Rückblick

Der Jugoslawienkrieg vor zwölf Jahren

von Kurt Gritsch

Als die NATO am 24. März 1999 mit der Bombardierung Jugoslawiens begann, stellte dies eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte dar: Die sich seit der ‚Rom-Erklärung’ im November 1991 herauskristallisierende Möglichkeit zu Out-of-Area-Einsätzenwurde mit rund 35.000 Luftangriffen als ‚humanitäre Intervention’ ohne UNO-Mandat zur militärischen und politischen Realität. Angesichts eines absehbaren russischen oder chinesischen Vetos im Sicherheitsrat berief man sich auf das Prinzip der ‚humanitären Intervention’ und gab an, die Kosovo-Albaner vor dem drohenden Völkermord durch Serbien zu schützen. Die dafür verwendete Bomben-Strategie konnte indes nicht verhindern, dass bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn Hunderttausende im Kosovo auf der Flucht waren. Die NATO gab sich, von dieser Kritik unbeeindruckt, im April 1999 zu ihrem 50. Geburtstag in Washington ein neues strategisches Konzept, dessen Handlungsspielraum prinzipiell global ist. Wie war es dazu gekommen?

Vor der Matrix westlicher Berichterstattung des ‚Bosnien-Krieges’, die in serbische Aggressoren und bosnisch-muslimische Opfer unterteilt hatte, wurde im ‚Westen’ der seit Anfang 1998 eskalierende Konflikt zwischen der UCK und serbischen Antiterroreinheiten im Kosovo zunehmend als Fortsetzung serbischer Vertreibungspolitik interpretiert. „Es ist die gleiche Szenerie wie in Bosnien. Die Schlussfolgerung ist naheliegend: Die Albaner der Gegend sind überzeugt, dass die Belgrader Regierung im Kosovo erneut mit einer ‚ethnischen Säuberung’ begonnen hat.“ (Andres Wysling, Trauerzüge und Ruinen in Drenica, in: Neue Zürcher Zeitung, 17. März 1998). Dass sowohl die UNO als auch die vor Ort vermittelnde OSZE diese Wahrnehmung nicht teilten, verkam beim Gros der Massenmedien zur Randnotiz. Fakten wurden ignoriert und stattdessen moralisch argumentiert, indem der ebenfalls aus dem ‚Bosnien-Krieg’ stammende Vergleich zwischen Serben und ‚Nazis’ vehement kolportiert wurde. Westliche Regierungen zeigten sich bemüht, der ‚humanitären Katastrophe’ Einhalt zu gebieten, weshalb man die Konfliktparteien im Februar 1999 nach Rambouillet bei Paris lud. Dort wurde schließlich ein mehrseitiges, zuvor nicht verhandeltes Zusatzprotokoll zur Ratifizierung vorgelegt, welches der NATO u.a. erlaubt hätte, sich in ganz Jugoslawien frei zu bewegen. Serbien verweigerte daraufhin, selbst für Interventionsbefürworter wenig überraschend, die Unterschrift. Der Öffentlichkeit blieb dieser Hintergrund jedoch bis nach Kriegsbeginn vorenthalten.

Bereits Mitte Januar 1999 hatte der Leiter der Kosovo Verification Mission der OSZE, der US-Diplomat William Walker, durch die Interpretation des Todes von 45 Albanern in Racak als ‚serbisches Massaker’ für eine Verschärfung der Situation gesorgt. Als zwei Monate später der Luftkrieg begann, überschlugen sich mit den militärischen Ereignissen auch die verbalen Salven. Deutsche Politiker wie Joseph Fischer oder Gerhard Schröder, die in Fortsetzung der Balkanpolitik von CDU-FDP eine militärische Intervention gegen Belgrad gefordert hatten, bedienten sich dabei besonders einer ‚Holocaust-Rhetorik’. Um die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs existierende Einschränkung der militärischen Handlungsfähigkeit abzulegen, musste die Bundesrepublik nämlich für ihren ersten Krieg seit 1945 propagandistisch das moralisch stärkste Argument aufbieten, das möglich war: die Berufung auf Verhinderung eines ‚neuen Auschwitz’. Kritiker befürchteten, dass damit eine Relativierung der NS-Verbrechen und Verdrängung der deutschen Geschichte einhergehen könnte. Die Warnung des grünen Oppositionspolitikers Joseph Fischer 1994, die Kohl-Regierung würde Deutschland “an der humanitären Nase in den ‚Bosnien-Krieg’’’ führen, war durch ihn als Außenminister Makulatur geworden. Unter den von NATO-Sprecher Jamie Shea für die Formierung der öffentlichen Meinung hoch gelobten deutschen Politikern Schröder, Fischer und Scharping stach besonders letzterer hervor, der u.a. von einem ‚serbischen KZ’ und dem „Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit“ sprach (1). Und während Shoa-Überlebende für die Publikation ihrer Kritik an den Auschwitz-Vergleichen Fischers und Scharpings bezahlen mussten,(2) wetteiferten letztere öffentlich um den bizarrsten Holocaust-Bezug – und erhielten moralische Unterstützung durch Günter Grass, der seine Bewunderung über das politische Agieren Fischers und Scharpings verkündete.(3) Als schließlich auch noch Daniel J. Goldhagen, Autor von ‚Hitlers willing executioners’, in der Süddeutschen Zeitung (30.4.1999) zur Besetzung und Umerziehung Serbiens nach dem Beispiel Westdeutschlands ab 1945 aufrief, war die moralische Rechtfertigung gelungen.

