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Bürgerinitiativen und Städte fordern Schutz für Verweigerer aus den Kriegen in Ex-Jugoslawien und anderswo
Deserteure als Friedensbotschafter
vonDie Situation
Der Balkan - ein riesiges Tollhaus? Der Kaukasus - ein Hort von Verrückten, allesamt begierig, sich gegenseitig abzuschlachten? Weit gefehlt. Die Einseitigkeit der Kriegsberichterstattung in den meisten westlichen Medien lässt ein völlig falsches Bild entstehen. In allen gegenwärtigen Kriegs- und Krisengebieten weltweit gibt es zahlreiche Menschen, die die nationalistische Verhetzung ablehnen und sich weigern, an Krieg, Genozid und Vertreibung mitzuwirken. Beispiel Restjugoslawien: Es sind um die 400 000 Mann, die es abgelehnt haben, der Einberufung zur serbischen Armee zu folgen - so der Jurist Prof. Dejan Janca aus Novi Sad. Hinzu kommt noch eine erkleckliche Zahl von Deserteuren, die sich aus der kämpfenden Truppe entfernt haben. 400 000 Verweigerer - das ist schon eine Größenordnung, die auch militärstrategisch von Bedeutung sein kann. Man sollte nun meinen, diese Menschen, die eine mutige persönliche Entscheidung gegen eine völkerrechtlich verurteilte Kriegspolitik getroffen haben, werden von der Völkergemeinschaft als das anerkannt, was sie sind: Vertreter des "besseren" Serbien, Botschafter eines zukünftigen Friedens, Hoffnungsträger. Man sollte meinen, es wäre eine Selbstverständlichkeit, das ihnen in den europäischen Staaten sicherer Schutz gegeben wird, bis eine Friedensordnung hergestellt ist und mit dem Wiederaufbau begonnen wird. Ja, es drängt sich der Gedanke auf, die Desertion zu einem mächtigen Mittel gegen den Krieg zu machen, indem man noch weitere Soldaten ermuntert, sich dem Vorbild ihrer desertierten Kameraden anzuschließen: durch Belohnungen, durch Anreize materieller Art, etwa durch Ausbildungsprogramme in europäischen Ländern.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Lage der Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die vor sicherer Bestrafung und Fronteinsatz ins europäische Ausland geflohen sind, ist fast überall prekär. Kein Staat erkennt Desertion als Asylgrund an, überall droht die Abschiebung, viele mussten in die Illegalität abtauchen. Ein Deserteur, der schon seit einem halben Jahr illegal in Deutschland lebt, klagt an: "... Wird ein Deserteur, der nicht töten wollte, als der eigentlich Schuldige betrachtet? Die deutschen Behörden tun nichts, um die Deserteure zu schützen, während die kroatischen, bosnischen und jugoslawischen Behörden alle diese Deserteure zurückgeschickt haben wollen, um sie direkt an die vorderste Front zu stellen... Ich behaupte all dies nicht, weil es nur meine Meinung ist, sondern weil viele meiner Freunde das alles erlebt haben oder täglich erleben - und manche sind auf diese Weise auch umgekommen. Ich hoffe aber trotz alledem noch, dass die deutsche Regierung mehr Verständnis zeigen wird und sich mit diesen Fragen beschäftigen wird."
In Deutschland sind es etwa 100 000 Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die aus Ex-Jugoslawien hierher geflüchtet sind. Wer von ihnen zufällig zu einer Bevölkerungsgruppe zählt, die gerade "geduldet" wird - weil sie offiziell als Kriegsflüchtlinge nach der Genfer Konvention betrachtet werden - hat Glück. Im Moment sind dies nur die Menschen aus Bosnien.
Alle anderen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer haben Pech: Sie erhalten entweder erst gar keine Einreiseerlaubnis, kein Bleiberecht, oder eine Ausreisefrist von ein paar Wochen. Viele stellen einen - von vornherein aussichtslosen - Asylantrag, um wenigstens einen kleinen Aufschub zu bekommen. Viele leben in ständiger Angst vor Abschiebung. Somit zwingen die deutschen Innenminister die Menschen wieder zurück zum Soldatenhandwerk, ins Gefängnis (Desertion wird in Serbien mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft oder in die Illegalität, wo sie zermürbt werden.
Für Flüchtlinge aus Serbien und Montenegro wurde die "Duldung", die in einigen Bundesländern noch bestand, auf der Innenministerkonferenz am 24. 11. 1994 aufgehoben - zeitgleich mit der Debatte über den Einsatz von Bundeswehrtornados in Bosnien! Die Begründung der Minister war, dass Serbien sich nicht mehr im Krieg befinde - was formal stimmt, aber die makabere Tatsache, dass man damit Menschen an eine Armee liefert, die die schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem 2. Weltkrieg begangen hat, scheint kaum jemandem aufzufallen. Zudem gibt es Berichte, dass serbische Einheiten nach wie vor an Offensiven in Bosnien beteiligt sind - ganz zu schweigen von der Rolle der Armee bei der brutalen Repression gegen die nicht-serbischen Volksgruppen im Kosovo und im Sandschak.
