Die Friedensbewegung der 1980er Jahre

von Ulrich Frey

Haben die westeuropäische und die westdeutsche Friedensbewegungen gegen die Stationierung  von Cruise Missile und Pershing II-Raketen in Westeuropa (1983) nach dem NATO-Doppelbeschluss vom 12.12.1979 versagt? Welche Rolle spielte die Friedensbewegung beim Fall der Mauer 1989 und für das Ende der Blockkonfrontation? Das sind wesentliche Fragen zum Selbstverständnis der neueren Friedensbewegungen nach 1979. Über Antworten wird gestritten. Westeuropa und die Russen sehen den Fall der Mauer als eine Folge von Gorbatschows Perestroika und dem Wunsch der sowjetischen Führer, die Ost-West-Spaltung zu überwinden; Mittel- und Osteuropäer halten die dramatisch schlechte ökonomische Situation der UdSSR und die Dissidenten-Bewegungen in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei für den Auslöser. Auf US-amerikanischer Seite wird angeführt, die Sowjetunion habe im Wettrüsten des Präsidenten Reagan, insbesondere der SDI-Initiative („Star Wars“), nicht mithalten können und habe deshalb politische Konzessionen machen müssen.[1]

Die westdeutsche Friedensbewegung war Teil der westeuropäischen Friedensbewegungen gegen die Stationierung von 108 Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik und 464 Marschflugkörpern (Cruise Missiles) in Großbritannien, Italien, Bundesrepublik Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Der Minimalkonsens der Ein-Punkt-Bewegung richtete sich über politische, gesellschaftliche und konfessionelle Grenzen hinweg ausschließlich gegen die atomaren Waffen. Als der Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung der Mittelstreckenwaffen bestätigte, sahen viele in der Friedensbewegung dies – nach bisher einmaligen Unterschriftensammlungen wie dem Krefelder Appell mit ca. 4 Millionen Unterschriften, Demonstrationen mit mehreren Hundertausenden TeilnehmerInnen und vielem anderen mehr – als eine Niederlage, weil die damalige CDU-FDP-Regierung Kohl gemäß dem Motto „Ihr demonstriert – wir regieren“ den NATO-Beschluss gegen den Willen von damals 72 % der Bevölkerung ausführte.[2]

Diese Ohmacht als Niederlage einzustufen, wäre jedoch eine historische Fehleinschätzung. Denn die neuere Friedensbewegung ab 1979 gestaltete bis zum Ende der Blockkonfrontation eine nachhaltige, wertorientierte und grundlegende Zivilisierung europäischer Politik mit. Ihre Akteure hatten indirekt politisch Erfolg damit, ausdauernd die außen- und sicherheitspolitische Linie einer Entspannungspolitik „von unten“ zu  unterstützen.[3]

Entspannungspolitik
Entspannungspolitik zielte auf die Überwindung der gefährlichen Konfrontation im Kalten Krieg zwischen den Staaten des Westens in der NATO und denen des Ostens im Warschauer Pakt. Der Systemkonflikt verhinderte die Lösung der europäischen Nachkriegsprobleme, u.a. der „deutschen Frage“, der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Polen und das atomare und konventionelle Wettrüsten. Egon Bahrs (SPD) in Tutzing 1963 dargelegte Formel „Wandel durch Annäherung“ zur Anerkennung des status quo in der Perspektive einer europäischen Friedensordnung wurde die Grundlage der Ostpolitik von Willy Brandt (SPD). Die Entspannungspolitik setzte sich in Gestalt der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ und der Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE am 1.8.1975 durch. Sie verankerte Grundwerte und Maßstäbe der Menschen- und Bürgerrechte in mittel- und osteuropäischen Staaten und etablierte „vertrauensbildende Maßnahmen“ gegen wechselseitige Bedrohungsvorstellungen. So wurden die Blockgrenzen durchlöchert und ganz ohne militärische Gewalt schleichend unterminiert.[4]

Die Friedensbewegung hat die Verhandlungen über den Abbau von Raketen in Ost und West politisch unter Druck gesetzt und damit die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur mitbestimmt. In den Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik, in der NATO und zwischen den Vormächten des Kalten Krieges, den USA und der Sowjetunion, mobilisierte die Friedensbewegung die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft gegen die sogenannte „Nachrüstung“, die mit dem NATO-Doppelbeschluss vom 12.12.1979 ihren Lauf nahm. Er sah militärisch die Aufstellung von US-amerikanischen Pershing II und Cruise Missile in Westeuropa vor, aber parallel und komplementär dazu das Angebot an die Sowjetunion zu rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen über Lang- und Mittelstreckenraketen. Die westlichen Mittelstreckenraketen sollten nur stationiert werden, wenn die Verhandlungen scheiterten.

