Die "allgemeine Wehrpflicht" abschaffen?

von Gerd Greune

Im vergangenen Jahr haben mehr als 77.000 „Wehrpflichtige" den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert und sich für den Zivildienst entschieden. Angesichts der zunehmenden Erkenntnis, daß Frieden letztlich nur ohne Waffen erfolgreich geschaffen werden kann wird die Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Soldatendienstes immer häufiger gestellt; die Bundeswehr befindet sich in ihrer tiefsten Legitimationskrise seit ihrer Gründung.

Nicht nur Pazifisten sind mit der Fortsetzung der Politik des "Wenn Du den Frieden willst, muß Du den Krieg vorbereiten" nicht länger einverstanden. Eine drastische auch einseitige Reduzierung der Truppen in der Bundesrepublik wird von vielen nicht länger als Sicherheitsrisiko angesehen. Nach den Veränderungen in der sowjetischen Politik gibt es kaum noch einen ernstzunehmenden Politiker, der die Gefahr eines sowjetischen Einmarsches als Begründung für die eigene militärische Aufrüstung an die Wand malt. Die Begründungen für die Aufrechterhaltung der Bundeswehr, ihres Personalbestandes und ihrer Bewaffnung sind überwiegend "bündnispolitischer Art", und verbunden mit der "Tradition souveräner Staaten" über eigene Streitkräfte zu verfügen".
Eine der Antworten, die auf diese neue Situation gegeben wird, ist die Forderung nach einer Umstrukturierung der Bundeswehr hin zur "Angriffsunfähigkeit" und die Forderung nach der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. Beides erscheint mir unzulänglich nicht nur aus der Perspektive eines Pazifisten, der jede Form der Gewalt und Kriegsvorbereitung ablehnt.
Angriffsunfähigkeit ist zunächst ein Versuch, die ständigen Aufrüstungsanstrengungen im Rahmen traditionellen militärischen Denkens anzuhalten und umzukehren. Der Verzicht auf Waffensysteme, die für einen Angriff geeignet sind, würde eine ganze Reihe von Systemen aus dem Verkehr ziehen - schwere Panzerwaffen, weitreichende Artillerie, weitreichende Raketen und Flugzeuge etc. Das Prinzip der "Angriffsunfähigkeit" ist sicher auch geeignet für die bevorstehenden Verhandlungen über die Reduzierung von Streitkräften in Europa (KRK) in Wien. Es handelt sich aber im wesentlichen um Umrüstungs- und nicht notwendigerweise um Abrüstungsschritte, die das Ziel verfolgen eine allgemeine und vollständige Abrüstung zu realisieren.
Die Forderung nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ist ebenso unzulänglich und wirft sofort die Frage nach einer Freiwilligen- oder Berufsarmee auf. Zurecht wird die vom Gesetzgeber verordnete Verpflichtung angeprangert, mit der Jahr für Jahr junge Männer in die Kasernen und in Uni¬formen gezwungen und ihnen 15 - demnächst 18 - Monate für sinnlose und lebendsfeindliche Aufgaben zugemutet werden, obwohl wichtigere Oberlebensaufgaben dringend angepackt werden müssen. Doch es besteht die Gefahr, daß ein richtiges Ziel - Abschaffung des Militärdienstes - durch die Diskussion um neue Streitkräftestrukturen zugedeckt wird oder sich erweitert auf die vorrangig staatsideologische Diskussion um Dienstverpflichtungen jeder Art. Ziel aller Bemühungen unserer Friedensarbeit bleibt die Überwindung der Ideologie "nur bewaffnet sei der Frieden zu sichern". Ob Verpflichtungen ziviler Art zur Bewahrung der Gesundheit, der Umwelt und der sozialen Sicherheit in der einen Form Sinn machen, sei zunächst dahingestellt.
Politische Priorität hat meines Erachtens weiterhin die Reduzierung der Waffen und die Oberwindung des militärischen (Abschreckungs)denkens. Dies erfordert einleuchtende Zwischen-Schritte.
Die DFG-VK in Nordrhein-Westfalen hat darauf aufmerksam gemacht, daß im Zusammenhang mit der beschlossenen Militärdienstverlängerung in diesem Jahr erstmals ein Einberufungstermin zum 1. September erfolgt. In diesem Jahr jährt sich dort der 50. Jahrestag der Oberfalls deutscher Soldaten auf Polen, der den 2. Weltkrieg auslöste. In einer "Kölner Forderung" zum Antikriegstag 1989 wird von der Bundesregierung ebenso wie von der Regierung der DDR gefordert, "ab dem 1. 9. für die Dauer eines Jahres darauf zu verzichten, Rekruten einzuberufen".
Am Einberufungstag - Montag, den 4. September 1989 - soll an allen Bahnhöfen, von denen Rekrutenzüge abfahren, und Kasernen, an denen Soldaten ankommen, Aktionen stattfinden, die gemeinsam mit Friedensinitiativen, Jugend-, Schülerlnnen- und Student¬innen-Organisationen vorbereitet werden.
Gleichzeitig müssen wir der massiven Werbung durch die Bundeswehr für "Freiwillige Abenteurer" etwas entgegensetzen, nicht zuletzt die Tatsache, daß in vielen sozialen Bereichen eine sinnvollere Arbeit für die Gesellschaft geleistet werden kann, als in den Kasernen. Freiwillige Versöhnungs- und Entwicklungsarbeit muß massiv gefördert werden und darf nicht länger auf wenige 100 "Auserwählte" im Jahr beschränkt bleiben, wie dies bisher der Fall ist.
Die Beseitigung der allgemeinen Wehrpflicht macht nur einen Sinn, wenn zugleich die Beseitigung der Streitkräfte damit verbunden ist. Schritte dazu sind auf der parlamentarischen Ebene: die Reduzierung der Militärausgaben für Waffen und Personal, ein einseitiger Abbau der Truppenstärke und die Verkürzung des Militärdienstes.
Die persönliche Verweigerung des Kriegsdienstes - auch die Totalverweigerung - bleibt eine wichtige Antwort auf die Perversion militärischer Aufrüstung, weil sie eine ständige Herausforderung für diejenigen ist, die immer noch an der Abschreckung festhalten. Die Verantwortung des Einzelnen, hier konsequent zu sein, d. h. auch in der Rüstungsforschung und -produktion, bei der zivil-militärischen Verplanung und der sogenannten "Kriegsvorsorge" sich zu verweigern, muß dazu führen, daß die politischen Voraussetzungen für ein neues Denken durchgesetzt werden, in dem Militärdienst und Streitkräfte keinen Platz mehr haben.

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Gerd Greune ist Vorsitzender von ifias Brussels.