Der nationale Wettbewerbsstaat

von Martin Singe
Schwerpunkt
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Anfang diesen Jahres erschien Joachim Hirschs neues Buch "Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat", dessen Hauptthesen wir nachfolgend in Kürze darzustellen versuchen. Nach Hirsch ist die aktuelle Globalisierung eine Strategie des Kapitals zur Lösung der Fordismus-Krise (1). "Die radikale Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Geld- und Kapitalverkehrs soll nun die Voraussetzungen für eine erneute, systematisch und weltumspannend durchgeführte Rationalisierung des kapitalistischen Produktions- und Arbeitsprozesses schaffen." Während es zu Zeiten der fordistischen Wachstumsperiode möglich war, einen sozialstaatlich-korporativen Klassenkompromiß - den Sozialstaat - zu schmieden, so soll dieser nun vollends aufgelöst und zerstört werden. Der Abbau des Sozialstaates geht einher mit einem zügigen Ausbau des Polizei- und Überwachungsstaates. Die Reichen schotten sich weltweit gegen die Armen ab - siehe Asyl- und Zuwanderungspolitik -, und sie grenzen auch innerhalb der wohlhabenden Staaten zunehmend alle Menschen aus, die für den kapitalistischen Wachstumsprozeß überflüssig, hinderlich oder gefährlich sind.

Die Interessen des internationalisierten Kapitals werden zu den entscheidenden Determinanten nationalstaatlicher Politik. Der Staat hat nicht mehr die Aufgabe, die Ökonomie in Richtung Klassenkompromiß zu regulieren, sondern die Kapitalverwertungsbedingungen zu optimieren, also die Standortbedingungen für Kapitalansiedlungen so attraktiv wie möglich zu machen. Dieser Standortoptimierung fallen nach und nach alle sozialen Zugeständnisse zum Opfer. Folgen sind u.a. zunehmende Verarmung eines immer größeren Teils der Bevölkerung jetzt auch in den Industriestaaten sowie eine voranschreitende Entdemokratisierung. Die Parteienkonkurrenz läuft zunehmend ins Leere, da alle Parteien gleichermaßen miteinander wetteifern, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß sich das Kapital im Lande wohlfühlt und vermehren kann. Vom latenten kommt es nun zum permanenten Weltwirtschafts(bürger) krieg. An die Stelle des offen militärisch ausgetragenen imperialistischen Krieges tritt der weltweite Wirtschaftskrieg, wobei imperialistische Stellvertreterkriege nicht ausgeschlossen sind. Außerdem wird eine vollkommen verarmte "4. Welt" fortschreitend marginalisiert, die für den Kapitalismus keinerlei Rolle mehr spielt, weder als Rohstofflieferant noch als Absatzmarkt. Diesen Ländern und Regionen geht es noch schlechter, als den unter kapitalistischer Dependenz (Abhängigkeit) leidenden Dritte-Welt-Ländern.

Angesichts dieser düsternen Analyse fragt man sich nach den Alternativen und Perspektiven. Hirsch sieht diese nicht in einer Eroberung des Staatsapparates durch alternative Gruppierungen/Parteien, sondern in der Erweiterung der Sphäre autonomer politischer Selbstorganisation. Jenseits von Parteien, die alle unter dem oben dargestellten Zwang zur Optimierung der Kapitalverwertungsbedingungen stehen, müssen alternative politische Netzwerke aufgebaut werden. Denn der bloße Austausch der staatlichen Machteliten ohne eine grundlegende Veränderung der herrschenden gesellschaftlich-politischen Strukturen ist wirkungslos. Die Strategie eines radikalen Reformismus besteht nach Hirsch in einer sozialen Revolution im materiellen Sinne. Die herrschende Gesellschaft muß zugunsten freier Assoziationen und Föderationen überwunden werden. Gesellschaftliche Befreiung bedeutet dann nicht die Durchsetzung eines vorgefertigten Gesellschaftsmodells, sondern das Raumschaffen für die Verwirklichung unterschiedlicher Lebensentwürfe und Gesellschaftsmodelle (vgl. den Beitrag von Hinkelammert in diesem FriedensForum). Eine solche materielle Gesellschaftsveränderung kann über die Revolutionierung der Lebensverhältnisse, der sozialen Beziehungen und Konsummuster, der Arbeitsformen und Fortschrittsvorstellungen zustandekommen. "Die ideologische Hegemonie der kapitalisitschen Lebensform war noch nie so fest in den Köpfen verankert wie heutzutage. Und die reale Fragmentierung der Welt, die Vergrößerung der ökonomischen und sozialen Ungleichheiten sowohl innerhalb der nationalen Gesellschaften als auch auf internationaler Ebene wirkt ihr nicht unbedingt entgegen, sondern kann sie durchaus weiter zementieren, nämlich umso stärker, je mehr die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse als alternativlos erscheinen und der Kampf aller gegen alle um relative Privilegien ausufert. Eine wirkliche Revolution muß daher nicht nur eine soziale und politische, sondern vor allem eine Kulturrevolution sein. (...) Wenn Revolution die Abschaffung eines gesellschaftlichen Zwangsverhältnisses bedeutet, dann meint sie auch das Ende von `Gesellschaft` als Herrschaftszusammenhang. Rezepte dafür gibt es nicht. Aber die revolutionäre Theorie entwickelt sich immer erst im und durch den praktischen Kampf." (S. 148)

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".