Amnesie und Agonie der Moskauer Macht

Der kaukasische Teufelskreis

von Manfred Sapper
Schwerpunkt
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Im Vorfeld von Wahlen in Russland rollen die Panzer. Das war so vor den Duma-Wahlen am 19. Dezember und das ist so vor den Präsidentschaftswahlen am 26. März.(1) Die Mobilisierung der Wähler mit Kettenfahrzeugen scheint zur Besonderheit der démocratie à la russe zu werden. Das war vor den ersten Duma-Wahlen 1993 so, als Boris Jelzin das "Weiße Haus" an der Moskwa sturmreif schießen ließ. Das war 1994/95 so, als die abtrünnigen Tschetschenen zum ersten Mal gewaltsam diszipliniert werden sollten. 1996 vor den Präsidentschaftswahlen war es dagegen angesagt, sie zurückrollen zu lassen, denn das Wahlvolk war des Krieges überdrüssig. Die Rechnung ging auf, der Waffenstillstand sicherte Jelzins Wiederwahl. Nun bewegen sich die Panzer seit vier Monaten wieder im Nordkaukasus. Aller Zensur zum Trotz herrscht Krieg. Es gibt kämpfende Parteien, Gefechte, hunderttausende Flüchtlinge und Tote auf beiden Seiten, in ihrer Mehrzahl Zivilisten - so wie es üblich geworden ist in den Kriegen der Moderne.

Nach den Überfällen in Dagestan im Sommer 1999 unter dem Kommando des tschetschenischen Kriegsherrn Schamil Bassajew sowie Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in vier russischen Städten, die - ohne dass bis heute dafür auch nur der geringste Beweis vorgelegt worden wäre - mit Tschetschenen in Verbindung gebracht wurden, lautet der Befehl an die Truppen: "Die Terroristen sind zu vernichten", und die "verfassungsmäßige Ordnung ist wiederherzustellen". Offiziell ist darunter zu verstehen, die einseitig proklamierte Unabhängigkeit Tschetscheniens aufzuheben, den Bestand der Russländischen Föderation zu sichern und die Lage im Kaukasus zu stabilisieren, um, kurz gesagt, Sicherheit und Ordnung zu schaffen.

 

Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand?
Seither ist aus Russland Erstaunliches zu vernehmen. Anders als vor vier Jahren steht nun allen Umfragen nach die Bevölkerung hinter dem Krieg. Die Bombenattentate haben Wirkung gezeigt. Die Logik hinter der Zustimmung mag etwa so klingen: Wenn man selbst in vergessenen Provinzstädten wie Wolgodonsk nicht mehr seines Lebens sicher sein kann, hat die russische Dauerkrise eine neue Qualität. Dann ist es kein fremder Krieg mehr irgendwo im fernen Kaukasus oder weiten Mittelasien. In der Massenwahrnehmung der Russen ist der Krieg damit zum ersten Mal seit 1941 zurückgekehrt auf "echten" russischen Boden. Also muss gehandelt werden. Zu Beginn des Waffengangs Ende September sprachen sich zweidrittel der Bewohner Russlands für Bombardements in Tschetschenien aus, 45 Prozent gar für die Einführung des Ausnahmezustands in Moskau, wenn dies der Verhinderung von Anschlägen diene.(2) Der Vorzeigeliberale und Lieblingspartner des Westens, Anatoli Tschubais, glaubte im Nordkaukasus "die Wiedergeburt der russländischen Armee" zu beobachten. Wer dies nicht sehe, meinte er mit Blick auf den Demokraten Grigori Jawlinski, der vorsichtige Kritik am Feldzug geäußert hatte, sei ein "Verräter" und habe das Recht verwirkt, "als russländischer Politiker zu gelten".(3) Tschubais gelang mit dieser Wortwahl ein Kunststück. Als einer der meistgehassten Politiker, dem die Kommunisten wegen seiner Privatisierungspolitik die Erniedrigung und den Ausverkauf Russlands an den Westen vorgeworfen hatten, erhielt er nun den Beifall dieser Kreise und nahezu des gesamten politischen Spektrums Russlands. Deutlicher lässt sich nicht ausdrücken, welche Kreise der national-patriotische Konsens mittlerweile umfasst.