Was ist, wenn die Abschreckung fehlschlägt?
Die Friedensbewegung folgte der durch die Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ und anderer Wissenschaftler wissenschaftlich belegten Erkenntnis[5], die Bundesrepublik sei mit Kernwaffen nicht zu „verteidigen“, ohne sie vollständig zu zerstören. Die Friedensbewegung stellte die Tabu-Frage: „Was ist, wenn die Abschreckung fehlschlägt?“ Erregte öffentliche Debatten dominierten Gesellschaft und Politik. Die Friedensbewegung nutzte die Widersprüche des NATO-Doppelbeschlusses für ihre Argumente. Sie wandte sich aus grundsätzlichen ethischen und friedenspolitischen Gründen gegen die Abschreckung als Instrument von Sicherheitspolitik. Kampagnen wie „Die Zeit ist reif für ein Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen“ von Christen und Kirchen gingen so weit, den status confessionis gegen die Atomwaffen auszurufen.[6] Der gradualistisch konzipierte Aufruf von Friedensorganisationen aus den Niederlanden, der Bundesrepublik und anderen europäischen Ländern zu der ersten der großen Demonstrationen und Kundgebungen unter dem Motto „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen! - Für Abrüstung und Entspannung in Europa!“ forderte die Verringerung der Atomwaffen in West- und Osteuropa mit dem Ziel, einen wechselseitigen umfassenden Abrüstungsprozess in Gang zu setzen.[7] Doch die gemäß dem Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses Ende 1981 begonnenen Verhandlungen zwischen Ost und West scheiterten. Trotz eskalierter Protestformen im „heißen Herbst“ 1983 wurden die neuen Mittelstreckenraketen auf Beschluss des Bundestages in der Bundesrepublik ab dem 10.12.1983 stationiert. Danach stagnierten zunächst weitere Rüstungskontrollverhandlungen.

Wichtigstes Verdienst der Friedensbewegung
Als „wichtigstes Verdienst“ attestiert Risse-Kappen der neuen Friedensbewegung, eine „gründliche Veränderung der sicherheitspolitischen Kultur“ „erstmals seit den fünfziger Jahren“ angestoßen zu haben. „Die aufkommende Friedensbewegung war 1981 der eigentliche Grund, warum sich USA und NATO nach langem internen Streit auf den Vorschlag einer weltweiten Null-Lösung bei den weitreichenden Systemen einließen.“[8] Dies hätte „ohne die Massendemonstrationen der neuen Friedensbewegung“ nicht geschehen können.[9] Die Aktiven der Friedensbewegung demokratisierten auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie präsentierten „Gegenexperten“. Besonders bedeutsam wurden Fach-Initiativen wie das „Darmstädter Signal“, das die Auseinandersetzung unter dem Schutz der Grundrechte in die Bundeswehr hineintrug.[10] Über Teile der SPD und die neu entstandenen Partei der Grünen drang die Friedensbewegung tief in den parlamentarischen Raum vor. Die Mitglieder der Kirchen votierten zum allergrößten Teil gegen die Nachrüstung. Unabhängig davon diskutierte die Friedens- und Konfliktforschung die zerstörerischen Folgen von Abschreckungspolitik.[11] Frieden bedeutete nicht mehr nur negativ die „Abwesenheit von Krieg“, sondern wurde positiv besetzt. Die Friedensbewegung hat schließlich einen großen Anteil an der Überwindung eines dumpfen Antikommunismus mit starren Freund- Feindbildern. Die Fähigkeit, über eigene Grenzen hinweg mit anderen zu kooperieren, wurde bundesweit eingeübt.

