Irak: Staatszerfall, Elend und Barbarei

Der Fluch des Regime Changes von 2003

von Werner Ruf

Mit der Lüge von den irakischen Massenvernichtungswaffen, die US-Außenminister Powell ungerührt vor dem UN-Sicherheitsrat vorgetragen hatte, begründeten die USA 2003 ihren Krieg gegen den Irak. Ihr Ziel war, den Diktator Saddam Hussein zu stürzen und die irakischen Ölfelder für den Zugriff der internationalen Ölkonzerne freizukämpfen. Die Kontrolle über den Staat wurde auf die Schiiten unter dem Ministerpräsidenten Maliki übertragen in der simplistischen Annahme, dass hierdurch die Säuberung von Armee und Verwaltung von Anhängern des Baath-Regimes gesichert sei.

In Wirklichkeit wurde so die Konfessionszugehörigkeit, nicht aber Kompetenz zum Kriterium des Zugangs zu (bzw. des Ausschlusses von) Pfründen gemacht: Begehrte Posten in Armee und Sicherheitsapparat konnten nur von Anhängern Malikis gekauft werden, die einst professionelle Armee wurde zu einem Sammelbecken von Opportunisten und Günstlingen. So war es kein Zufall, dass während des Angriffs des „Islamischen Staats“ (IS) auf Mossul die beiden Oberkommandierenden als erste flohen, die Armee ihnen in Auflösung folgte. (1) Die Gräueltaten der Banditen, die diese drei Jahre lang unbeachtet in Syrien begingen, fanden nun ein großes Echo in den westlichen Medien.

Mit dem Erscheinen des „Islamischen Staat“ tritt eine neue Art von nicht- oder prä-staatlichen Gewaltakteuren auf den Plan. Es ist nicht der Schrecken, den die Bande verbreitet, der in unseren professionellen Sicherheitskreisen Nervosität verursacht, sondern das Erscheinen einer zwar brutalen und zugleich aber disziplinierten, hierarchisch aufgebauten Truppe, die eigenständig und unabhängig von fernen Auftraggebern effizient agiert. Bedrohlich wird in diesen Kreisen auch nicht die brutale Durchsetzung einer scheinbar gottgewollten reaktionären Ordnung gesehen. Diese besteht längst anderswo und wird vom Westen unterstützt, beispielsweise in Saudi-Arabien, wo wöchentlich auf öffentlichen Plätzen Menschen die Köpfe abgehackt werden. Denn: Saudi-Arabien ist ein umworbener Kunde beim Waffenexport und „einer der wichtigsten Anker der Stabilität in der Region“, wie Westerwelle und de Maizière unisono im vorigen Kabinett betonten.

Bedrohlich ist tatsächlich die Entstehung eines neuen Staates und seine sich herausbildende territoriale Form. Mit dem Auftreten des IS und der Proklamation eines Kalifats durch den selbsternannten Kalifen mit dem Kriegsnamen Abu Bakr al Bagdadi ist das Chaos im Mittleren Osten in eine qualitativ neue Phase getreten: Im Gegensatz zu al Qaeda, die sich dem Kampf gegen „den Westen“ verschworen hat, erhebt „Kalif Ibrahim“ erstmals den Anspruch auf Territorialität und eine Staatlichkeit, die Syrien, den Libanon und wesentliche Gebiete des Irak umfassen soll. Mit seinem Kriegsnamen knüpft der „Kalif“ an den ersten rechtgeleiteten Kalifen und Nachfolger des Propheten an. Mit „al Baghdadi“ verweist der nicht in Bagdad, sondern in Samarra geborene Djihadist auf das Abassidenreich, das die Stadt Bagdad 762 gegründet hatte. In den von ihm kontrollierten Gebieten in Syrien und Irak hat sich IS eine territoriale Basis geschaffen, die erstmals konkret die bestehende territoriale Ordnung des Nahen und Mittleren Ostens infrage stellt.

Dieses „Kalifat“ könnte 100 Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs der Ordnung von Sèvres, die auf dem britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 basierte, endgültig den Todesstoß versetzen: Im Pariser Vorort Sèvres war 1920 das Osmanische Reich von den Siegermächten aufgeteilt worden. Die imperialistischen Großmächte hatten damals jene bis heute gültigen Grenzen gezogen und Regime installiert (oder gestürzt), wie dies ihren Interessen oder momentanen politischen Zielsetzungen entsprach, keinesfalls aber bildeten die Grenzen von Sèvres die ethnischen oder religiös-kulturellen Gegebenheiten der Region ab. All dies und nicht nur die damals ungelöste Kurdenfrage und das Palästinaproblem kommen nun wieder auf die politische Tagesordnung. Der regime change im Irak und der seit drei Jahren mittels bewaffneter Subunternehmer betriebene regime change in Syrien erweisen sich als ein Sprengsatz, der nun unmittelbar seine Erfinder zu bedrohen scheint.

Wer ist der „Islamische Staat“?
Diese sich „Islamischer Staat“ nennende Bande hat es geschafft, ihre Eigenfinanzierung auf ein Niveau zu bringen, das sie von staatlichen und parastaatlichen Akteuren (vor allem am Golf) weitestgehend unabhängig gemacht hat. Der IS verfügt über gewaltige Finanzmittel. Auch zahlt IS anscheinend wesentlich mehr Sold als die anderen Terrorgruppen, was viele Kämpfer motiviert, zu ihr überzulaufen. So schwanken die Angaben über den Sold zwischen 800 $/Monat und 300 $/Tag. Gewaltig sind auch die Handgelder, die bei der Anwerbung von Kämpfern gezahlt werden: Vor zwei Jahren lagen diese in Tunesien zwischen 6.000 und 10.000 $. Auch die Beerdigungskosten für „Märtyrer“ werden übernommen. Es geht also nicht um Religion, sondern um Geld.

Die Einnahmen von IS werden auf zwei Mio. US-$/Tag geschätzt. (2) Wie bei jeder anderen dieser terroristischen Organisationen stammen die selbst generierten Einnahmen aus „Steuern“ (insbesondere Kopfsteuern von nicht sunnitischen Personen, Wegezöllen an Straßensperren …), Schutzgelderpressungen, Entführungen und Lösegeldern. Allein diese Einnahmen werden auf jährlich 10 Mio. US-$ geschätzt. Hinzu kommen im Falle des IS Banküberfälle in großem Stil und die Plünderung der archäologischen Schätze des Irak (Museen, Ausgrabungsstätten, Kirchen). (3) Als weitere Finanzquelle des IS kommt hinzu der Verkauf von Öl aus Syrien und dem Nordirak: IS kontrolliert sieben Ölfelder und zwei Raffinerien im Nordirak und sechs der zehn Ölfelder in Ostsyrien. Über „türkische Mittelsmänner“ wird das Öl vermarktet, etwa zum halben Preis der Börsennotierungen.

Spätestens hier zeigt sich, dass diese Praktiken offensichtlich vom Westen toleriert werden: Die im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise gegen Russland verhängten Sanktionen illustrieren, wie präzise und teilweise auf Personen bezogen solche Sanktionen ausgesprochen und auch durchgesetzt werden können, wenn der politische Wille vorhanden ist. Gegenüber „türkischen Mittelmännern“ aber scheint unsere Politik hilflos, obwohl gerade solche Sanktionen und Boykottmaßnahmen Wirksamkeit besäßen, wenn man den Terrorismus an seinen Wurzeln bekämpfen wollte.