Machtkonsolidierung durch Krieg
Auf den Wellen des Krieges reitend ist Premierminister Wladimir Putin, der sein Amt zeitgleich mit den Kämpfen in Dagestan antrat, zum populärsten Politiker geworden. Wären am morgigen Sonntag Wahlen, würden 42 bis 45 Prozent der Wähler den zum "eisernen Putin" mutierten Premierminister zum Präsidenten wählen, den KP-Chef Gennadi Sjuganow nicht mal die Hälfte.(4) Vor allem ist es Putin im seit Wochen an Schärfe zunehmenden innenpolitischen Machtkampf gelungen, den bis Kriegsbeginn als aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten geltenden ehemaligen Premierminister Jewgenij Primakov von 24 Prozent auf nur noch etwa zehn Prozent zu drücken. Putin ist zur Projektionsfläche der Sehnsucht nach Sicherheit und Ordnung geworden, die den Menschen des größten Territorialstaates der Welt durch Zusammenbruch und die gescheiterten Wirtschaftsreformen abhanden gekommen sind. Der Krieg im Kaukasus ist für Politik und Militär in Moskau funktional, so zynisch dies angesichts der Opfer im Kaukasus auch sein mag. Mit Hilfe des Krieges gelingt es zum ersten Mal seit dem Ende der UdSSR, die Russen zu mobilisieren und zu integrieren, was die diskreditierten Ideologien Kommunismus und Liberalismus nicht mehr leisten können. Dies zeigt der Erfolg der regierungsnahen Kräfte bei den Dumawahlen am 19. Dezember. Er befriedigt die Interessen der herrschenden Elite. Putin eröffnet der Krieg die Chance, seine Macht zu konsolidieren, was durch den Aufstieg zum Präsidenten nach Jelzins überraschendem, aber machtpolitisch genialem Rücktritt gelungen ist. Für Jelzin & Co. hat sich bereits erfüllt, was zunächst längerfristiges Kalkül war: durch einen ihm wohlgesonnenen Nachfolger Schutz vor einer drohenden Anklage wegen Korruption oder Amtsmissbrauch zu genießen. Diesen Schutzschirm hat Putin mit seiner ersten Amtshandlung, Jelzin lebenslang Immunität zu gewähren, bereits aufgespannt. Der Generalität bietet der Krieg die Chance zur Revanche. Mit einer an Weimar erinnernden Dolchstoßlegende, von den Politikern in Moskau um den Sieg im ersten Tschetschenienkrieg gebracht worden zu sein, haben Generalstabschef Anatoli Kwaschnin und General Wladimir Samonow ihre persönliche Schuld am damaligen militärischen Debakel zu verschleiern versucht. Es ist der Generalstabschef persönlich, der die Verantwortung für den Tod einer ganzen Brigade im Januar 1995 in den Straßen Grosnys trägt. Schließlich scheint der Krieg wie kein zweites Ereignis der letzten Jahre das politische Spektrum Moskaus geeint zu haben.

