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Die türkischen Samstagsmütter
Die bittere Konfrontation mit der Wahrheit
vonDas gewaltsame Verschwindenlassen politischer Gegner ist eine besonders grausame Praxis terroristischer Gewaltherrschaft, die weltweit verbreitet ist. In Nazideutschland wurden mit verdeckten Operationen die Opfer spurlos beseitigt und gleichzeitig Angehörige und Sympathisanten eingeschüchtert. Von zahllosen rechten wie linken Militärregimes wurden die Praktiken übernommen, so in Guatemala, Kolumbien, Chile und vor allem in Argentinien, wo in den Jahren der Militärdiktatur von 1976 -1983 ca. 30.000 Menschen ermordet und heimlich begraben oder betäubt aus Militärflugzeugen über dem offenen Meer abgeworfen wurden.
Auch in der Türkei hat das Verschwindenlassen politischer Gegner Tradition: Am 28.1.1921 wurde Mustafa Suphi, der Gründer und Vorsitzende der türkischen Kommunistischen Partei, zusammen mit 15 Genossen von „Unbekannten“ ermordet und anschließend bei Trabzon im schwarzen Meer versenkt.
Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde die schmutzige Geschichte des Verschwindenlassens neu geschrieben. „Unbekannte Täter“ haben heimlich tausende Menschen ermordet, deren Leichname bis heute verloren gegeben sind - ähnlich wie in Argentinien. Die Festnahmen erfolgten manchmal verdeckt, oft aber durch bewaffnete Männer auf offener Straße, gegen die Familienangehörige oder Zeugen machtlos waren. 13 Fälle wurden zwischen 1980 und 1990 in verschiedenen türkischen Regionen gezählt.
Danach nahmen die Verbrechen in erschreckendem Ausmaß zu. Im Namen der Einheit und Unteilbarkeit des Landes wurde ohne Unterschied alles zivile Leben zum militärischen Ziel erklärt. Der Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten ermöglichte die fortgesetzte Eskalation der Gewalt zwischen kurdischen Rebellen, die ihrerseits die Zivilbevölkerung einbezogen, und der staatlichen „Terrorbekämpfung“, die nicht nur mittels Militär und Polizei, sondern vor allem durch verdeckte, paramilitärische Gruppierungen vorging. Diese führten, mit unbeschränkter Vollmacht, Waffen und Geld ausgestattet, unter dem Kürzel JITEM den Krieg nicht gegen die PKK, sondern gegen die unbewaffnete Zivilbevölkerung.
Im Rahmen von „Operationen“ wurden Dörfer niedergebrannt und ihre Bewohner zwangsweise vertrieben, unzählige Dorfbewohner erschossen und anschließend in den Nachrichten zu „bewaffneten Terroristen“ erklärt. Die Einsatzkräfte rühmten sich dieser Taten, und in der staatlichen Propaganda erschienen sie als - wenn auch namenlose - Helden. Eines ihrer prominentesten Opfer war Vedat Aydın, ein charismatischer Intellektueller, Vorsitzender der kurdischen HEP und Gründungsmitglied des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir: Er wurde am 5. Juni 1991 um Mitternacht vor den Augen seiner Frau von einem Todeskommando gewaltsam entführt und 3 Tage später unter einer Brücke von Folter entstellt gefunden.
Die Samstagsmütter organisieren sich
Allein im Jahr 1994 wurden vom türkischen Menschenrechtsverein 299 Fälle des Verschwindenlassens registriert. Da die Regierung und die Justiz sich zu den Morden durch unbekannte Täter indifferent verhielten oder schwiegen und sich diese brutale Praxis unübersehbar ausweitete, musste etwas gegen die Verzweiflung unternommen werden. Mütter der Opfer, angeführt durch Emine Ocak, Mutter von Hasan Ocak, einem 30-jährigen Lehrer aus Istanbul, der am 21. März im Beisein von Augenzeugen verschleppt und nach 55 Tagen auf einem Friedhof für namenlose Opfer gefunden wurde, entschieden sich spontan am Muttertag 1995 zur öffentlichen Klage. Sie versammelten sich von da an jeden Samstag vor dem Galatasaraygymnasium in Istanbul, friedlich, schweigend, mit Fotos ihrer Lieben, um auf diese Weise ihre Forderung sichtbar zu machen: die Verbrechen aufzuklären und die Schuldigen vor Gericht zu bringen. Sie machten es wie die Mütter und Großmütter in Argentinien, die in der dunkelsten Zeit der Militärdiktatur regelmäßig die Plaza de Mayo umrundeten: direkt vor dem Regierungspalast, unter massivem Druck der Staatsmacht, mit weißen Kopftüchern, um so den Henkern und Scharfrichtern die Scham ins Gesicht zu treiben.
