Ein gewaltfrei-anarchistischer Wahlkommentar

Der Protest steht rechts - warum?

von Michael Grosser
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Vor zehn Jahren organisierte sich der gesellschaftliche Protest als klares Gegenstück zur rechten Opposition. Steht heute der Protest eher rechts? Der Autor kommentiert aus libertärer Sicht die Entwicklung der Grünen Partei und stellt die Frage nach der Notwendigkeit einer nicht parlamentarismusfixierten sozialen Bewegung.

Der grüne Vordenker Bernd Ulrich überschlägt sich im "Freitag" vom 1.5.92 fast vor Begeisterung über die Sondierungsgespräche zwischen CDU und Grünen nach der Baden-Württemberg-Wahl. Sie seien eine "Pionierleistung", auch von einer "Meisterleistung" ist die Rede; trotz ihres letztlichen Scheiterns seien "neun von zehn Schritten" gemacht, die schwarz-grüne Annäherung beende das "Lagerdenken", sei "rational, fast lehrbuchhaft politologisch" -- und was der Superlative in einem solchen Kommentar noch mehr zu finden wären.(1)

Das Dumme ist nur -- und darin drückt sich die ganze Borniertheit eines solchen Quatsches aus --: die Opposition steht stramm und rechts.

Vor zehn Jahren war das noch anders: obwohl die SPD -- die linke Volkspartei -- lange Jahre an der Regierung war, organisierte sich der gesellschaftliche Protest ökologisch, libertär, frauen- oder friedensbewegt, jedenfalls als klares Gegenstück zur rechten Opposition im Bundestag. Die von den sozialen Bewegungen aufgeworfenen Probleme drängen nach wie vor, kaum eines ist gelöst. Was ist seither also geschehen?

Grüne Partei und Protestpotential
"Die Grünen können den Protest nicht mehr organisieren, der neben dem reaktionären und rassistischen Anteil auch berechtigte Aversionen gegen die Parteienherrschaft und den Sozialabbau in diffuser Mischung enthält."(2) In den 70er und 80er Jahren waren die sozialen Bewegungen noch fähig, rechte Wertkonservatismus-, Gesundheits- oder Gruhl'sche Ideologien in einer wesentlich antiautoritär und außerparlamentarisch agierenden linken Anti-AKW- oder Friedensbewegung zu neutralisieren, so daß diese nicht die Themen der öffentlichen Auseinandersetzung inhaltlich bestimmen konnten. Das ist heute ganz anders: Nach zwei Landtagswahlen, bei denen so viele WählerInnen wie kaum je zuvor den Wahlurnen fernblieben, "sondieren" die Grünen ihre Regierungsfähigkeit mit derselben CDU, die für die rassistischen Debatten in der Asylgesetzgebung verantwortlich ist, die bis vor kurzem NVA- und anderes Kriegsmaterial an die Türkei verschacherte und die sich mitsamt den anderen Altparteien hemmungslos über Diäten und Wahlkampfkostenerstattungen bereicherte. Letzterem mochte selbst das Bundesverfassungsgericht nicht mehr tatenlos zuschauen, um die "Politikverdrossenheit" der BürgerInnen nicht noch weiter anwachsen zu lassen.

Das völlig zu Recht vorhandene Gefühl vieler BürgerInnen, ganz offensichtlich betrogen zu werden, "müßte sich eigentlich so äußern können, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse durchschaut werden, in eine verschärfte Bewußtwerdung, wer oben und wer unten steht. Es könnte gerade die nationale und 'rassisch' oder kulturrassistisch propagierte 'Volksgemeinschaft' als billiges Mittel der Herrschenden durchschaut werden, wahre Gegensätze durch falsche Fronten zu überlagern, um ihre Macht zu stabilisieren. Dies aber passiert derzeit nicht, weil etwa die Grünen, die solches, zunächst reformistisches Bewußtsein durchaus wecken könnten, selbst längst zu den etablierten Kräften zählen, jede oppositionelle Kraft verloren haben und aufpassen, den Anschluß nach rechts nicht zu verlieren" (3), wie der jüngste unsägliche Vorschlag von Daniel Cohn-Bendit zeigt, das grüne "Einwanderungsgesetz" im Tausch gegen eine Einschränkung des Asylrechts ergattern zu wollen.

Das Gesetz der Oligarchie
Die grüne Partei ist in ihrer kurzen Geschichte komplett dem "Gesetz der Oligarchie" anheimgefallen, welches der anarcho-syndikalistische Soziologe Robert Michels bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts aufstellte und das seither zur Grundlage anarchistischer Parlamentarismuskritik wurde: die politisch-parlamentarische Organisation tendiere quasi gesetzmäßig dazu, aus "gewählten FührerInnen" "FührerInnen über ihre WählerInnen" zu machen. Die öffentliche Reputation der Gewählten, ihre Dominanz über eine passiv gehaltene und öffentlich als irrelevant wahrgenommene Masse von Parteienmitgliedern mündet nach Michels in die immerwährende Wiederwahl der FührerInnen, die lediglich durch Elitenkämpfe innerhalb der Führungscliquen mittels manipulierter Unterstützung der Mitgliedermasse ab und an gestürzt werden können. Die parlamentarische Demokratie, so Michels, tendiere damit zur Oligarchie. Der Unterschied zur Diktatur reduziere sich auf den Unterschied zwischen der Herrschaft eines Einzigen (Monarchie) und der Herrschaft Weniger (Oligarchie). Jede politische Partei mache durch ihre Beteiligung am parlamentarischen System, das strukturell oligarchische Führungscliquen heraus-bilde, selbst bei gegenteiligem Anspruch die gleiche Entwicklung durch. Was Michels am Beispiel der sozialistischen Parteien damals analysierte, kann heute für die Grünen so erzählt werden: Alle für den Parlamentarismus dysfunktionalen, weil basisdemokratischen Elemente wie Rotation, Vermeidung von Ämterhäufung, Vermeidung von BerufspolitikerInnen, imperatives Mandat, Trennung von MandatsträgerInnen und Parteiführung, zuletzt die Organisierung der Parteispitze als SprecherInnenkreis anstelle eines Parteivorstands, wurden dem "Realismus" geopfert. -- Einem Realismus, der immer auf die Erfordernisse des parlamentarischen Systems ausgerichtet war und von daher die Realitätstüchtigkeit dieser Elemente gar nicht erweisen konnte.

