Beihilfe für Fluchtverursacher

Der deutsch-türkische Flüchtlingsdeal

von Sevim Dagdelen
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Durch den Flüchtlingsdeal mit der Türkei haben sich die Bundesregierung und EU erpressbar gemacht. Autokrat Erdogan wird mit Waffenlieferungen und Wegschauen beim Völkerrechtsbruch belohnt.
Das völlig überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist am 9. September 2020 in Flammen aufgegangen. Die Katastrophe war absehbar und kalkuliert. Das Lager war bei einer Kapazität von 3.000 Menschen mit mehr als 12.000 Menschen heillos überbelegt. Es herrschten unhaltbare Zustände, für die Geflüchteten wie für die einheimische Bevölkerung. Der Brand kann nur als Fanal einer vollkommen gescheiterten Politik der Europäischen Union in der Folge des Flüchtlingspakts mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan gesehen werden, in deren Folge Migrant*innen in „Hotspots“ genannten Lagern ohne jede Perspektive interniert worden sind und die türkische Regierung „Carte Blanche“ für Völkerrechtsbruch erhalten hat.

Der im März 2016 auf Initiative der Bundesregierung mit der Türkei vereinbarte schäbige Deal sieht vor, dass die EU auf griechischen Inseln angekommene Migrant*innen zurück in die Türkei bringen kann, wenn diese kein Asyl erhalten. Im Gegenzug hat sich die EU unter anderem zur finanziellen Unterstützung der Türkei bei der Flüchtlingsunterbringung und zur legalen Aufnahme syrischer Geflüchteter direkt aus der Türkei verpflichtet. Sechs Milliarden Euro hat Erdogan von der EU dafür erhalten, den Türsteher bei der Flüchtlingsabwehr zu geben. Bundesregierung und EU werten den Pakt als Erfolg, weil die Zahl der Migrant*innen auf der lebensgefährlichen Mittelmeerüberfahrt von der Türkei nach Griechenland deutlich zurückgegangen ist. Die Zahl der Geflüchteten selbst hat sich freilich nicht verändert, sie sind nur außer Sicht geschafft worden.

Mit Erdogan hat die EU den Bock zum Gärtner gemacht. Ausgerechnet der Problemverursacher Nummer eins im Mittelmeerraum wurde zum Problemlöser deklariert. Schon 2018 hat der Europäische Rechnungshof die Intransparenz und Ineffizienz der Verwendung der EU-Gelder kritisiert, die der Türkei für die Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen und den Ausbau der kommunalen Infrastruktur im Rahmen des Abkommens gezahlt werden. 

Der türkische Präsident versucht mit den Flüchtlingen als Faustpfand in der Hand nicht nur immer neues Geld von der EU zu erpressen, er hat sich vor allem auch Stillschweigen erkauft für seine aggressive neo-osmanische Außenpolitik. Vier Male ist die türkische Armee seit Abschluss des EU-Flüchtlingsdeals illegal im Norden Syriens an der Seite islamistischer Al-Qaida-Verbündeter einmarschiert. Auf die Offensive „Schutzschild Euphrat“ 2016/2017 folgten im Oktober 2017 der Vormarsch auf Idlib und Aleppo, 2018 die Invasion in der Region Afrin und im Oktober 2019 die zynisch „Operation Friedensquelle“ genannte Errichtung eines Besatzungsregimes im Grenzgebiet, das bis heute anhält. 

Die militärischen Angriffe der türkischen Armee an der Seite islamistischer Söldnergruppen der sogenannten Freien Syrischen Armee stellen einen eklatanten Bruch des Völkerrechts dar. Das NATO-Mitglied Türkei zielt auf die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung, der Jesid*innen und Christ*innen ab und will in seiner Besatzungszone Millionen arabisch-syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln. Diese anderenorts „ethnische Säuberung“ genannte Praxis ist völkerrechtswidrig – bleibt für den EU-Flüchtlingspaktpartner Türkei aber folgenlos. Nach erster Kritik aus der Europäischen Union an seinem Vorgehen hat Erdogan unverhohlen vor einem Jahr gedroht: „Hey EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen.“

Spätestens da hätte jedem klar sein müssen, wie verheerend der EU-Türkei-Deal aus dem Jahr 2016 politisch ist und welch enormes Erpressungspotential er hat. Nichts ist passiert. In diesem Frühjahr hat Erdogan für dramatische Bilder verzweifelter Flüchtlinge an der Grenze zu Griechenland gesorgt und weitere Gelder von der EU bekommen. Auch den Aufbau von Siedlungen in den in Syrien besetzten Gebieten lässt sich der Autokrat finanzieren.

