Tschetschenien

Der „Kleine Stern“ von Grosny

von Barbara Gladysch

Ich erinnere mich an das Gespräch mit Adlan, 15 Jahre alt. Er schwieg während meines Unterrichts in der Holzschule Omega 1 im Flüchtlingslager Raswet in Sleptwoskaya. Ich versuchte den Begriff „Pazifismus“ den Schülern und Schülerlinnen zu erklären. Ich erzählte von Gandhi, Nelson Mandela und Martin Luther King.  Die jungen Menschen hörten sich das freundlich an, es langweilte sie offensichtlich; noch nicht einmal Widerspruch machte sich bemerkbar. „Märchenstunde mit Barbara“ hätte man die „Vorstellung“ nennen können!

Beim Verlassen des provisorischen Schulgebäudes hält mich Adlan auf. „Was du erzählt hast, gilt nicht für uns Tschetschenen. Wir wollten Dir gegenüber nicht unhöflich sein und deshalb haben wir dich reden lassen. Aber ich will ehrlich sein: Dieser Pazifismus, so wie du ihn nennst, ist Unsinn, bedeutet für uns Selbstmord. Du weißt, dass wir uns nicht selber umbringen dürfen, dass das eine Sünde ist - und außerdem wäre das kein Mut, sondern Dummheit.

Wir jungen Männer haben keine Zukunft: Es wird keinen Beruf für uns geben, wir können keine Familie gründen und ernähren – wir können nur eins: uns verteidigen, denn – wie du ja weißt – werden wir täglich überfallen, verschleppt, gefoltert und getötet. Dein Gandhi und seine Theorie können uns auch nicht helfen. Das müssen wir alleine tun! Wir gehen in die Berge; du weißt, was wir da lernen: wir lernen kämpfen! Das ist das einzige, was noch Sinn macht in unserem Land! Außerdem haben wir Verantwortung für unser Volk! Wir wollen nicht aussterben! Wir müssen  die Frauen, die Kinder, die alten Menschen schützen. Das erwarten sie von uns, mit Recht!

Du hast vorhin gesagt: Gewalt erzeugt wieder Gewalt. Gewalt ist keine Lösung. Hast Du eine Lösung für unser Volk? Wir freuen uns immer, wenn du kommst. Aber bring’ nicht solche dummen Sprüche mit. Zum Verhandeln, für Gespräche braucht man mindestens zwei Personen: eine für diese Seite, die andere Person für die andere Seite. Unsere Seite hat eine Person, der zu Verhandlungen bereit ist: unseren Präsidenten  Aslan Maschadow. Aber Putin will mit ihm nicht reden. Ich will ehrlich mit dir sein! Deshalb sag’ ich dir das. Nimm mir meine Worte nicht übel!“

Adlan läuft schnell weg, weil er merkt, dass in ihm ohnmächtige Wut  aufsteigt.

Wie Recht er hat, denke ich. Ich spüre  Ohnmacht, Hilflosigkeit, tiefe Trauer und „heiligen Zorn“. Warum bin ich hier in diesem Land mit diesen schier unlösbaren Problemen und kann von meinen  gewaltfreien Grundpositionen keinem etwas vermitteln. Sie sollten wenigstens den Begriff „Pazifismus“ einmal in ihrem Leben hören und versuchen zu verstehen, was er bedeutet, rechtfertige ich mich. Die Gewaltspirale muss doch endlich  mal unterbrochen werden. Von wem, bitte schön, höre ich mich fragen …

Nach Tschetschenien kann man nicht so einfach hinfahren. Da muss man sich schon was einfallen lassen, um rein- und wieder rauszukommen.  Meine letzten vier Reisen (2006 / 2009) waren offiziell – mit  offiziellen Einladungen und offiziellen Visa. Offiziell bedeutet aber auch: der Geheimdienst weiß Bescheid. Das ist normal – und wenn nichts Außergewöhnliches passiert – bleibt alles normal. Was außergewöhnlich ist, bestimmt natürlich der FSB (Geheimdienst) und dann ist das, was „normal“ war, auf einmal nicht mehr normal. Dass das so ist, ist wiederum normal: normalja!