Aufgrund seiner gewaltigen Finanzierungsquellen konnte sich der IS von seinen ausländischen Geldgebern (meist auf der arabischen Halbinsel) unabhängig machen: Ähnlich wie die Taliban, die noch während des Krieges gegen die Sowjetunion in Afghanistan von den Saudis finanziert und von der CIA ausgebildet wurden, emanzipiert sich zumindest diese Bande von ihren Förderern und Auftraggebern, arbeitet (= mordet) und regiert auf eigene Rechnung. Im Irak hat es IS geschafft, ein Minimum an funktionierender Staatlichkeit wieder herzustellen: Viele Menschen haben wieder Zugang zu einer einigermaßen funktionierenden Wasser- und Energieversorgung, die medizinische Infrastruktur verbessert sich. (4) Dies gilt vor allem für die sunnitischen Gebiete, die von der Maliki-Regierung systematisch benachteiligt wurden. Diese Situation hatte bereits lange vor Erscheinen des IS zu lokalen Aufständen geführt: IS erscheint dort als Befreier und vermag es, Sicherheit zu schaffen. Dies sorgt zumindest bei Teilen der (sunnitischen) Bevölkerung für Akzeptanz.

Perspektiven
Es erscheint wie ein Fluch: Überall, wo der Westen militärisch (und in der Regel völkerrechtswidrig) intervenierte, gelang es zwar, Diktatoren von der Macht zu vertreiben,  die bestehende Staatlichkeit aber wurde zerstört. die multikonfessionellen und multiethnischen Gesellschaften des Nahen Ostens versinken in Chaos und Barbarei – in Afghanistan, Irak, Libyen, wo inzwischen Banden und Milizen stellvertretend oder auf eigene Rechnung kämpfen und Religionszugehörigkeit zum neuen identitären Konzept machen. Der „Islamische Staat“ schreitet derzeit von Erfolg zu Erfolg: Trotz massiver Bombardements ist er weiter auf dem Vormarsch. Die Zahl seiner Kämpfer steigt weiter. In der arabischen Welt wächst die Unterstützung durch Terrorgruppen, die sich ihm in Algerien, Libyen, Jemen anschließen. Der vom Westen initiierte Zerfall von Staaten impliziert nicht nur das Ende der „Ordnung“ von Sèvres. Die Übertragung des fatalen Huntington’schen Paradigmas vom „Kampf der Kulturen“ auf die politische Landschaft des Nahen und Mittleren Ostens droht die gesamte Region in ein Chaos zu stürzen, in dem die Religion als neue staatsbildende Ideologie für Jahrzehnte zu blutigen Auseinandersetzungen, Vertreibungen ja Völkermord führen kann. Der Krieg gegen den Irak und die zur „Neuordnung“ des Landes (und seiner Nachbarregionen) benutzten Parameter haben eine Lawine losgetreten, deren verheerende Folgen mit militärischer Gewalt nicht bewältigt werden können. Für die notwendigen politischen Lösungen werden durch die Politik des Westens und ihre sich täglich ändernde Unterstützung für wechselnde Milizen und Akteure die erforderlichen Partner bald gänzlich beseitigt sein. Gesichert werden kann allerdings bisher und wohl auch weiterhin der Zufluss von Öl und Gas, der den Gewaltakteuren den Erwerb von Waffen jeder Art ermöglicht.

 

Anmerkungen
1 Dodge, Toby: Can Irak be saved? In: Survival vol 56, 5/2915, S. 7 – 19.

2 http://www.faz.net/aktuell/finanzen/devisen-rohstoffe/islamischer-staat Frankfurter Allgemeine Finanzen, 29. Aug. 2014 [29-08-14]. Die dort genannten Daten stammen sowohl aus Geheimdienstquellen wie von einschlägigen Think Tank

3 Leukefeld, Karin: Unterwegs zum Kalifat. In: Neues Deutschland, 12-09-14, S. 2

4 Im Vorgarten des Terrors. SZ, 14. Nov. 2014, http://www.sueddeutsche.de/politik/islamischer-staat-im-vorgarten-des-te... (15-11-14].

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Schwerpunkt
Werner Ruf, geb. 1937, promovierte 1967 im Fach Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. Er lehrte an den Universitäten Freiburg, New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Essen, und war von 1982 bis 2003 Professor für internationale Beziehungen an der Universität Kassel.