Das erste Treffen der „Samstagsmütter“ wurde außer von der Polizei von kaum jemandem beachtet und es gab nur zwei kleine Artikel in der Presse. Aber schon am 8. Juli gab es den ersten Angriff eines Einsatzkommandos. Auch die türkischen Mütter wurden von der Polizei beleidigt, bedroht, mit Knüppeln geschlagen, über den Boden gezerrt, doch sie setzten trotzdem etwa drei Jahre lang beharrlich Woche um Woche teils hoffnungsvoll, teils bedrückt ihre stummen Proteste fort, oft unter Einsatz ihrer letzten Kräfte, ohne die Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Angehörigen, aber im Wissen, dass nur so die scheußlichen Verbrechen ans Licht gebracht werden können. Und sie schafften es, sich mit der in vielen Ländern von Lateinamerika, Asien und Nordafrika bereits bestehenden „Allianz gegen das Verschwindenlassen“ (1) zu vernetzen.
Es gab Lichtblicke: internationale Preise und Anerkennungen, durch die Liga für Menschenrechte in Berlin, durch amnesty international ... Es wurden Songs auf die Mütter vom Galatasaraygymnasium komponiert, und diese Solidarität hat sie bestärkt. Aber trotz der Unterstützung, die jetzt auch aus Teilen der Gesellschaft kam, blieb die bleierne Ungewissheit um das schreckliche Schicksal der Angehörigen bestehen. Eigentlich hatte die Gesellschaft nicht den Mut, den Samstagsmüttern in die Augen zu sehen.
Im Mai 1998 trafen sich die Großmütter von der Plaza de Mayo aus Argentinien in Istanbul mit den Samstagsmüttern. Dieses Ereignis setzte ein optimistisches Fanal, zumal die Großmütter die eigentlichen Begründerinnen der Verschwundenbewegung sind. Aus heutiger Sicht zeigt sich, dass ihr mehr als 30-jähriges zähes Ringen die gesellschaftliche Kultur ihres Landes nachhaltig verändert hat. Nach diesem Besuch steigerte die Staatsmacht ihre brutale Abwehr gegen die allwöchentlich stattfindende friedliche Menschenrechtsdemonstration. Unter Missachtung des von der türkischen Verfassung garantierten Versammlungsrechts wurde aus angeblichen Sicherheitsgründen die Versammlung am Galatasaraygymnasium sowie das Recht auf Presseverlautbarungen von den gewaltsam vorgehenden Sicherheitskräften verweigert.
In den sieben Monaten danach wurden insgesamt 431 Personen von mehreren Stunden bis zu fünf Tagen in Polizeihaft genommen, geschlagen, drangsaliert, über den Boden geschleift und beleidigt. Sie wurden angeklagt wegen Widerstands gegen die Polizei und Verletzung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts. Frauen, die weder lesen noch schreiben konnten, kamen wegen „Anschreibens von Parolen an die Zellenwände“ vor Gericht.