Tschetschenien hat zwei blutige Kriege überstanden, eine gefährliche unfriedliche „Zwischenkriegszeit – und jetzt ist endgültig „Frieden“ im Land, denn am 16. April 2009 wurde auf Anordnung des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew in Tschetschenien der Status als „Anti-Terror-Zone“ aufgehoben. Das Töten und Ver-schwindenlassen, die Attentate und Mordanschläge sind damit allerdings nicht „aufgehoben“, sie setzen sich fort.

Reha-Zentren für traumatisierte Kinder
„Warum kommst Du zu uns, seit 1996 kenne ich dich. Jedes Jahr bist du zweimal bei uns. Was sind deine Gründe dafür, dass du dich in Gefahr bringst und nicht entmutigt wirst. Und immer hast du gute Laune! Welche Motive hast du? Wir sprechen hier immer wieder davon und wollen dich jetzt um eine Antwort bitten“, fragen mich immer wieder Menschen in Tschetschenien.

Es sind die Kinder. Der Kinder wegen komme ich regelmäßig. Im Jahr 1996 habe ich mit Chris Hunter, einem englischen Quäker, und tschetschenischen Freunden ein Rehabilitationszentrum für traumatisierte Kinder  gegründet, den „Kleinen Stern“. Wir haben in die trostlose Ruinenwüste der zerstörten Stadt Grosny, in viele unbekann-  te  Dörfer  kleine „Hoffnungspunkte“ gesetzt, „little star-points“. Es gibt sie heute natürlich noch, denn „was man sich vertraut gemacht hat, für das bleibt man ein Leben lang verantwortlich“.

Die Kontinuierlichkeit meiner Arbeit, die Verlässlichkeit und die Mit-Verantwortung für die therapeutische Arbeit mit den Kindern, die Wertschätzung, Beratung und Unterstützung der MitarbeiterInnen vom „Kleinen Stern“ sind so selbstverständlich für mich, dass sich die oben gestellten Fragen erübrigen.

Mein Dasein ist ein Friedensakzent, der ungefragt einfach vorhanden ist, der keine Rechtfertigung braucht, keine Begründungen liefert, sondern: nur da ist. Unauffällig, gelassen und bereit.

Das verstehe ich unter „ ziviler Konfliktbearbeitung“ in Tschetschenien. Ich habe natürlich ein „Programm“ in meinem Kopf (und Bauch), wenn ich nach Grosny reise. Doch die „Regie“ führen dort meine BegleiterInnen. Ich passe mich an, ich errege kein Ärgernis, ich bringe niemanden in Gefahr. So wie ich unauffällig komme, so gehe ich wieder – natürlich unter „Beobachtung“.

Meine Arbeit in Tschetschenien ist keine politische Tätigkeit: ich berate Psychologen, Therapeutinnen und LehrerInnen. Ich höre mir Sorgen an, vermittle Hilfen, besuche Familien, die nach mir fragen etc., und überall und immer wieder stelle ich fest: meine Anwesenheit allein schon gibt Trost, Hoffnung und  vermittelt Freude. Ich selbst tu’ dafür nichts. Das ist zivile  „Friedensarbeit“, die jetzt keine Arbeit mehr im Sinne von Anstrengung, Entbehrung und Rechtfertigung ist. So einfach wird das!

Was ist aus Adlan geworden? Ist er aus den Bergen zurückgekehrt und hat seine Kalaschnikow vor die Füße des tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrow gelegt und ihm Treue geschworen, damit er „rehabilitiert“ ist, eine schöne Wohnung bekommt, seinen Sold als „Kadyrowzi“ regelmäßig erhält ?