Was sich verändern muss
Die EU und die Bundesregierung sehen lieber weiter bei der Destabilisierung der Region durch Erdogan zu, statt die Ursachen von Flucht zu bekämpfen, indem die Lebensperspektiven in Syrien selbst verbessert werden, etwa durch die Aufhebung der EU-Wirtschaftssanktionen, die den Wiederaufbau des Landes blockieren. Die Sanktionen verhindern, dass Menschen Medikamente erhalten, sie lassen Lebensmittelpreise explodieren, verhindern die Einfuhr von Baustoffen und verarmen die Bevölkerung.

Die Sanktionen müssen beendet werden, zumal sie ihr deklariertes Ziel, den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad zum Rücktritt zu zwingen, komplett verfehlt haben. Der durch das Embargo verursachte systematische Kollaps der syrischen Infrastruktur und Wirtschaft verstärkt die Armut und Arbeitslosigkeit, erschwert eine Friedenslösung, begünstigt islamistische Banden mit der Entstehung einer Kriegsökonomie und stärkt auch die Macht der Regierung. Notwendig ist die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Syrien, die 2012 fatalerweise abgebrochen worden sind. Diplomatische Beziehungen stellen in der Außenpolitik einen zivilisatorischen Fortschritt dar und müssen von der Friedensbewegung verteidigt werden. Der seit neun Jahren andauernde Regime-Change-Krieg in Syrien ist für den Westen, die Golfdiktaturen und die Türkei militärisch verloren. Es wird Zeit, dies endlich einzugestehen und entsprechend zu handeln – und Präsident Erdogan nicht länger mit Waffenlieferungen und Finanzhilfen zu hofieren, weil er Flüchtlinge von der EU fernhält.

Rüstungsexporte
Mit den Rüstungsexporten werden immer neue Fluchtursachen geschaffen. Die Türkei lag bei den Ausfuhren von Kriegswaffen deutscher Rüstungskonzerne in den vergangenen beiden Jahren mit einem Volumen von zusammen 587,4 Millionen Euro in der Rangliste der wichtigsten Empfängerländer auf Platz eins. Die Bundesregierung betont, dass es zuletzt ja ausschließlich Güter für den „maritimen Bereich“ ging. Das mit Abstand größte laufende Rüstungsprojekt ist in dem Bereich der Bau von sechs U-Booten der Klasse 214, die in der Türkei unter maßgeblicher Beteiligung des Konzerns ThyssenKrupp Marine Systems montiert werden. Das heißt allerdings konkret, die Bundesregierung rüstet die türkische Kriegsmarine auf, während Erdogan im Mittelmeer den EU-Mitgliedern Zypern und Griechenland im Streit um Erdgasressourcen unverhohlen mit Krieg droht.

Die Bundesregierung lässt auch zu, dass der Airbus-Konzern die Türkei bis heute bei der Wartung von Militärmaschinen des Typs A400M auf der Luftwaffenbasis im anatolischen Kayseri unterstützt, obwohl diese Flugzeuge regelmäßig in das Bürgerkriegsland Libyen fliegen und nachweislich dorthin islamistische Söldner aus Syrien wie auch Waffen transportieren – und damit das UN-Waffenembargo gegen Libyen brechen. Bereits im Dezember 2019 hatte ein Expertenbericht für den UN-Sicherheitsrat festgestellt, dass die Türkei zu den Ländern zählt, die trotz des Embargos regelmäßig Rüstungsgerät in das Bürgerkriegsland bringen.

Und auch für den Aufbau der türkischen Kampfdrohnenflotte trägt die Bundesregierung mit Verantwortung. Deutsche Unternehmen haben sich mit Bauteilen und Ausrüstung für 12,8 Millionen Euro am Aufbau von den in Syrien, in Libyen und im Irak eingesetzten Kampfdrohnen Ankaras beteiligt. Von 2009 bis 2018 erteilte die Bundesregierung insgesamt 33 Genehmigungen für die Lieferung von Gütern an den NATO-Partner, „die zur Verwendung oder zum Einbau in militärische Drohnen bestimmt oder geeignet waren“, wie die Bundesregierung auf meine Anfrage erklärt hat.
Mit ihren Rüstungsexporten an eine kriegslüsterne Türkei schafft die Bundesregierung letztlich immer neuer Fluchtursachen. Sie macht damit absurderweise genau das Gegenteil dessen, wofür der Flüchtlingsdeal mit Erdogan offiziell geschlossen wurde.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Sevim Dagdelen ist abrüstungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Obfrau im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages sowie Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe.