Mordechai Vanunu soll im nächsten Frühjahr nach 18 Jahren Haft endlich auf freien Fuß kommen

Der Mann, der Israels Atombombe verriet

von Yoel Cohen

Am 22. April 2004 werden sich die Tore des Hochsicherheitsgefängnisses von Ashkelon, einer Küstenstadt südlich von Tel Aviv, öffnen, und Mordechai Vanunu wird nach 18 Jahren zum ersten Mal wieder einen Fuß in die Freiheit setzen. Ob er allerdings Israel jemals verlassen darf, ist zweifelhaft.

(...) 1954 in Marokko geboren, wanderte Vanunu 1963 mit seiner Familie nach Israel aus. Der sephardischen, also orientalischen, Familie fiel es schwer, sich an den von Ashkenazim, Juden europäischer Herkunft, dominierten Staat anzupassen. Allmählich verblasste Vanunus Sympathie für das Gelobte Land. 1985 kündigte er in Israels streng geheimer Atomanlage in Dimona, um im Ausland ein neues Leben zu beginnen.

Das Gefühl der Entfremdung hatte Gestalt angenommen, als er während langer Nachtschichten in Dimona begann, für seinen Abschluss in Philosophie an der Ben Gurion-Universität in Negev zu lernen. Plötzlich musste er sich mit dem moralischen Dilemma auseinandersetzen, in das ihn seine Arbeit im Reaktor stürzte. (...) Heute jedoch, nach 18 Jahren, die Vanunu größtenteils mit dem Studium philosophischer und historischer Artikel verbracht hat, lehnt er Atomwaffen ohne Zweifel grundsätzlich ab.

Israel hat das Geheimnis um seine Nuklearprojekte stets verbissen gehütet. Der Staat verfolgte eine Politik der "Bombe im Keller" und bestätigte nie, dass er über Atomwaffen verfügt. Für diese Haltung gibt es verschiedene Gründe: (...) Der Hauptgrund für Israels zweideutige Haltung ist nach Ansicht von israelischen Forschern heute das Verhältnis zu den USA. Das Symington-Gesetz von 1976 verbietet nämlich jeder US-Regierung, einen Staat zu unterstützen, der in Verdacht steht, ohne internationale Kontrolle Atomwaffen herzustellen. (...) Bereits im Jahr 1969 hatten die USA und Israel jedoch eine Vereinbarung unterzeichnet, in der sich die Amerikaner verpflichteten, auf Israel keinen Druck auszuüben - solange das Land seine Bombenpläne nicht öffentlich macht.

Selbst fortschrittliche israelische Politiker sehen die Bombe als Schutzschild, der es erst möglich macht, sich aus den 1967 im arabisch-israelischen Krieg besetzten Gebieten zurückzuziehen. Solange Israel bereit ist, im Fall eines Friedensvertrags okkupiertes Land aufzugeben, wollen deshalb die USA und einige westeuropäische Regierungen nicht gleichzeitig verlangen, den nuklearen Schirm aufzugeben. (...)

Um die US-israelischen Beziehungen ging es angeblich auch, als israelische Militärs kürzlich inoffiziell diskutierten, welche Vorkehrungen angesichts von Vanunus bevorstehender Entlassung zu treffen seien. Vanunu, entschlossen wie eh und je, will seinen Kampf gegen die Bombe fortsetzen, sobald er aus dem Gefängnis entlassen ist. Er plant, sich in den USA niederzulassen. Manche Militärs sind offenbar besorgt, der Ex-Häftling könne vor einem Senatskomitee für ausländische Beziehungen auftreten, und würden seine Bewegungsfreiheit daher gern auf israelisches Territorium beschränken. So hätten die Behörden die rechtlichen Mittel, den Aktivisten erneut zu verhaften und mundtot zu machen. Verließe er das Land, hätten sie keine Macht mehr über ihn.

Vanunu kann wohl kaum irgendwelche Geheiminformationen enthüllen, die er nicht bereits der "Sunday Times" preisgegeben hat. Ohnehin dürfte sein Gedächtnis gelitten haben unter den 18 Jahren Gefängnis, zwölf davon in Einzelhaft. Doch aus israelischer Sicht würde Vanunu allein durch sein Erscheinen vor dem Senat und die Erinnerung an den berühmten Fall der "Sunday Times" vom 5. Oktober 1986 eine diplomatische Krise zwischen Washington und Jerusalem heraufbeschwören.

Vanunus Rechtsanwalt Avigdor Feldman kündigte an, das Oberste Gericht Israels einzuschalten, sollte es seinem Mandanten nicht erlaubt werden, frei auszureisen. Das Verteidigungsministerium dürfte diese Angelegenheit sehr genau abwägen. Schließlich hat bereits im Jahr 1998 die Drohung, das Oberste Gericht einzuschalten, wohl dazu beigetragen, Vanunu aus seiner Einzelhaft zu erlösen. Dennoch ist unklar, wie israelische Richter über ein offizielles Reiseverbot für Vanunu befinden würden.

Es gibt in Israel keine bedeutende Pro-Vanunu-Lobby. Nachdem die "Sunday Times" seine Geschichte veröffentlicht hatte, hielten ihn die meisten Israelis für einen Verräter. Seit 1986 wuchs die Bewegung zur Unterstützung Mordechai Vanunus von 50 auf gerade einmal 500 Mitglieder an.

