Zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit

Der Islam in Afrika

von Jean-Louis Triaud
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Das Bild des afrikanischen Islam ist sehr vielfältig. Er ist weit davon ent­fernt, eine einfache Projektion des arabischen Islam zu sein. Einhun­dertzwanzig Millionen MuslimInnen leben südlich der Sahara - ein Ach­tel der gesamten islamischen Welt.

Die Anfänge des Islam in Schwarz­afrika

Der Islam in Afrika stellt keine Einheit dar. Auch hat er kein eigenes Zentrum, da sein symbolisches Zentrum an den heiligen Stätten des Islams in Arabien liegt. Die Pilgerwelle erinnert jedes Jahr daran. Jahrhundertelang war der schwarzafrikanische Islam ein Phäno­men der Grenzgebiete: Seine Geogra­phie zeigt einen Gürtel von Ozean zu Ozean und das gesamte Gebiet am indi­schen Ozean. Der Islam breitete sich dort aus, wo die Karawanen und Schiffe der arabischen und persischen Welt an­kamen. Außerhalb ihres Einflussgebietes blieb Afrika undurchdringbar für islami­sche Einflüsse. Heute ist nur ein Afrika­ner von dreien südlich der Sahara Mus­lim, und ganze Regionen des Konti­nents, im Zentrum und im Süden, blie­ben unbeeinflusst.

Die islamische Präsenz südlich der Sa­hara ist im Wesentlichen kein direktes Ergebnis einer arabischen oder türki­schen Eroberung. Im Unterschied zu In­dien oder Zentralasien, wo muslimische Truppen sich den Zugang erkämpften, war das Vordringen des Islam im Süden der Sahara fast ausschließlich die Frucht wirtschaftlicher Kontakte. Daher blieb der Islam auch, anders als gewöhnlich, in diesen Regionen ein Minderheiten-Phänomen. Über Jahrhunderte hinweg lebten Muslime und Nicht-Muslime ziemlich friedlich nebeneinander. Er­stere, hauptsächlich Händler, waren vor allem daran interessiert, ihre Geschäfte zu machen.

Ab dem 17. und 18. Jahrhundert ver­schlechterte sich dieses ruhige Zusam­menleben in bestimmten Regionen: Muslimische Gebildete, deren Zahl zu­nahm, strebten nach der Schaffung is­lamischer Staaten.  Einige von ihnen, besonders die Peuls, die sich als die "Araber" Schwarzafrikas verstanden, riefen Bewegungen des "Heiligen Kriegs" aus. So wurde 1804 in Nord-Nigeria ein großes islamisches Reich, das Kalifat von Sokoto, gegründet, das mehr als einhundert Jahre dauerte und dessen Erinnerung immer noch lebendig ist. Ein halbes Jahrhundert später ver­suchte El Hadj Omar, zum Preis blutiger Repressionen, das gleiche Modell in Mali anzuwenden.

Gewaltsame und gewaltlose Metho­den

In seiner gesamten Geschichte ist der schwarzafrikanische Islam so zwischen diesen beiden Polen hin- und hergeris­sen worden: dem friedlichen und ver­träglichen Einsickern und der militanten Verkündung. Ab dem 18. Jahrhundert kennzeichnen zwei neue Phänomene den afrikanischen Islam: die Entwick­lung von Sufi-Brüderschaften und die koloniale Eroberung. In beiden Fällen wiederholt sich die gleiche Ambiguität. Entgegen den üblichen Vorstellungen sind die Sufi-Brüderschaften nicht von Natur aus pazifistisch. Sie sind, was die Umstände und die Umgebung aus ihnen machen. Sie haben das Verdienst, den einfachen Bauern eine leichter zugäng­liche Frömmigkeit anzubieten: ihre shaikh sind dafür bekannt, Wunder zu verrichten, zu heilen, Träume zu deuten. Dadurch trugen sie zu einer großen Ausbreitung des Islam außerhalb der Städte bei. Aber sie können, wie in dem Fall des erwähnten El Hadj Omar, die Kader eines Heiligen Krieges stellen.

Die koloniale Eroberung, beispiellose Gewalt auf dem gesamten Kontinent, rief ihrerseits verschiedene Reaktionen hervor. In der ersten Zeit, an der Grenze zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhun­dert, leisteten die muslimischen (wie die nicht-muslimischen) Kulturen und Ge­sellschaften im Saharagürtel, Tschad, Sudan, Somalia bewaffneten Wider­stand. Nach dem Versagen der kriegeri­schen Strategien hat ein Teil der musli­mischen Gelehrten sich an die neuen Machtverhältnisse angepaßt. Einmal wieder fand sich der afrikanische Islam in einer politischen Minderheitenposi­tion, diesmal nicht unter afrikanischen Chefs, sondern unter der Verwaltung von "Ungläubigen" - eine völlig unnor­male Situation aus der Sicht des islami­schen Rechts, die für einen solchen Fall die Emigration empfiehlt. Dennoch ge­schah es unter diesem Ausnahmezu­stand, daß der Islam in den Sahelländern endlich, nach sechs Jahrhunderten der Anwesenheit, einen zahlenmäßigen Sprung machte und zur Religion der Mehrheit wurde. Er scheint jetzt als Zu­flucht, als Mittel, der kolonialen kul­turellen Vergewaltigung zu entkommen und Grundwerte zu retten. Gegenüber dem Christentum, das im Kielwasser der Kolonialmächte gekommen ist, er­scheint der Islam hier als, eine afrikani­sche Religion. Seine Kader sind aus­schließlich afrikanisch, und, zumindest in einigen Punkten (Polygamie, Respekt gegenüber den Älteren, Großfamilien), sind seine Werte den traditionellen afri­kanischen näher. Auch zeigen sich die muslimischen Prediger im Unterschied zu den christlichen Missionaren viel subtiler bei Fragen des Glaubensüber­tritts, sich in der ersten Zeit auf mini­male Gesten beschränkend. Der gesell­schaftliche Wandel und die Verstädte­rung tragen zum Niedergang der alten Religionen, die an ein bestimmtes Ge­biet geknüpft sind, bei und fördern die Verbreitung universalistischer Religio­nen wie den Islam (oder, in anderen Teilen des Kontinents, das Christen­tum). Zum Zeitpunkt der Unabhängig­keit, ab Anfang der sechziger Jahre, geht der Islam, der einen Kompromiss mit den Kolonialmächten gewählt hatte, intakt und gestärkt aus dieser großen Prüfung hervor.