Am 13. März 1999, ihrem 200. Zusammentreffen, wollten sich die Samstagsmütter angesichts des zunehmenden Drucks in Beykoz, dem „Wald der Verschwundenen“ treffen. Aber auch dort gab es wieder Behinderungen und Festnahmen. Emine Ocak, die einen Baum im Namen ihres Sohnes gepflanzt hatte, wurde zusammen mit 10 weiteren Personen in Polizeihaft genommen und dort so schwer misshandelt, dass sie noch lange Zeit darunter zu leiden hatte. Seitdem sind angesichts der Verbote, Anzeigen, Verhaftungen und Gerichtsverfahren regelmäßige Demonstrationen nur ansatzweise möglich, deshalb wurden die Treffen klandestin auf verschiedene Punkte im Stadtgebiet verteilt. Auch die Protestformen sind subtiler geworden, denn obwohl die Familienangehörigen physisch und psychisch ausgelaugt sind, ist ihre Widerstandskraft noch nicht gebrochen. Noch immer sind tausende Menschen vermisst, und neue Fälle werden laufend registriert. Erkundigungen bei den Behörden erbringen nur die immergleichen dürren Auskünfte: „die genannte Person ist nicht bei uns“, oder „er/sie wurde freigelassen“.
Die Aufklärung beginnt
Das Schweigen wird allmählich gebrochen, denn einige der Mitglieder von JITEM und ähnlichen Gruppen haben angefangen zu erzählen. Unter dem Siegel der Anonymität sagen sie aus, wie und wo sie Menschen getötet und verscharrt haben, während der Staat auch hierzu beharrlich schweigt. Abdülkadir Aygan, ein ehemaliger PKK-Kämpfer, der auf die andere Seite gewechselt und zu einem der gefürchtetsten Auftragsmörder unter JITEM geworden war, hat bereits mehr oder weniger offen zugegeben, dass er in den Jahren seiner Tätigkeit eine große Zahl von Menschen ermordet hat. Wie viele es waren, könne er nicht sagen, meinte aber, „soviel ich weiß, habe ich in Diyarbakir in 10 Dienstjahren zwischen 600 und 700 Vollstreckungen durchgeführt“. Aygan hat zugegeben, dass er im Auftrag von JITEM höchstpersönlich den angesehenen kurdischen Schriftsteller Musa Anter ermordet hat.
Einige der Ereignisse, die seit Jahren ungeklärt sind, werden durch den derzeitigen Ergenekon-Prozess zu Tage gefördert. Seitdem werden nämlich in den kurdischen Gebieten zahllose Leichengruben gefunden. Inoffiziell wird eingeräumt, dass von staatlichen Organen (dem „tiefen Staat“) Massenmorde und gesetzwidrige Hinrichtungen angeordnet wurden. Die Angehörigen der Verschwundenen verlangen, dass die Beschuldigten, die in diesem Verfahren vor Gericht stehen, und alle, die in den 90er Jahren in den kurdischen Gebieten als Verantwortliche im Dienst des Staates standen, auch Verwaltungs- und Sicherheitsbeamte, wegen der begangenen Verbrechen angeklagt werden. Sie verlangen Aufklärung über die Opfer, die zu Tausenden in Säuregruben, Massengräbern, in Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen oder wie in Argentinien durch Abwurf von Militärhubschraubern beseitigt worden sind. Und sie verlangen mit Nachdruck, dass die Gräber für unbekannte Tote auf dem Friedhof der Gemeinde Silopi geöffnet werden, auf dem angeblich bis zu 200 oder mehr Mordopfer liegen.
Nach mehr als 200 Wochen Zeugenaussagen im Ergenokonverfahren und Hinweisen von Angeklagten ist es Zeit, alle Fakten auf den Tisch zu legen und die Verantworlichen zu benennen. Es ist aber zu befürchten, dass das Interesse des Staates und der Öffentlichkeit an diesem Verfahren nicht groß genug ist, um alles ans Licht zu bringen. Nimet Tanrikulu, die Sprecherin der Samstagsmütter, sagt: „Auch wenn es noch so schwer ist, immer wieder über die Tragödie des Verschwindenlassens Zeugnis abzulegen, muss dies wieder und wieder geschehen; nur dieses historische Manifest wird gegen die ungerechte und grausame Amnesie ankämpfen; wir dürfen nicht zulassen, dass es vergessen wird, denn nur durch unser Erinnern überwinden wir die Scham“ (2).
Anmerkungen
(1) Diese Allianz wurde von FEDEFAM angeführt und hat schließlich am 20.12.2006 zur Verabschiedung des UN-Abkommens gegen das Verschwindenlassen geführt.
(2) Tükenmez, mayis-haziran 2009, S. 46-49