzugs dieser kollektiven Rechte, der zugleich auch für das Erstarken der Disziplinarmacht der Vorgesetzten steht, meuterten die Soldaten zwar nur noch selten, doch dafür wurden die Desertionen im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert umso häufiger. Für die Flucht aus dem Militär ist die Übermacht der Militärorganisation gegenüber den einzelnen Militärangehörigen verantwortlich, und als Massenphänomen signalisiert sie den Zusammenbruch der Disziplinarmacht. Der Blick auf die Geschichte und auf die Gegenwart lehrt, dass die Neigung zur Desertion unter den Soldaten umso geringer ist, je mehr sie Chancen sehen bzw. die Hoffnung haben, dass innerhalb der Organisation ihr Unmut gegenüber den bestehenden Verhältnissen gehört wird. (2) Wenn den Soldaten obendrein für eine legale Aufkündigung ihres Dienstverhältnisses die Hürden nicht allzu hoch gelegt werden, ist die Desertion weitgehend unbekannt. Wo all dies nicht gegeben ist, bleibt die Desertion ein großes Problem der jeweiligen Militärorganisation.

Beispiel: Eritrea
Eine solche Situation liegt beispielsweise in Eritrea vor, dem Land, aus dem vermutlich derzeit weltweit die meisten Deserteure fliehen. Ende des Jahres 2009 waren über 200.000 eritreische Staatsangehörige von der UN als Flüchtlinge registriert. Damit gehört Eritrea zu den Staaten, aus denen die meisten Flüchtlinge stammen. Flüchtlinge werden von der amtierenden Regierung grundsätzlich als Verräter und Deserteure angesehen. Dass tatsächlich unter ihnen sehr viele Deserteure und Deserteurinnen zu finden sind, dafür ist der sogenannte Nationaldienst verantwortlich. Ihm unterliegen prinzipiell alle Männer und alle Frauen, und aufgrund des seit 2000 herrschenden Ausnahmezustands kann er für Männer sogar unbefristet angeordnet werden. In Eritrea gibt es keine legale Möglichkeit, den Dienst zu verweigern, denn die Regierung sieht es als Pflicht aller Eritreer an, sich bedingungslos den Streitkräften und damit für den möglichen Krieg gegen Äthiopien zur Verfügung zu stellen. Wer versucht, sich dem Dienst zu entziehen, der auch die Möglichkeit einschließt, in den Fabriken der Streitkräfte zu arbeiten, dem drohen Folter und Lagerhaft unter oft tödlichen Bedingungen. (3)

Desertion: Selten eine Gruppenaktion
Wenn man sich dem Phänomen der Desertion aus Sicht der Handelnden nähert, ist abermals als ein gemeinsames Kennzeichen von Deserteuren auszumachen, dass sie sich zur Flucht entschließen, weil sie sich nicht länger der Übermacht der Organisation aussetzen bzw. sich ihr entziehen wollen. Hiermit hören allerdings ihre Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Bereits der Entschluss zur Desertion ist meist ein individueller. Selbst wenn die Desertion ein Massenphänomen ist, basiert sie selten auf kollektiven Absprachen. Wie in der Vergangenheit führen kollektive Absprachen unter Soldaten eher zur Meuterei, also zu Befehlsverweigerungen innerhalb des Militärs. Obwohl sich sehr wohl immer wieder auch einzelne Soldaten mit einem oder weiteren Soldaten zur Desertion entschließen, neigen die einzelnen Deserteure dazu, die Individualität ihrer Entscheidung zu betonen und auf ihre je eigenen Motive hinzuweisen.

Wenn man versucht, etwas zu den Selbstbildern von Deserteuren zu sagen, lässt sich das am ehesten über negative Setzungen leisten, also über die Beschreibung dessen, was Deserteure nicht sind.

Deserteure sehen sich nicht als Märtyrer, sie wollen also durch ihre Flucht kein Zeugnis ablegen. Dies liegt nicht nur daran, dass sie ihre Entscheidung im Verborgenen treffen müssen. Denn auch nach ihrer Flucht bekennen sich die wenigsten Deserteure zu ihrem Handeln. Sie gehen davon aus, dass sie auch dort, wohin sie fliehen, kaum auf Anerkennung für ihre Flucht hoffen dürfen, und ihre Entscheidung mit einem Makel versehen wird. Mehr noch, sie empfinden häufig selber Scham über ihre Flucht. So können sie weiterhin derart mit der militärischen Normenwelt verbunden sein, dass sie ihre Flucht mit Versagensgefühlen verbinden, weil sie ihre Tat als unmännlich auffassen. Basis für diesen Selbstvorwurf bildet das Wissen der Deserteure, die Konfrontation mit der Macht des Militärs gescheut zu haben. Deserteure sehen sich selber äußerst selten als Helden — das lässt sich freilich auch für die allermeisten Soldaten sagen.