Die Konfrontation mit der Neuzeit

Die Konfrontation mit der Neuzeit stellt eine neue Prüfung dar. Wie in anderen Kontinenten, fördert der schnelle Über­gang von agrarischen zu technologi­sierten Gesellschaften, zusammen mit einem außergewöhnlichen Bevölke­rungswachstum, den Aufstieg von reli­giösen Heilsbewegungen. Der Zugewinn an Bedeutung des afrikanischen Islam geht daher einher mit dem von christli­chen oder neo-christlichen Kirchen oder anderen Sekten. Aber wiederum sind die Muslims mit unterschiedlichen Wegen konfrontiert, Formen eines militanten politischen Islamismus oder eines pieti­stischen und gemeinschaftsorientierten Refugiums. Auf der einen Seite haben wir Nigeria, wo in den achtziger Jahren eine militante Bewegung im Norden entstand oder den Sudan, wo die Islami­sten der Islamischen Nationalfront aus ihrem Land mit der Unterstützung der militärischen Hierarchie ein fundamen­talistisches Laboratorium gemacht ha­ben. Auf der anderen Seite gibt es Gruppen und Vereinigungen aller Schulen, die in städtischen Bezirken, um spontane Moscheen herum, die sozialen Bande wiederknüpfen, die durch die Landflucht und die ökonomische Krise zerrissen worden sind. Die einen wollen revolutionäre Gewalt anwenden, die an­deren im Gegenteil sich vor der Gewalt der Welt schützen.

Die islamische Utopie kann daher, in all ihren Formen, in eine schöne Zukunft südlich der Sahara blicken. Dabei wird sie unterstützt durch die Verstärkung der Beziehungen mit der arabischen Welt. Drei Länder spielen dabei eine Vorrei­terrolle. Neben dem Sudan sind dies Ni­geria und der Senegal, Sitz der jungen Vereinigung der Organisation der Isla­mischen Konferenz. In jedem dieser Länder sind die Verhältnisse unter­schiedlich. In Nigeria müssen die Mus­lime aus dem Norden und Westen mit etwa zahlenmäßig gleich starken Chri­sten und Anhängern traditioneller Reli­gionen zusammenleben. Trotzdem ver­suchen bestimmte Gruppen von Akti­visten, dem ganzen Land ihre Konzep­tion eines islamischen Staates auf­zuzwingen. Im Senegal sind die Mus­lims in der großen Mehrheit, aber der Aktivismus von islamistischen Gruppen wird ausgeglichen durch das beachtliche Gewicht der Bruderschaften.

Ein originärer Islam

Der Islam Schwarzafrikas ist keine ein­fache Projektion des arabischen Islam. Er ist das Produkt einer eigenen Ge­schichte mit Wurzeln in einer fernen Vergangenheit. Die Erfahrung des Zu­sammenlebens und der Situation als Minderheit, das Fehlen großer Kon­frontationen mit anderen Monotheismen (außer in Äthiopien) hat ihm eine grö­ßere Flexibilität verliehen. Er stellt sich heute als eine Kraft der Integration dar: vor zwei Jahrhunderten ernannten sich die Führer des Jihad zu Anklägern des afrikanischen "Fetischismus", heute prä­sentieren ihre Erben den Islam als eine überlegene Religon, die ohne Bruch die lange Entwicklungsgeschichte afrikani­scher Glaubensrichtungen krönt. Die ge­samte symbolische Gewalt richtet sich gegen das Äußere, gegen die west­lichen Werte, die als entfremdend ange­sehen werden, speziell den Säkularis­mus. Eine Gesellschaft, die nicht ihren Platz in re­ligiösen Legitimationen sucht, ist in dem Augen vieler Muslims, nicht nur von Islamisten, die Mutter aller Sünden, die speziell dem Okzident vor­geworfen werden. Dies ist der Grund, warum wie im Senegal die Einführung eines auf westlichem Recht basierenden Familien­rechts in der Praxis gescheitert ist. Überall ist das islamische Recht hoch­geschätzt und mythifiziert: Dieser mit­telalterliche Rechtskodex, der einen be­stimmten Zeitpunkt in der Rechtsge­schichte der islamischen Welt repräsen­tiert, ist, in den Augen der militantesten Revolutionäre wie auch Pietisten, eine geheiligte Sicherung gegen die Übel des Jahrhunderts.

Aber auf einem Kontinent, der die größten von außen verursachten Ge­walttaten erlebte - den Sklavenhandel und die koloniale Eroberung - stellt der Islam südlich der Sahara ein Erbe und ein positives Kapital dar, ein Zeichen der Kommunikation und des freien Austausches mit anderen Gegenden der Welt. Von daher bietet der afrikanische Islam ein - letztlich recht seltenes - Bei­spiel für einen Monotheismus, der sich in ein neues geographisches Gebiet aus­dehnt und dabei meistens gewaltlose Wege beschreitet.

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Jean-Louis Triaud ist Afrikanist und Islamwissenschaftler. Er lehrt an der Universität Paris VII .