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Deutschland - eine multikulturelle Gesellschaft?
vonUngefähr zehn Jahre ist sie alt und stammt nicht etwa von Heiner Geissler, sondern einem Symposium der Kirchen 1980: Die Feststellung, "wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft". Diese Feststellung war die logische Konsequenz der Erkenntnis, daß ein großer Teil der zwischen 1955 und 1973 angeworbenen "Gastarbeiter" inzwischen in der BRD de facto ansässig geworden war und daß alle Versuche von Assimilationspolitik gescheitert waren.
Multikulturelle Gesellschaft als Zustandsbeschreibung
Somit ist die multikulturelle Gesellschaft zum einen nichts weiter als eine Feststellung: Es leben in Deutschland ca. 4,2 Millionen Menschen, die aus verschiedenen Ländern kommen (allein über eine Million aus der Türkei), verschiedene Sprachen sprechen, unterschiedliche soziale Techniken zur Bewältigung des Alltags einsetzen und sich an unterschiedlichen Werten, Normen und religiösen Vorstellungen orientieren. Wird diese Tatsache unter dem Gesichtspunkt der "multikulturellen Gesellschaft" gesehen, (statt unter: "Integration von Ausländern" etc.) fallen manche Beobachtungen leichter, die ansonsten recht gern in Vergessenheit geraten.
Zum einen wirkt der Begriff der multikulturellen Gesellschaft dem blichen Denkmuster "hier Deutsche- da AusländerInnen" entgegen. Als juristische Kategorie bis hinauf zum Grundgesetz ist die Zweiteilung in unheilvoller Weise wirksam, denn sie teilt unterschiedliche Rechte und Pflichten zu: AusländerInnen brauchen eine Aufenthaltserlaubnis, eine Arbeitserlaubnis, ihre politische Betätigung ist stark eingeschränkt usw. Im sozialen Sinne ist der Begriff des Ausländers/der Ausländerin hingegen höchst zweifelhaft. Mag er noch Sinn machen bei einem der Millionen TouristInnen, die jedes Jahr Deutschland besuchen, bekommt er eine diskriminierende Note, wird er auf eine Frau oder einen Mann angewandt, die/der seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, oder gar auf deren Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind.
Zum zweiten macht der Begriff es leichter, sich daran zu erinnern, daß es "die" deutsche Kultur so gar nicht gibt. Alle modernen Industriegesellschaften mit ihrer nach Millionen zählenden Bevölkerung bestehen aus verschiedenen Sektoren oder Subgruppen, die sich vielfach mehr untereinander unterscheiden als von Angehörigen der gleichen Subgruppe eines anderen Landes.
Zum dritten - einleitend wurde schon darauf hingewiesen - stellt diese Zustandsbeschreibung die Absage an alte (und gegenwärtige) politische Ansätze dar, zu versuchen, aus den "AusländerInnen" Deutsche zu machen. Wer von "Multikultureller Gesellschaft" statt von "Integration von Ausl„ndern" spricht, erkennt viel eher das Faktum an, daß Assimilation für die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen weder erfüllbar ist noch überhaupt gewünscht wird.
Multikulturelle Gesellschaft als Perspektive
Allerdings funktioniert die multikulturelle Gesellschaft derzeit nicht besonders gut. Alle erkennbar Nicht-Deutschen sehen sich permanenter Ausländerfeindlichkeit und Rassismus ausgesetzt. Die Diskriminierung, die das eine ihrer Standbeine in der subjektiven Fremdenfeindlichkeit einer großen Zahl der Deutschen hat und das zweite in der juristischen Ungleichstellung, führt zu - zunehmend gewalttätigen - Konflikten, zu Unterprivilegierung und Ghettoisierung. Deshalb ist die multikulturelle Gesellschaft - und in diesem Sinne soll dieser Begriff hier im "Friedensforum" vorwiegend begriffen werden - nicht nur ein Ist-Zustand, sondern eine Soll-Beschreibung, eine gesellschaftliche Perspektive. Als multikulturell wäre dann eine Gesellschaft zu bezeichnen, in der Menschen verschiedener Herkunft, Sprache, Gebräuchen und Religion gleichberechtigt zusammenleben und Konflikte im Dialog, ohne Einsatz von Gewalt lösen. Da sich ein solches Verständnis von Multikultur nicht allein auf soziokulturelle Bereiche beschränkt, sondern die Gleichberechtigung betont, wäre die Voraussetzung einer wirklich multikulturellen Gesellschaft die rechtliche Gleichstellung von "AusländerInnen" und "Deutschen". Menschen mit ungleichen Rechten können keinen wirklichen Dialog führen.
Kritik an der multikulturellen Gesellschaft
Kritik an dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft wird sowohl von rechts - die bekannten Warnungen vor der "Überfremdung", die vom "Heidelberger Manifest" über die Republikaner bis zur Begründung für das neue Ausländergesetz reichen - wie von links erhoben.
Die verschiedenen Kritiken von linker Seite scheinen mir gemeinsam zu haben, daß sie bestimmte - zu recht angreifbare- Aspekte und VertreterInnen des Begriffes herausgreifen und mit der Kritik an ihnen dann das gesamte Konzept verurteilen. Es können hier aus Platzgründen nur zwei dieser Kritiken vorgestellt werden:
Es gibt einige AutorInnen, für die die multikulturelle Gesellschaft nichts weiter als die Bereicherung von Kultur im engen Sinne ist: Musik, Mode, Eßkultur, Straßenbild etc. Zwar mögen die benannten Aspekte Argumente gegen "Ausländer raus" sein, zu einem interkulturellen Dialog führen sie sicher nicht.
Eine andere Angriffsfläche bieten diejenigen Neokonservativen (Geissler, Autoren der "Wirtschaftswoche u.a.), die sich für die Anwesenheit von AusländerInnen aussprechen, aber nichts grundsätzlich an der rechtlichen Diskriminierung „ändern, sondern höchstens die Einbürgerung erleichtern wollen. Ihr Hauptmotiv - und hierauf konzentriert sich die Kritik - ist allerdings, daß sie die multikulturelle Gesellschaft aus volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten (Arbeitskräftemangel in bestimmten Wirtschaftszweigen, "Vergreisung" der Deutschen") für notwendig halten.
Die Kritik an den genannten Konzeptionen multikultureller Gesellschaft ist berechtigt. Aber m.E. wird übersehen, daß sie nicht den Großteil der Diskussion repräsentieren. Wird Multikulturalität als Perspektive für die deutsche Gesellschaft (bzw. Europas als Ganzes) gesehen, eröffnet das Konzept die Chance, Strukturen zu schaffen, in denen ein gleichberechtigter Dialog geführt und die bestehenden Probleme gelöst werden können. Dies ist eine der Kernvoraussetzungen für das zivile Europa, von dem alle sprechen.
Es konnten in diesem Beitrag nur einige wenige Aspekte, die in diesem Kontext wichtig sind, angesprochen werden. Einige von ihnen sind in den nachfolgenden Artikeln ausgeführt. Andere können in der Literatur nachgelesen werden.