Anarchistischer Föderalismus und soziale Bewegung
Lediglich in gewaltlos-anarchistischen Gesellschaftsmodellen eines basisdemokratischen Föderalismus können diese basisdemokatischen Elemente überhaupt erst wirksam werden. Dort würde die Basisgruppe oder -kommune oder -gemeinde, die unterste gesellschaftliche Ebene also, im Prinzip die allein entscheidende Instanz bleiben, in welcher der gegenwärtig geltende Grundsatz des "Bundesrecht bricht Landesrecht bricht kommunales Recht" umgekehrt wird; und in welcher die überregionalen Ebenen sich aus den jeweilig regionalen frei föderieren. Erst dort kann sich die "Realitätstüchtigkeit" dieser Elemente entfalten.

Wem das als blanker Utopismus erscheint, die/der sollte sich einmal fragen, warum das parlamentarische System der Weimarer Republik den Nationalsozialismus nicht effektiv, nicht "realistisch" an der Machtergreifung hindern konnte und wie die parlamentarische Etablierung rechtsextremer Parteien denn heute mit parlamentarischen Mitteln "realistischerweise" verhindert werden will. Er/sie sollte sich weiter fragen, warum die gewaltfrei-anarchistischen Modelle gesellschaftlicher Entscheidungsfindung unter ganz unterschiedlichen ökonomischen, historischen und sozialen Bedingungen immer wieder umgesetzt worden sind, wenn eine starke antiautoritäre soziale Bewegung vorhanden war: ob bei Gandhis "Dorfrepubliken" im indischen Unabhängigkeitskampf, bevor der indische Staat die "panchayets" (Fünferräte), die autonomen Dorfverwaltungen wieder autoritär integrierte; bei den Kollektiven im anarchistischen Spanien von 1936/37, bevor der Krieg gegen Franco und die Politik der spanischen KP alle freien Kollektive in Industrie und Landwirtschaft wieder zerstörte; oder bei den "Sowjets" in der russischen Revolution von 1917, bevor die Bolschewiki die Rätesysteme majorisierten und schließlich verstaatlichten (4). Grundlage aller dieser historischen Beispiele, in denen Basisdemokratie eine massenhaft versuchte Alternative zum parlamentarischen System werden konnte, war eine selbstbewußte, antiautoritäre, selbstorganisierte Oppositionsbewegung. Ob dieser nun das breite und insofern ziemlich aussagelose Etikett "links" anzuheften war oder nicht, spielt gar keine Rolle -- in jedem Fall konnte die außerparlamentarische Opposition in allen diesen Fällen nicht durch rechte Bewegungen oder Parteien organisiert werden. Das allerdings gelang den Nazis in den 30er Jahren, und es steht zu befürchten, daß der Protest auch heute wieder eher von rechts organisiert werden kann, als das noch in den 70er und 80er Jahren möglich war. Darin liegt die ganze Gefahr der gegenwärtigen Situation.

Es kommt also aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht unmittelbar und als erster Schritt heute darauf an, eine nicht parlamentarismusfixierte soziale Bewegung überhaupt wieder denkfähig zu machen. Es darf nicht bei jeder Initiative, ob in Sachen Abrüstung, Ökologie oder Antisexismus, immer wieder zu systemimmanenten Mitteln gegriffen werden, ob das nun die Petition, die Unterschriftenliste, die Forderung nach neuen Ministerien oder auch nur die Erweiterung parlamentarischer Flexibilität durch Volksabstimmungen sei. Es geht darum, die direkte Aktion der BürgerInnen gegen die indirekte Aktion über die Abhängigkeit der Entscheidung von den Parlamenten im Bewußtsein zunächst der Engagierten, dann ihrer SympathisantInnen, wieder durchzusetzen.

Bevor also über die anarchistischen Utopien das Verdikt des "Unrealistischen" gesprochen wird, durch die Internalisierung des Parlamentarismus bewirkt, durch die hilflose Beschwörung der "Gemeinschaft aber Demokraten" bis zu Schwarz-Grün oder Großer Koalition verursacht wird, sollte doch wenigstens einmal über die Frage nachgedacht werden: Ist es nicht wichtiger, wer die maßgebende gesellschaftliche Opposition stellt, anstatt der Frage nachzugehen, wer in den Sesseln der Regierung setzt? Denn heute steht die Opposition rechts!

Anmerkungen:
(1) Bernd Ulrich: Schwarz-grüner Probelauf, in: Freitag, 1.5., S. 2.
(2) Johann Bauer: Wir war'n die stärkste der Partei'n, Salto Mortale der Diäten-AktivistInnen, in: Graswurzelrevolution Nr. 166, Mai 1992, S. 1.
(3) ebenda.
(4) Zur anarchistischen Parlamentarismuskritik und libertären Alternativen allgemein: GWR-Sonderheft zur Kritik der parlamentarischen Demokratie, Nr. 146-48: "Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben."

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