Ein bizarrer Frieden
Viele haben das getan und tun es weiter.Selbst bekannte ehemalige Spitzenvertreter der „unabhängigen Republik Itschkeria“, die man früher leichtfertig „Terroristen“ oder „Wahabiten“ nannte, bekennen öffentlich ihren „Irrtum“ und werden Gefolgsgetreue des zweifelhaften autokratischen von Putins Gnaden ernannten Präsidenten Ramzan Kadyrow, der „sein Volk liebt“ und den das Volk eher schätzt, bewundert und anerkennt als dass es ihn fürchtet.

Grosny ist das „novy Grosny“, ein ganz neues Grosny, eine Weltstadt mit neu erbauten Stadtvierteln, mit Marmorbauten, einer prächtigen riesengroßen Moschee, mit Boutiquen, Schönheitssalons, Restaurants, Alleen und Parkanlagen,  Spring- brunnen und neuen oder renovierten Schulgebäuden und Krankenhäusern. Ruinen muss man jetzt schon suchen, die vor drei Jahren noch die übliche Wohn- raumbeschaffung für die Menschen waren.

Ein „bizarrer“ Frieden ist das! Die Leute auf der Straße sind zufrieden, wollen in Ruhe gelassen werden (zwei Kriege reichen uns!). Ihre verschwundenen, getöteten, ermordeten, Väter, Brüder, Schwestern sind „ausgeblendet“. Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden.

Was hat Adlan damals gesagt? Hatte er sich geirrt?

Ich bin müde, zu begreifen, was in den letzten drei Jahren in Tschetschenien passiert ist: nicht das russische Militär oder die russische Politik waren verantwortlich für die Kriege! Diese „Propaganda“ hat sich aufgeklärt: Es waren irregeführte, angestachelte,   gekaufte und religiös fehlgeleitete Tschetschenen, die das eigene Volk „ins Unglück (Krieg) führten“. Zum Glück hat der russische Präsident Putin rechtzeitig eingegriffen und den Krieg beendet, den die tschetschenischen Banditen angefacht haben. Das tschetschenische Volk dankt dem russischen Volk, dem Kreml und seinen Politikern und dem russischen Militär für den Frieden im Land! Auf riesengroßen Plakaten – angebracht an riesengroßen Häuserwänden -  verkündet Kadyrow seinen Dank und seine Wertschätzung Herrn Putin und Herrn Medwedew gegenüber.

Was soll ich glauben? Ich höre, sehe, nehme wahr … und schweige. Das sollte ich auch tunlichst tun!

Zum Frieden gehören: Gerechtigkeit,  unabhängige Rechts- und Ordnungs-Organe, Wahrheit und Eingeständnis von Schuld. Wenn dann aufrichtige Versöhnung noch hinzukäme, wäre das ein wunderbarer Frieden!

Die Amnestie für ehemalige „Separatisten“ sind in den Augen des tschetschenischen Präsidenten „der Weg des Vergebens und der Aussöhnung“.

Was passiert auf Druck, mit Erpressung und mit Belohnung hinter den Kulissen? Wie viele Blutspuren gibt es auf dem Weg zur „Aussöhnung“? Wie groß ist die Angst der „einfachen“ Menschen vor dem Aufflammen verdeckter Brandherde!

Viele Fragen – keine Antworten! Vermutungen gibt es – aber sie bleiben im Verborgenen.

Zum Thema „Zivile Konfliktbearbeitung“ kann ich theoretisch wenig  beitragen. Was ich kann, ist: zuhören, trösten, raten, gemeinsam weinen und lachen, in den Arm nehmen und … von Hoffnung sprechen. Nicht mehr und nicht weniger tu ich in Tschetschenien seit 13 Jahren.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Barbara Gladysch, Jahrgang 1940, Begründerin 1981 von „Mütter für den Frieden“, „Kinder von Tschernobyl“ e.V. 1991, früher Projekte in Belarus, Bosnien und Kosovo; jetzt nur noch in Tschetschenien: „Kleiner Stern“; in Deutschland: Beratung und Unterstützung von Flüchtlingen, die von Abschiebung bedroht sind; „save me“-Kampagne in Düsseldorf; pensionierte Sonderschullehrerin, Großmutter von zwei wunderbaren Enkelkindern.