Die Amnesie der Elite
Doch dieser Befund ist nur eine Momentaufnahme. Auf Dauer wird diese Strategie nicht aufgehen. Zu schnell verschieben sich in Russland unter den Bedingungen des drohenden Staatsbankrotts, fehlender funktionierender Institutionen und formalisierter Entscheidungsprozesse die Positionen und Machtbalancen in den Netzwerken der Politik. Den Schein des Augenblicks für die Wahrheit zu halten, hieße, dem gleichen Trugbild und denselben Fehlern zu erliegen wie Russlands Elite. Zivilisten und Uniformierten im und um den Kreml ist das historische Gedächtnis abhanden gekommen. Der Winterkrieg im Kaukasus mag Anlass zu einem Blick zurück nach vorn sein, um die Erinnerungen aufzufrischen. Im Dezember 1999 jährte sich der sowjetische Einmarsch in Afghanistan zum zwanzigsten Mal. Die Folgen dieser im Geheimen gefällten Entscheidung sind bekannt. Statt das "sozialistische Weltsystem" zu stabilisieren, leitete sie dessen Zerfall ein. Die Intervention isolierte die UdSSR weltweit und verschärfte im eigenen Land die Krise von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die letztlich zur Auflösung der UdSSR führte. Trotz militärischer Überlegenheit zu Boden und in der Luft konnte die "ruhmreiche Sowjetarmee" den Krieg gegen die afghanische Guerilla nie gewinnen. Bis heute steht die Region in Flammen. Sie haben auf Tadschikistan übergegriffen, wo russische Truppen deshalb noch immer stationiert sind. Der Krieg produzierte zehntausende körperlich deformierter und psychisch traumatisierter Veteranen, die eine desintegrierende Gesellschaft nicht aufnehmen konnte. Sie bilden seitdem ein Reservoir von "Krisencharakteren", aus dem sich die Söldner aller Bürgerkriege der Ex-UdSSR und auf dem Balkan rekrutieren.(5)
Trotz des gravierenden Unterschieds, dass der Krieg in Tschetschenien völkerrechtlich im eigenen Land stattfindet, liegen die Parallelen von der Entscheidungsfindung bis zu den militärischen und politischen Folgen auf der Hand. Dem Beschluss zum zweiten Tschetschenienkrieg lag die kurzfristige Kompatibilität der Interessen von Präsident, Premier und Generalität zugrunde. Mit jedem Tag, den der Krieg länger andauert, kippt der scheinbare Nutzen des Krieges um und wird der strukturelle Schaden deutlicher. Den Faktor Zeit haben die Verantwortlichen nicht berechnet. Mit jedem Tag ziehen sich die Schlingen der kaukasischen Teufelskreise enger zusammen und nehmen die politische Elite und die russländische Gesellschaft gleichermaßen gefangen.

Die Teufelskreise
Ein erfolgreicher Krieg bei möglichst geringen eigenen Verlusten ist die Voraussetzung, um Putins Bild als "starker Mann" zu erhalten und so das politische Kalkül aufgehen zu lassen. Damit steht und fällt die Schwächung der politischen Konkurrenten Primakow und des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow vor den Präsidentschaftswahlen. Je länger aber der Krieg dauert, desto stärker verblasst Putins "Law and Order"-Image. Die Alternative wäre die Perpetuierung einer Politik der "eisernen Faust" in Tschetschenien bis zu den Präsidentschaftswahlen im Juni. Algerien, Vietnam, Afghanistan, Libanon zeigen, dass sich Kriege gegen Guerilla über Monate nicht ohne schwere eigene Verluste führen lassen. Nicht der Einmarsch ist militärisch das Problem, sondern die Kontrolle des Territoriums. Je länger Russlands verschiedene Truppenverbände des Verteidigungs- und Innenministeriums das Gebiet im Nordkaukasus besetzt halten, desto anfälliger werden sie, desto höher werden die eigenen Verluste.(6) Diese Situation ist eingetreten. Die Idee des "kleinen erfolgreichen Krieges" und das Gerede vom "erfolgreichen militärischen Vorgehen" im Nordkaukasus haben sich wieder einmal als Illusion herausgestellt. Je mehr Zinksärge aus dem formal nicht erklärten Krieg zurückkehren, desto stärker bröckelt die Mobilisierung der Gesellschaft in Russland und damit wiederum die Zustimmung der Bevölkerung zur autoritären Machtpolitik. Mehr noch: Indem die russländischen Truppen die Eigendynamik des Krieges angeheizt haben, indem sie zuerst um Tschetschenien einen cordon sanitaire zogen, um ihn kurz darauf wieder aufzuheben und einzumarschieren, ohne auch nur den Hauch eines politischen Ziels für die Zukunft Tschetschenien zu kennen, haben sie auf Jahrzehnte eine ganze Bevölkerung gegen sich aufgebracht und sind dabei, den gesamten Kaukasus zusätzlich zu destabilisieren. Die völlige Zerstörung Grosnys und die von Russland angekündigte Weigerung es wiederaufzubauen, hätten paradoxe Folgen. Mit jedem Haus, das im russländischen Bombenhagel in Schutt zerfällt, wächst für die Tschetschenen das Mahnmal, diesen Krieg nicht ungesühnt zu lassen. Mehr noch: Die Greuel des Krieges und die Opfer unter der Zivilbevölkerung werden im kollektiven Gedächtnis der Tschetschenen denselben Effekt auslösen. Sie werden zur wechselseitigen Verpflichtung zum weiteren Kampf durch Guerillakrieg oder Terror. Das gilt selbst für diejenigen, die heute noch als Jugendliche oder Kinder in den Flüchtlingslagern leben. Die Erfahrungen aus allen Krisengebieten dieser Welt vom Nahen Osten über die Bürgerkriegsgesellschaften Afrikas oder Mittelasiens bis zu den Brennpunkten ethnopolitischer Gewalt in Europa wie dem Baskenland oder Nordirland geben hier zu Optimismus wenig Anlass. Der Treppenwitz der Geschichte ist jedoch, dass Russlands Militär die Warlords vom Schlage Schamil Bassajews, Salman Raduews und Demir Chattab unter allen Tschetschenen und im Ausland wieder hoffähig gemacht hat. Dabei haben diese Herren, wie wir sie von Afganistan über Liberia bis zum ehemaligen Zaire kennen, die aus Staatszerfall, Anomie und Krieg Profite ziehen und dabei auch die eigene Bevölkerung terrorisieren, alles verdient, nur keine internationale Reputation oder Stilisierung zu Sozialrebellen der Moderne.