Kroaten werden schon seit dem 1. 5. 1994 abgeschoben. Offiziell gilt auch Kroatien als nicht-kriegführend, obgleich nach Angaben eines UN-Sprechers die reguläre kroatische Armee im Dezember 1994 in die Kämpfe in Westbosnien in der Nähe der Stadt Bosanko Grahovo eingegriffen hat. Außerdem droht Kroatien immer wieder damit, das Mandat für die UN-Blauhelme in den Serbengebieten der Krajina aufzukündigen. Der kroatische Präsident Tudjman will die "Wiedereingliederung" der Serbengebiete nach Kroatien durchsetzen - was einen neuen Krieg in Kroatien wahrscheinlich werden lässt.
Auch aus Russland und aus den Kaukasus-Staaten gibt es Kriegsdienstverweigerer in Deutschland, aus Armenien sind es ca. 5000. Anstatt also Planspiele über Bundeswehreinsätze in Berg-Karabach anzustellen oder die russische Tschetschenien-Politik halbherzig zu beklagen, könnten durch eine konkrete Förderung dieser Friedensbotschafter neue Maßstäbe gesetzt werden.
Die Initiativen
Immerhin haben die demokratischen europäischen Institutionen ihre Stimme für die Deserteure aus Ex-Jugoslawien erhoben. So fordert das Europäische Parlament in einer am 28. 10. 1993 nahezu einstimmig angenommenen Resolution die Mitgliedstaaten auf, "Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus dem früheren Jugoslawien einen Rechtsstatus zu gewähren, anstatt ihre Deportation in ihr Land zuzulassen", und sogar, "Programme und Vorhaben zu entwickeln, um Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer zu schaffen". Die parlamentarische Versammlung des Europarats verlangte am 1. 7. 1994 von den Mitgliedstaaten, "von der Abschiebung von Deserteuren und Fahnenflüchtigen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder sogar von der Androhung der Abschiebung abzusehen bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Amnestie erklärt worden ist und sie in völliger Sicherheit nach Hause zurückkehren können".
Die nationalen Regierungen und Parlamente haben diese (leider nicht bindenden) Entschließungen kalt missachtet. Aufgegriffen wurden sie aber vom "Deserteursnetzwerk", an dem sich Friedensorganisationen aus 10 Staaten (in Deutschland die DFG-VK) beteiligen, die konkrete Hilfestellungen für Deserteure "von unten" organisieren - und vom "Europäischen Bürgerforum", einer im Dezember 1989 gegründeten europaweiten Basisbewegung, die für einen Appell zugunsten der ex-jugoslawischen Verweigerer und Deserteure annährend 200 000 Unterschriften sammelte und am 9. November 1994 dem EU-Parlament in Straßburg überreichte.
Natürlich sind in Deutschland in erster Linie Bund und Länder gefordert, wenn es darum geht, die Situation der Verweigerer aus Kriegsgebieten zu verbessern - eine gesetzliche Klarstellung müsste Desertion und Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund anerkennen und für eine schnelle Beendigung der Abschiebungen sorgen. Es gibt in Bonn erste, zaghafte Bestrebungen von Bündnis 90 / Die Grünen und SPD in diese Richtung. Ein bundesweites Programm zur Ausbildungs- und Weiterbildungsförderung könnte im Sinne der Resolution des Europaparlaments dazu beitragen, den Krieg "auszutrocknen".
Vorerst ist es aber Sache der Städte und Gemeinden, die bestehenden Spielräume auszunutzen. Solche Spielräume gibt es. Bei Abschiebungen ist zwar die Ausländerbehörde vor Ort lediglich ausführendes Organ des Bundeslandes. Sie ist aber nach höchstrichterlichen Entscheidungen dennoch verpflichtet, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Abschiebung mit dem Grundsatz der Menschenwürde als oberstem Prinzip unserer Rechtsprechung vereinbar ist. Sie darf nicht "sehenden Auges" eine aufenthaltsbeendende Entscheidung treffen, die etwa humanitären oder anderen beachtlichen Gründen zuwiderliefe. Insbesondere ist im Einzelfall auch Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes (Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung) zu beachten, der den Menschenwürdegrundsatz des Artikels 1 des Grundgesetzes konkretisiert. Damit aber werden Desertion und Kriegsdienstverweigerung im Einzelfall zu wichtigen Gesichtspunkten im Rahmen des von der Ausländerbehörde durchzuführenden Prüfverfahrens. Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes gilt nämlich keinesfalls nur für deutsche Staatsbürger. So führt der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil wörtlich aus:
"Eine Entscheidung, die zur Folge hat, dass jemand gegen sein Gewissen zum Wehrdienst mit der Waffe gezwungen wird, verstößt deshalb, unabhängig davon, ob dieser Dienst im Inland oder im Ausland abgeleistet werden soll und ob der Betroffene nach deutschem Recht wehrpflichtig ist oder nicht, stets gegen Art. 4 Abs. 3 GG. Eine Auslieferung ist daher unzulässig, wenn sie dazu führt, dass der Verfolgte... noch ehe er das Land, an das er ausgeliefert wird, wieder verlassen kann, zum Wehrdienst mit der Waffe herangezogen wird und falls er aus Gewissensgründen diesen Dienst verweigert, Bestrafung zu gewärtigen hat." (Neu Juristische Wochenschrift 1997, 1599)