Die Castorkontroverse - Hintergründe

von Wolfgang Ehmke
Hintergrund
Hintergrund

Das große Aufräumen begann, gleich nachdem der dritte Castortransport Anfang März `97 das Zwischenlager Gorleben erreicht hatte. Tunnel wurden verfüllt, Straßen repariert, Zäune gerichtet, Scherben und Müll zusammengekehrt. Der Castortransport hinterließ Spuren. Tief eingegraben hat sich das Bild des Ausnahmezustands im Wendland. Turnhallen wurden beschlagnahmt, protestierende Kinder mit ihren Eltern und Lehrern wurden herausgetragen. Ein Demoverbot wurde verhängt, am Tag X wurde es den Dorfbewohner/innen der Route Quickborn und Langendorf zeitweilig untersagt, den Ort zu verlassen, die Straßen wurden für jeglichen öffentlichen Verkehr gesperrt. Im Wendland leben ungefähr 50.000 Menschen. Jugendliche und Alte, Bauern und Geschäftsleute stellten sich quer.

Ausnahmezustände

Schulen und Läden blieben verwaist. 14.000 BGS-Beamte und Polizist/innen kamen allein im Landkreis Lüchow-Dannenberg zum Einsatz, bilanzierte der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski am "Tag danach", rund 30.000 Uniformierte waren bundesweit zum Schutz der Atommülltonnen vor dem Volk eingesetzt. Die Kosten für den größten Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte liegen bei 111 Millionen DM. Der politische Preis ist größer. Die Schlußszene ging um die Welt: Rund 8.000 Menschen verstopfen mit einer gewaltfreien Sitzblockade die Zufahrt zum Castorverladebahnhof, von wo aus der SiXpack die letzten 19 Straßenkilometer rollen wird. Sie werden bei Minusgraden von Wasserwerfern durchnäßt, getreten und am Ende mit dem Knüppel traktiert. Helikopter landen wenige Kilometer entfernt, 20 Polizisten stürtzen heraus und zerstechen die Reifen ineinander verkeilter Traktoren der Bauernblockade in Splietau. Es ist ein Racheakt der Polizei, die Täter entkommen unerkannt.

Zur Durchsetzung des Rechts der Atomkraftbetreiber bricht der Rechtsstaat Recht und Gesetz.

20.000 Beamte will der nordrheinwestfälische Innenminister Kniola (SPD) nun aufbieten, um es seinem niedersächsischen Amtskollegen Glogowski nachzutun, wenn 6 Castorbehälter nach Ahaus ins dortige Zwischenlager transportiert werden. In Neckarwestheim und Gundremmingen werden die Castorbehälter beladen. Es scheint, der Count-down läuft erbarmungslos und unwiderruflich. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, daß sich die Ahaus- und Gorlebenbilder ähneln werden: Demonstrationen und Sitzblockaden sind angekündigt. Der Staat wird Stärke demonstrieren, und die Menschen zeigen Charakter. Die Frage ist: Warum berufen sich die Herren Innenminister nicht darauf, daß dieses Unterfangen im Interesse der Privatwirtschaft nur mit unverhältnismäßigem Aufwand unter Verletzung elementarer Grundrechte möglich wird? Ist Rot-Grün mit dem Koalitionszwist um Garzweiler so sehr gestreßt, daß dieser zusätzliche elementare Konflikt das Bündnis überfordert?

Polizeigewalt

Und so könnte es gehen: Wer findet endlich den Mut, das sogenannte "öffentliche Interesse" umzudefinieren? Angeblich liegt es im "öffentlichen Interesse", die Transporte zu sichern. Selbst Bundesligaspiele müssen ausfallen und umverlegt werden, weil der nächste Castor-Six-Pack rollen soll? Wer hat endlich den Mut zu sagen, so geht es nicht mehr! Ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat kann nicht dulden, daß Hoheitsorgane im Interesse einzelner Privater Grundrechte und Menschenwürde sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mißachten und dem - ungeschriebenen - Staatsziel "Atomwirtschaft" opfern. Was kann ein grüner Polizeipräsident in Münster, der zwar nicht den Oberbefehl über die Truppenparade zu führen hat, sie aber politisch zu verantworten hat, anderes bewirken, als Mäßigung predigen und am Ende doch den Vollzug des Atomstaates besichtigen? Warum finde ich so harte Worte für das sich zusammenbrauende Szenario? Die Antwort ist einfach: weil wir im Wendland dieses Szenario schon dreimal erlebt haben und weil es nicht um partikulare Ereignisse geht. Bereits Ende März droht die Wiederholungsgefahr, wenn der größte Atomzug der BRD auf die Strecke geht, dabei die Grundrechte auf der Strecke bleiben. In den vergangenen Jahren dokumentierten Demonstrationsbeobachter/innen des Komitees für Grundrechte und Demokratie und der Pastor/innen das Protestgeschehen im Wendland. Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß es hin und wieder zu Steinwürfen und zu Sachbeschädigungen durch Demonstranten kam. Aber das waren Randerscheinungen. Hat sich ein Atomzug in Bewegung gesetzt, so kann es nicht mehr um "Verhinderung" von Atommülltransporten im Sinne instrumentellen Selbstvollzugs gehen, sondern um "Behinderung". Das ist nichts anderes als die klassische Meinungsäußerung, um gegen die Fehlentwicklung der Energiepolitik zu protestieren. Dokumentiert wurden in erster Linie Übergriffe der Polizei. Die bündnisgrüne Landtagsfraktion erstattete deshalb im Dezember 97 Strafanzeigen gegen Polizeibeamte. Weit über 300 Menschen wurden verletzt, der Rettungswagen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) fuhr 27 Einsätze, 37 Menschen wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Ärzte und Sanitäter versorgten eine Vielzahl von Verletzten vor Ort. Die Liste der 140 Leicht- und Schwerverletzten allein als Folge der Räumung der gewaltlosen Sitzblockade "X-Tausendmal quer" reicht über Nasenbeinfrakturen, Trommelfellperforationen, Strangulationsmalen am Hals, Platzwunden, Quetschungen und Schock bis zu Rippen- und Unterarmfrakturen, dies liegt der Strafanzeige zugrunde.

Demo-Verbote

Immer wenn es brenzlig wurde im Wendland, also im Vorfeld geplanter Castortransporte oder auch nur aus Anlaß von Aktionstagen, wurde vom Landkreis Lüchow-Dannenberg oder seitens der Bezirksregierung Lüneburg das Demonstrations- und Versammlungsrecht eingeschränkt. In Ahaus soll dieses polizeitaktische Konzept erneut Anwendung finden. Das war schon in den Jahren 1984, als erstmalig Atommüll in Gorleben eingelagert wurde, und 1985 anläßlich von Aktionstagen der Fall. Das war in den Jahren 1994 - 1997 wiederholt der Fall. Diese Verbote fanden bei den Protestierenden allerdings kaum Beachtung. Als Folge gab/gibt es eine Vielzahl von Ordnungswidrigkeitenanzeigen, die die Gerichte abzuarbeiten haben. Das Verwaltungsgericht Lüneburg hat jedoch am 30. April 1996 die entsprechenden Verfügungen der Jahre 1994/95 für rechtswidrig erklärt. Allerdings steht eine Berufungsverhandlung unmittelbar bevor, weil die Bezirksregierung Lüneburg dieses Urteil nicht hinnehmen will.

Für uns geht es dabei - wie schon in der ersten Instanz - um Grundsätzliches, die Grundrechte.

Castor und Pollux

Der Castor, um den es sich immer wieder dreht, ist kein Fabelwesen, das der griechischen Mythologie entsprungen ist, sondern steht für Cask for storage of radioactive material. Ein gußeisernes Ungetüm, je nach Baureihe zwischen 60 und 120 Tonnen schwer, in dem abgebrannte Brennelemente oder verglaste hochradioaktive Abfälle aus der Wiederaufarbeitung transportiert sowie - mangels Endlager - dauerhaft "zwischengelagert" werden sollen. Und doch schimmert in der Namensgebung mythologisches hindurch. Gäbe es sonst den Pollux, den Behälter, der für die Endlagerung der heißen Fracht konstruiert wurde? Der Castor, also "Retter in höchster Not", soll die Atomindustrie aus höchster Not, dem Atommülldilemma, befreien. Im November 1961 ging der erste (Versuchs-)Reaktor in Kahl mit 15 Megawatt Leistung ans Netz. Joachim Radkau zitiert in seinem Grundlagenwerk mit dem Titel "Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft" einen Bericht des zuständigen ministeriellen Arbeitskreises aus dem Jahr 1961, welche geringfügige Bedeutung der Atommüllfrage beigemessen wurde. Es heißt dort, zu berücksichtigen sei "nicht zuletzt die Tatsache, daß mit einem einmal angelegten Lager eine säkuläre Anhäufung radioaktiven Materials geschaffen" werde; dies alles gebe der Endlagerung "eine gewisse Endgültigkeit", und daher solle sie "nicht unter Zeitdruck getroffen und wohl erwogen werden" (Radkau, S. 302). Es sollte noch rund 15 Jahre dauern bis zur Novelle des deutschen Atomgesetzes im Jahr 1976, in dem seitdem verlangt wird, daß radioaktive Abfälle entweder schadlos zu verwerten oder in eine Anlage des Bundes zur Endlagerung zu verbringen sind. Die Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle war gar nicht vorgesehen, sie war eine Notlösung mangels Entsorgungsvorsorge. Erst vor vier Jahren, 1994, wurde die Praxis der Brennelementzwischenlagerung im nachhinein legalisiert durch eine entsprechende Novelle des Atomgesetzes.

Ent-Sorgung?

Die Auseinandersetzung um Castortransporte ist vielschichtig motiviert. Es geht um Transportrisiken und Unfallgefahren, es geht um die sträflich unterschätzte Schadwirkung der Neutronenstrahlung für das Begleitpersonal und Anwohner/innen der Transportrouten. Wir fragen auch, was passiert "danach": Wie weit schreitet bei einer Dauerlagerung mit entsprechend dauerhafter radioaktiver Bestrahlung der Behälter aus Sphäroguß die Materialermüdung voran, in welchem Zustand befinden sich dann die Brennelementhüllrohre, hält das Deckelsystem die Radioaktivität zurück? Uns geht es auch um Grundsätzliches, um das Atommülldilemma, denn ein Entsorgungsbeitrag ist es eben nicht, die Behälter für 40, 50 oder 100 Jahre in ein, zwei oder drei Hallen wie in Ahaus, Greifswald oder Gorleben abzustellen. Besorgnis erregt die Konzentration hochradioaktiver Abfälle in externen Zwischenlagern. Könnte dies nicht auch ein politisches Druckmittel für Erpresser oder Aktionsziel für Attentäter in globalen Krisensituationen sein? Werden beispielsweise in Gorleben alle 420 Stellplätze belegt, so wird dort das schier unvorstellbare radioaktive Inventar von 40 Atomkraftwerken konzentriert. Gorleben ist immer noch das (un-)heimliche Atommüllzentrum der Bundesrepublik Deutschland mit einem Faß- und Brennelementzwischenlager, einer Atommüllfabrik (der Pilot- Konditionierungsanlage) und der Endlagerbaustelle. In einer kürzlich publizierten Studie der Universität Köln plädiert deren Autor Ingo Hensing gar dafür, den Salzstock Gorleben-Rambow aus Kostengründen als internationales Atommüllgrab zu nutzen. Mit der Einlagerung hochradioaktiver Brennelemente in Ahaus kommt für die Atomindustrie ein zweiter Stellplatz hinzu.

Widerstand

Die Anti-Atom-Bewegung ist nicht so blind, wie seitens des Öko-Institutlers Michael Sailer unterstellt wird. Mit den Blockaden in Gorleben, so argumentierte er, würde der Ausstieg aus der Atomenergie nicht erzwungen. Wir würden lediglich einen Standort "versperren", gleichzeitig aber die Autobahn in Richtung Wiederaufbereitungsanlage La Hague und Sellafield übersehen. Richtig wäre die Kritik nur, wenn es darum ginge, die Rückführung der WAA-Abfälle zu blockieren. Die Verträge mit der französischen Plutoniumabscheideanstalt La Hague bzw. der britischen BNFL haben nicht wir geschlossen, also tragen wir auch keine Verantwortung dafür. Wir fordern schon lange das Ende der Plutoniumwirtschaft, das Verbot der Wiederaufbereitung. Wir sagen auch: es ist richtig, den Müll in "nationaler Verantwortung" zu belassen. Deshalb haben wir die Blockaden abgebrannter Brennelemente in Krümmel, Brunsbüttel und anderswo unterstützt. Aktionen gegen die WAA-Transporte gab es in Neckarwestheim und Gundremmingen. Laßt den Müll, wo er anfällt! Früher sind wir gegen festungsartige Mauern in Brokdorf, Kalkar und Wackersdorf angerannt und haben den Sofortausstieg gefordert. Das erstere haben wir satt (das mit den Mauern), das zweite (das mit unseren Forderungen) natürlich nicht. Der Castor hat die alte Symbolik der Anti-AKW- Bewegung der 70er und 80er Jahre, den "Kampf gegen`s AKW / gegen die WAA" ersetzt. Die reisenden Atommülltonnen sorgen in den 90er Jahren für ein flächendeckendes Aktionsprogramm, sie vernetzen die Initiativen. Dann und wann öffnen sich die Pforten der atomstromproduzierenden Hochsicherheitstrakte, wenn wieder so ein "Retter" auf die Reise geht, damit eröffnen sich uns vielfältige Handlungsperspektiven. Mit Blockaden, Gleisbesetzungen und Demonstrationen gegen die Castortransporte, mit der Störung des nuklearen Alltags, zu dem das Hin- und Herschieben des Atommülls gehört, rücken wir ins öffentliche Bewußtsein, daß es für die Risikotechnologie Atomkraft keine Akzeptanz im Lande gibt, treiben wir die Kosten für die Nutzung der Atomkraft ein wenig in die Höhe. 50 Millionen DM kostete der erste Polizeieinsatz am Tag X im April 1995, 90 Millionen waren es beim Tag xý im Mai 1996, 111 Millionen waren es an NiX3. Wer nicht hören will, muß zahlen.

Gefahren-Prognose

Die Durchsetzung der Castortransporte mit quasi-militärischen Mitteln war stets flankiert von flächendeckenden Versammlungsverboten, die seitens der Bezirksregierung Lüneburg und des Landkreises Lüchow-Dannenberg verordnet wurden. Ein ähnliches Konzept ist für Ahaus zu erwarten. Bereits im Sommer 1994, als die Einlagerung eines ersten Castorbehälters aus dem AKW Philippsburg unmittelbar bevorstand, dann im November des gleichen Jahres, kurz bevor das Verwaltungsgericht Lüneburg den Klagen gegen den Sofortvollzug zur Einlagerung ein letztes Mal statt gab, am Tag X im April 1995 "natürlich" auch etc. Im Ernstfall wurde per Allgemeinverfügung die "Beschränkung von öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen in den Landkreisen Lüneburg und Lüchow-Dannenberg" bekanntgegeben. Auch wenn die Behörden in Nuancen, z.B. durch Fettdruck und Hervorhebungen, in den seitenlangen und in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung kaum nachvollziehbaren Verfügungen Akzentverschiebungen vornahmen, um dem Vorwurf zu begegnen, es sei ein generelles Versammlungsverbot ausgesprochen worden, das Strickmuster der Verfügungen glich sich immer wieder. Bereits mehrere Tage im Vorfeld eines Transporttermins war es verboten, die Bahnflächen, "und zwar in einer Entfernung von bis zu 50 m, gemessen ab Gleisachse", Brücken und Unterführungen zu betreten. Das galt in ähnlicher Form auch für die 19 Straßenkilometer, die der Castor nach dem Umladen von der Bahn auf einem Straßentransporter zurückzulegen hatte. Im Bereich des Brennelementzwischenlagers galt sogar eine 500m-Verbotszone. In Ahaus soll die "Bannmeile" noch weiter ausgedehnt werden. Begründet wurde das Verbot in erster Linie mit einer Gefahrenprognose. Vor allem Bahnanschläge, die mit dem Demonstrationsgeschehen im Wendland nichts zu tun haben, wurden aufgelistet, um zu unterstellen, daß Demonstrationen gegen den Castor einen kollektiv unfriedlichen Verlauf nehmen würden. Die Aufrufe der Bürgerinitiative Umweltschutz, der Bäuerlichen Notgemeinschaft oder zahlreicher Einzelpersonen - "Stop Castor Tag X! Wir stellen uns quer!" - "Wir stoppen den Castor, bevor er losfährt" - "Wir versuchen den Castor-Transport mit allen unseren Kräften zu behindern!" - mußten für die Gefahrenprognose herhalten. Angedroht wurde allen Menschen, die das Versammlungsverbot mißachten, eine Geldbuße bis 1000 DM. Wer als Veranstalter oder Leiter einer verbotenen Versammlung in Erscheinung tritt, mußte demnach mit "Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe" rechnen (alle Zitate stammen aus der Verbotsverfügung vom 2.5.96).

Atombombe?

Das Szenario verdient die Etikette Atomstaat. Die staatliche Unterstützung der Atomkraftnutzung erstreckt sich nicht allein auf die gesetzliche Förderung einer spezifischen Form der Energiegewinnung, sondern auch auf eine - wie auch immer - geordnete Beseitigung der Abfälle, formaldemokratisch geregelt durch das Atomgesetz, ein Technologieförderungsgesetz, das am 1.1.1960 in Kraft trat. Die bundesrepublikanische Geschichte, die Ära des Kalten Krieges holt uns immer wieder ein, wenn man erinnert, daß die Verabschiedung des Atomgesetzes jahrelang verzögert wurde, weil Franz Josef Strauss als Atomminister der Jahre 1955/56 weniger auf die kommerzielle Nutzung der Atomspaltung, sondern auf deren nuklearstrategische Bedeutung setzte. Der Entstehung des Atomprogramms haftet die Option der militärischen Nutzbarkeit an, die Heftigkeit, mit der um das Atomprogramm gestritten wird, zeugt davon, daß maßgebliche Kräfte in der Bundesrepublik auch heute noch nicht allein kommerzielle Ziele, sondern Großmachtinteressen mit der Atomkraft verbinden.

Atomstaat contra Grundrechte

Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit bleibt - im wörtlichen Sinne - auf der Strecke, denn ubiquitäre Gefahren, die dem Transportrisiko wie zum Beispiel der Neutronenstrahlung innewohnen, können von einzelnen Menschen nicht beklagt werden, so die jetzige Rechtssprechung. Das Grundrecht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit bleibt als nächstes auf der Strecke, schutzwürdig ist allein das "Privatinteresse" der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) auf einen reibungslosen Ablauf des Transports. Dazu werden zig-tausende Polizist/innen und BGS-Beamte eingesetzt, die in Ausübung ihres Dienstes sich außerdem dem Vorwurf ausgesetzt sehen, Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Sachbeschädigung begangen zu haben. Rund 120 gut recherchierte Anzeigen haben wir im August 1996 gegen die Staatsdiener/innen bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg erstattet, um dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben.

Grundrecht der Versammlungsfreiheit

Das Verwaltungsgericht Lüneburg hat nun - wie oben bereits angemerkt - am 30. April 1996 nach mündlicher Verhandlung gegen die Versammlungsverbote im Jahr zuvor die Allgemeinverfügung als rechtswidrig bezeichnet. In der Begründung des Gerichts heißt es: "Zum Schutzbereich des Art. 8 GG gehört ergänzend zu dem bereits durch Art. 5 GG geschützten Recht der freien Meinungsäußerung die Gewährleistung, durch Kommunikation Meinungen zu bilden und durch die Anwesenheit der versammelten Menschenmenge selbst sowie durch die Form und Art der Darstellung der Meinungen, des Lebensstils oder des Weltverständnisses etc. der Versammelten, dieser "Botschaft" Ausdruck zu verleihen und auch Eindruck erzeugen zu können. Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit gebührt in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang. Denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes" (VG Lüneburg, Aktenzeichen 7 A 50/95). Die Unterstellung, unsere Veranstaltungen hätten einen kollektiv unfriedlichen Verlauf genommen, wurde vom VG Lüneburg ebenfalls zurückgewiesen. Bleibt nachzutragen, daß der Rechtsstreit natürlich längst in die nächste Runde gegangen ist und wir vor dem OVG Lüneburg erneut um unsere Grundrechte streiten müssen.

Polizeirecht contra Grundrechte

Einige Kernsätze dieses Urteils nehmen direkt Bezug auf das sogenannte "Brokdorf-Urteil" des BVerfG vom 14.5.85. Wir sind entschlossen, in dieser rechtlichen Auseinandersetzung, sofern es nötig wird, bis in die letzte Instanz zu gehen. Denn wir sind es, die ein modernes Verfassungsverständnis mit Leben erfüllen, weil die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens sich auch in unserer vielschichtigen und phantasievollen Demonstrations- und Protestkultur spiegelt. So stehen wir derzeit vor einem Paradox. Während in anderen gesellschaftlichen Fragen wie z.B. dem Asylrecht Grundrechte zur Makulatur verkommen, vollzieht das BVerfG in der Frage des Demonstrationsrechts eine gesellschaftliche Entwicklung mit, die in dem "Sitzblockadenurteil" vom 10.1.95 eine konsequente Fortsetzung fand. Die Verfassungsrichter machen nämlich deutlich, daß zu einer verfassungskonformen Interpretation des Gewaltbegriffs des 240 StGB auch die Einschätzung gehört, wie sich das Demonstrationsgeschehen in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Es ist eben antiquiert, in den 90er Jahren von Aufmärschen mit einem/r Versammlungsleiter/in im Stile der 50 Jahre auszugehen. Jene "Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens" bringt mittlerweile andere, neue Formen des Protests hervor. Das BVerfG verhält sich in diesem Konflikt deskriptiv, nicht normativ, wenn es rügt, daß der 240 StGB nicht dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht. Sitzblockaden sind seitdem nicht per se verboten, vorausgesetzt, die politische Motivation der Blockierer/innen wird nicht als verwerflich eingestuft und/oder sie bezwecken nicht den instrumentellen Selbstverzug. Mehr Freiheit also für Demonstrant/innen und Sitzblockierer/innen? Weitgefehlt! Denn es gibt eine massive Gegentendenz zur Liberalisierung des Demonstrations- und Versammlungsrechts, die sich in den Gefahrenabwehrgesetzen der Länder und der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) niederschlägt. Das Polizeirecht hebelt die mühselig erstrittenen Grundrechte wieder aus. So hat der Niedersächsische Landtag mit seiner SPD-Einstimmen-Mehrheit am 20.5.96 eine Novelle des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes beschlossen, die vorsieht, daß Kontrollstellen der Polizei "zur Verhütung" einer Reihe von "Straftaten" eingerichtet werden können, daß Platzverweise ausgesprochen werden können und daß eine präventive Ingewahrsamnahme zur Vereitelung von Straftaten ("Freiheitsbeschränkung") von bis zu vier Tagen ermöglicht. In der Debatte um die Verschärfung des Gefahrenabwehrgesetzes mußten die Punkertreffen in Hannover ("Chaostage") 1995 herhalten. Im Sommer 1996 fand das neue Gesetz unter großem Mediengetöse erstmalig Anwendung. Wehe, wenn sich jemand unkonventionell kleidet, bunte Haare trägt oder Bier aus Dosen trinkt. Uns allen ist aber bewußt, daß die Vertreibung von Punker/innen nur ein Vorgeplänkel ist, daß wir als nächstes zu Chaoten hochstilisiert werden, wenn der Anti-Atom-Protest nicht mehr "kontrollierbar" sein sollte. Bundesinnenminister Kanther hat uns schon einen Vorgeschmack dessen gegeben, wie der Bürger/innenprotest im Wendland demnächst diskreditiert wird, wenn er von uns als "unappetitlichem Pack" sprach. Einen Vorgeschmack auf die "heiße Phase" des Castortransports nach Ahaus hatte das Agieren der Polizei im Herbst 1997 bei den,Schienenaktionstagen" bereits gegeben, wo regelrechte Treibjagden auf Demoteilnehmer/innen veranstaltet wurden und die Leute einfach präventiv eingesperrt wurden - eine (polizei-)rechtliche Begründung läßt sich immer finden. Hier sehe ich eine große Gefahr: die Exekutive maßt sich Befugnisse der Legislative an!

Mut und Zivilcourage

Der BGH (Aktenzeichen VI ZR 348/96) hat zu Blockadeaktionen angemerkt, daß zielgerichtete Aktionen, die auf - eine undefinierte längere - Dauer angelegt sind, nicht durch das Versammlungsrecht gedeckt seien und zivilrechtliche Haftungsansprüche nach sich ziehen können. Im konkreten Fall ging es um Dresdener Umweltschützer, die Baumaschinen blockierten, um den Bau eines Gewerbeparks in einem vermeintlichen Naturschutzgebiet zu verhinderen. Sie sollen gesamtschuldnerisch DM 62.909,66 blechen für den "Arbeitsausfall". In Gorleben sollen 14 Atomkraftgegner/innen 127.000 DM "Stillstandskosten" aufbringen, weil als Folge der Besetzung der Förderschächte auf dem Gelände der Endlagerbaustelle der Förderbetrieb eingestellt wurde, und Greenpeace soll für die Bewachungskosten am AKW Würgassen zahlen, die angeblich nötig waren, um mit einer Blockade den Abtransport abgebrannter Brennelemente zur französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague zu verhindern. Setzt sich diese Rechtsprechung fort, so wird über das Zivilrecht das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit ausgehebelt und arg beschränkt, gerade die phantasievollen und medienträchtigen Protestformen symbolischer Konfrontation liefen Gefahr, von der Bildfläche zu verschwinden. Es gehören Mut und Zivilcourage dazu, für Grundrechte einzutreten. Diesen Mut und die Zivilcourage werden die Menschen in Ahaus, Gorleben und anderswo aufbringen, weil sie in den 25 Jahren der Auseinandersetzung um die Atomkraft eine Riesenportion Selbstbewußtsein entwickelt haben, weil sie das Demonstrations- und Versammlungsrecht als demokratische Selbstverständlichkeit begreifen und weil wir erleben, es dreht sich beim Castor nicht allein um den Zerfall der Atome, sondern auch um den Zerfall demokratischer Grundrechte.

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Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. www.bi-luechow-dannenberg.de buero@bi-luechow-dannenberg.de.