Wie Goldhagen argumentierten zahlreiche Intellektuelle für einen Krieg, der zwar meist mit Bauchschmerzen, nichtsdestotrotz aber in aller Deutlichkeit als einzige Lösung akzeptiert wurde. Mit Ausnahme der taz blieben Interventionsskeptiker und erst recht -gegner in den großen deutschen Printmedien unterrepräsentiert. Dezidierte Kriegsgegner kamen in überregionalen Blättern teilweise gar nicht zu Wort oder wurden als Nazi-Revisionisten und „Verschwörungstheoretiker und Serbenfreunde diffamiert. Die drei großen deutschen Friedensforschungsinstitute (HSFK, ISFH und Fest) bezeichneten die Politik der Bundesregierung zutreffend als „engstirnig, völkerrechtswidrig, erfolglos“ (4), worauf letztere die in den Koalitionsvereinbarungen beschlossene Förderung der Friedensforschung bis Ende des Jahres einfror. Interventionsgegner wurden angezeigt, wenn sie am Krieg beteiligte Bundeswehrsoldaten zur Befehlsverweigerung aufgerufen hatten. Trotz strittiger Beweislage wurden nicht alle Angeklagten freigesprochen.(5)[1] Und General Heinz Loquai wurde wegen seiner Kritik an Scharpings unbewiesenem ‚Hufeisenplan’ auf Intervention des Ministeriums von seinen Aufgaben bei der OSZE in Wien entbunden – gegen deren erklärten Willen.

Mit der gelungenen Rechtfertigungsstrategie des ‚Kosovo-Krieges‘ und der erfolgten Umwandlung der NATO vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis waren die Weichen für das 21. Jahrhundert gestellt: Der grundsätzliche Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Grenzen Deutschlands wird seit 1999 öffentlich nicht mehr in Frage gestellt.

 

Anmerkungen
1) Siehe Uta Andresen, Die überaus nützliche Dämonisierung der Serben, in: taz, 10. Mai 1999

2) ‚Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge’. Offener Brief an die Minister Fischer und Scharping, in: Frankfurter Rundschau, 23. April 1999. Die Unterzeichner waren Esther Bejarano, Peter Gingold, Kurt Goldstein, Walter Bloch, Henny Dreifuß, Günter Hänsel, Werner Stertzenbach, Hans Frankenthal, Rudi Lippmann, Erhard Deutsch, Vera Mitteldorf, Werner Krich, Irmgard Konrad, Maricha König und Adi König.

3) dpa, Günter Grass billigt Balkan-Krieg, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Mai 1999

4) Hubert Wetzel, ‚Engstirnig, völkerrechtswidrig, erfolglos’. Wissenschaftler kritisieren die Strategie der Nato im Kosovo-Krieg, in: Süddeutsche Zeitung, 9. Juni 1999.

5) Elke Steven, Immer mehr Kriegsgegner werden vor das Berliner Amtsgericht gezerrt, in: FF 6/99 ‚Kultur des Friedens’, zit. auf der Homepage von Netzwerk Friedenskooperative (Network of the German Peace Movement), http://www.friedenskooperative.de/ff/ff99/6-08.htm, 22. 12. 2007.    

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund

Themen

Dr. Kurt Gritsch, Historiker und Konfliktforscher. Forschungsschwerpunkte: Jugoslawien; vergleichende Konfliktforschung der Arabischen Revolutionen. Zuletzt erschienen: Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der ‚Kosovo-Krieg‘ 1999, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010. Kontakt: kurt.gritsch@gmail.com