Je länger der Krieg dauert, desto stärker lenkt er die Moskauer Machtelite von den eigentlichen Herausforderungen ab, vor denen Russland steht. Es ist die Abwendung des Staatsbankrotts, der durch die Kosten des Krieges sowie die eventuell ausbleibenden westlichen Kredite immer wahrscheinlicher wird. Es ist Reform der föderalen Struktur des Landes und der Verfassung. Und es ist der Versuch, auch im Nordkaukasus zu einer politischen Regelung zurückzukehren. Das mag momentan so hoffnungslos wie nie erscheinen. Doch die Zwänge der Teufelskreise, welche die scheinbare Macht der Elite in Ohnmacht verwandeln, lassen sich auf Dauer nicht ignorieren.
 

1)Eine erste Version dieses Beitrags erschien zuerst in der "Frankfurter Rundschau" am 27.11.1999. Für die vorliegende Veröffentlichung wurde er überarbeitet.
 

2)Bombit`, vydvorjat`, arstovyvat!, in: Izvestija, 28.9.1999
 

3)Citata dnja, in: Izvestija, 13.11.1999
 

4)Die Ergebnisse stammen aus der repräsentativen Erhebung der beiden Moskauer Institute VCIOM vom 15./16.11.1999 sowie des "Fond Obscestvennoe mnenie" vom 20./21.11.1999. Vgl. http//:www.wciom.ru sowie http//:www.fom.ru/week/nd-03.htm. Siehe dazu auch Zeleznyj Putin, in: Izvestija 13.11.1999
 

5)Zu den unmittelbaren und mittelbaren Folgen des sowjetischen Krieges in Afghanistan vgl. Manfred Sapper, Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft. Eine Studie zum Legitimitätsverlust des Militärischen in der Perestrojka, Münster 1994
 

6)Die militärischen Implikationen dieses Dilemmas diskutiert der ehemalige Präsidentenberater Emil` Pajn: Putin ne pobedit v Cecne. No mozet pobedit` v Rossii, in: Vremja MN, 15.11.1999

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Dr. Manfred Sapper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der FKKS der Uni Mannheim.