(...) Israelische Regierungsvertreter sind uneins, unter welchen Bedingungen ihr Land auf sein Atomprogramm verzichten könnte. Die vorherrschende Lehre, der auch das Verteidigungsministerium anhängt, zieht diese Frage noch nicht einmal in Erwägung und glaubt, dass die atomare Option Israel nützlich war und es bis in alle Ewigkeit sein soll. Aber eine Schule innerhalb des Außenministeriums, die dessen ehemaligem Chef Schimon Peres zugeordnet wird, vertritt die Ansicht, nach einem Friedensschluss in der Region könnten die Voraussetzungen für Rüstungskontrolle sehr wohl gegeben sein.

(...) Auf Seiten der israelischen Linken ist ein gewisses Verständnis für Vanunu zu spüren. Sie war vor allem über die harten Bedingungen seiner Einzelhaft besorgt. Aber das darf man nicht überbewerten. Die gemäßigte Linke zumindest, die sich für Atomwaffen ausspricht, sieht in Vanunu einen Verräter. Nach dem Artikel in der "Sunday Times" vermieden es Militärreporter, die strategische Bedeutung von Vanunus Enthüllungen zu kommentieren - teilweise aus Furcht, mit Vanunu in Verbindung gebracht zu werden. Sie beschränkten sich auf die Diskussion der Sicherheitslücken, die es Vanunu ermöglicht hatten, seine Fotos zu machen.

Dennoch lässt sich über die Jahre hinweg eine subtile Veränderung des Meinungsbilds feststellen. Während 1987 noch 78 Prozent der Befragten für Geheimhaltung des Atomprogramms stimmten, ist diese Zahl heute auf 62 Prozent geschrumpft. Sicher hat Vanunu eine gewisse Rolle dabei gespielt, die israelische Bevölkerung auf die Gefahren der Geheimniskrämerei hinzuweisen. Dennoch dürfte eher die Bedrohung durch Atomwaffen in der Region die Menschen nachdenklich gemacht haben.

(...) Die - der militärischen Zensur unterworfenen - israelischen Medien haben große Schwierigkeiten, über die Atomwaffenpolitik ihres Landes zu berichten. Es erscheinen nur wenige selbst recherchierte Artikel. Die meisten Journalisten zitieren bloß, was bereits im Ausland veröffentlicht wurde - auch wenn das mitunter spekulativ und oft überholt ist. Selbst auf das Thema Verteidigungspolitik spezialisierte Reporter haben wenige Kontakte innerhalb der israelischen Atomenergiebehörde.

Vanunu hat sich einen Ehrenplatz in der internationalen Anti-Atom-Bewegung verdient - und einen enormen Preis für seine Kühnheit gezahlt. Während in vielen Ländern Unterstützergruppen für ihn arbeiten, haben sich allerdings selbst die einflussreichsten dieser Kampagnen - in den USA und Großbritannien - nicht zu Massenprotestbewegungen entwickelt.

Vanunus Fall kam in zahlreichen Foren zur Sprache, unter anderem im Europaparlament. 1987 initiierten die deutschen Grünen eine Debatte im Bundestag. Eine Reihe von Regierungen, darunter die Großbritanniens und Australiens, kritisierten seine Haftbedingungen, aber keine, mit Ausnahme der norwegischen, forderte Israel auf, Vanunu vorzeitig zu entlassen. Missfallen könnte jedoch im nächsten Jahr laut werden, sollte es Vanunu nach dem Ende seiner Haft nicht gestattet werden, Israel zu verlassen.

Vanunus Vermächtnis ist ein zwiespältiges: Israel hat seine Haltung nicht geändert und seine atomaren Kapazitäten nicht enthüllt. Zudem ermittelte das Jaffee-Zentrum zehn Monate vor Vanunus Gespräch mit der "Sunday Times", dass 92 Prozent der Befragten ohnehin glaubten, Israel verfüge über die Bombe. 1976 waren nur etwa 67 Prozent davon überzeugt. Dennoch hat Vanunu bewirkt, dass die Schleier über der Atomanlage von Dimona um einiges durchsichtiger geworden sind.

Allerdings hat seinerzeit nicht jeder der Schätzung der "Sunday Times" Glauben geschenkt, Israel besitze 100 bis 200 Atomsprengköpfe. Die Zahl basiert auf der Annahme, dass der Reaktor in Dimona seit seinem Start in den frühen 60er Jahren permanent lief, obwohl Atomanlagen gelegentlich zur Wartung und Reparatur abgeschaltet werden. Der US-Geheimdienst korrigierte seine Einschätzungen nach der Veröffentlichung in der "Sunday Times" immerhin dahingehend, dass Israel über 60 bis 100 Sprengköpfe verfüge.

Seit Vanunu sich 1986 zu Wort meldete, sind durch kommerzielle Satellitenbilder weitere Informationen über das israelische Atomprogramm ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen, was Vertreter des Verteidigungsministeriums gerne verhindert hätten. Ob sie aber nun von Vanunu oder aus Satellitenbildern stammen - Daten über die technischen Kapazitäten eines Atomprogramms sind eine Sache. Die Motive und politischen Ziele, der Grad der Einsatzbereitschaft sind eine andere. Weder Satellitenaufnahmen noch Nukleartechniker können der Öffentlichkeit diese Dinge enthüllen.

Quelle: Greenpaece-Magazin 5/03

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Dr. Yoel Cohen ist Autor des Buches "Die Vanunu-Affäre - Israels geheimes Atompotential", Palmyra Verlag.