Deserteure können Kriegsdienstverweigerer sein, jedoch selten in dem Sinne, wie die Kriegsdienstverweigerung in der deutschen Rechtsprechung definiert wird. Die wenigsten Deserteure fassen ihre Flucht als Folge einer Gewissensentscheidung auf, die ihnen ihre Beteiligung an jedem Krieg verbietet. Deserteure sind also in aller Regel keine Pazifisten, sondern entscheiden sich überwiegend situativ zur Flucht. Deshalb müssen sie ihren Vorgesetzten vor ihrer Flucht auch nicht als schlechte Soldaten aufgefallen sein. Deserteure lehnen nicht unbedingt das Militär in toto und das Führen von Kriegen ab. Dies wird nicht zuletzt an der Figur des Überläufers deutlich, der ja zugleich ein Deserteur ist. In diesen Fällen endet mit der Desertion nicht ihr militärisches Engagement, sondern es wird faktisch in den Reihen des vormaligen Gegners fortgesetzt.

Deserteure können sich nach ihrer Flucht weiterhin mit ihren ehemaligen Kameraden verbunden fühlen. Sie entwerten nicht unbedingt ihre vormaligen Kameraden, sondern im Mittelpunkt ihrer Kritik stehen in diesen Fällen die jeweiligen politischen und militärischen Führungen. Aus ihrer Perspektive sind hier die Verantwortlichen für ihre Flucht zu finden.

Wenn Deserteure dem Machtbereich des sie verfolgenden Militärs entkommen sind, treten sie selten als Akteure gemeinsam auf. Die höchst unterschiedlichen und mitunter auch schambesetzten Motive, die sie zur Flucht getrieben haben, erschweren solche Zusammenschlüsse. Wenn sich Deserteure in Gruppen zusammenfinden, dann überwiegend vor dem Hintergrund, dass sie sich, wie beispielsweise die Deserteure der Wehrmacht, diskriminiert fühlen. Auch der anhaltende Verfolgungsdruck, wie ihn derzeit US-amerikanische Deserteure in Kanada spüren, begünstigt, dass sie sich gemeinsam treffen und ihr Anliegen öffentlich vertreten, zumal sie sich dem Zwang ausgesetzt sehen, dass sie ihr Handeln gegenüber denjenigen legitimieren müssen, bei denen sie Aufnahme gefunden haben. Solchen Zusammenschlüssen gehen gemeinsame Reflexionen voraus und können zu einer Vereinheitlichung ihrer Kritik am jeweiligen Militär und Krieg führen, die es zum Zeitpunkt ihrer Flucht so nicht gegeben haben muss. Nahmen sich zuvor die Deserteure vorwiegend als Getriebene wahr, können sie sich nun möglicherweise selber in der Figur des Deserteurs positiv anerkennen. (4)

Erst in diesem Fall ist der Deserteur mehr als nur das Ergebnis einer Fremddeutung, die sich aus einem bestimmten, als Fehlverhalten interpretierten Handeln von Soldaten, ergibt. Für diese Deserteure wird dann ihre Flucht ein Teil ihres Selbstbildes, in dem sich ihr Protest gegen zumindest einen bestimmten Krieg und gegen als ungerecht empfundene Verhältnisse beim Militär ausdrückt.

 

Fußnoten
1 So wird im Artikel 3 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UN von 1948, postuliert: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ (Siehe www.un.org/Depts/german/grunddok/ar217a3.html, Zugriff 22.8.11). Eine ähnliche Aussage wird in Artikel 2 des Grundgesetzes formuliert (siehe www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html, Zugriff 22.8.11). Und im Artikel 11-63 der „Charta der Grundrechte der Union“ ist zu lesen: „Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit.“ (Siehe http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2004:310:0041:0054:DE:PDF, Zugriff: 22.8.11)

2 Zur Geschichte der Desertion siehe: Bröckling, Ulrich/Sikora, Michael (Hrsg.) (1998): Armeen und ihre Deserteure. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

3 Detaillierte Angaben zur Situation in Eritrea und den Deserteuren sind zu finden in Connection e.V., Förderverein Pro Asyl, Eritreische Antimilitaristische Initiative (Hrsg.) (2010): Eritrea. Desertion, Flucht und Asyl. Offenbach.

4 Ein solcher Prozess wird beispielsweise beschrieben in Key, Joshua (2007): Ich bin ein Deserteur. Hamburg: Hoffmann und Campe.

 

Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in: Connection e.V. und Pro Asyl (Hrsg.): Broschüre "Kriegsdienstverweigerung und Asyl", Juli 2014.

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