Gorbatschows Rolle
Nachdem Michael Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU geworden war, kam wieder Bewegung in die bisher ergebnislosen Verhandlungen.[12] Er brachte entgegen der Position seines Vorgängers Breschnew eine Null-Lösung für Mittelstreckenraketen (einschließlich der SS-20) in Europa ins Gespräch, und kam damit westeuropäischen Interessen entgegen. Maßgeblich dafür sind nach Risse-Kappen die innenpolitischen Entwicklungen im Zeichen des „Neuen Denkens“ und der Perestroika, die nicht nur die Innen- und Wirtschaftspolitik, sondern auch die Außen- und Sicherheitspolitik veränderte.[13] „Ohne das Signal eines gesellschaftlich breit getragenen Entspannungswillens nach Osten, dass die Friedensbewegung katalytisch bewirkt hatte, hätte Gorbatschow seinen neuen Kurs nicht durchhalten können; ohne diesen Kurswechsel der sowjetischen Führung andererseits wäre kein hinreichender Spielraum für grenzüberschreitende Demokratiebewegungen entstanden“ urteilt Hauswedell.[14] Nach schwierigen Verhandlungen unterzeichneten am 8.12.1987 in Washington die USA und die UdSSR den Vertrag über Intermediate Range Nuclear Forces (INF) zwischen 500 und 5.500 km Reichweite, also eine Doppel-Null-Lösung. Der Abbau der Raketen begann in Ost und West. Das entsprach annähernd den Forderungen der Friedensbewegung ab 1979. Nur in Büchel/Hunsrück lagern heute noch ca. 20 nukleare US-Atomsprengköpfe.

Nach dem INF-Vertrag von 1987 zerfiel der Minimalkonsens der Friedensbewegung und damit ihre Mobilisierungskraft in Sachen Abrüstung. Der Wille, die Entspannung im „europäischen Haus“ zu fördern, kam aber in der alten Bundesrepublik und in der DDR, wo sich die „friedliche Revolution“ mit Sympathie und Unterstützung aus dem „Westen“ von 1989 bis zum Fall der Mauer vorbereitete, den komplizierten deutsch-deutschen und den Verhandlungen mit den vier Siegermächten des 2. Weltkrieges zugute. Sie führten zu den „Zwei plus Vier-Verträgen“ vom 12.9.1990, die die vollständige Souveränität Deutschlands wiederherstellten. Ohne die „friedliche Revolution“ in der DDR, die maßgeblich von den dortigen Friedensgruppen getragen wurde, wäre das nicht möglich geworden. Die Unterzeichnung des VKSE-Abkommens über konventionelle Abrüstung in Europa zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Paktes vom 19.11.1990 markiert dann das Ende des Kalten Krieges.

So lässt sich in der kooperativen und streitigen Interaktion von Zivilgesellschaft (Friedensbewegung) und Staat sowie zwischen Staaten und Bündnissen zur Abrüstung eine erfolgreiche konstruktive Rolle der Friedensbewegung in der Zeit von 1979 bis 1990 erkennen. Die Abschreckung als sicherheitspolitische Maxime ist bisher geblieben.

 

Anmerkungen
1 Marcin Zaborowski, How did the Wall fall?, European Union Institute for Security Studies, November 2009, www. euiss.europa.eu

2 Sinus-Institut, Sicherheitspolitik, Bündnispolitik, Friedensbewegung, München-Bonn, Oktober 1983, S. 36, zitiert nach: Thomas Risse-Kappen, Null-Lösung, Entscheidungsprozesse zu den Mittelstreckenwaffen 1970 – 1987, Campus, 1988, S. 91, Anmerkung 18

3 Corinna Hauswedell, Friedenswissenschaften im kalten Krieg. Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Nomos, 1997, S. 162 f.

4 Detlev Bald, Die Bundeswehr, Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, Beck, 2005, S. 77, und Literatur dort

5 Carl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München, 1971 mit dem Vorschlag  eines Konzeptes  der „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“; Dieter S. Lutz, Weltkrieg wieder Willen? Die Nuklearwaffen in und für Europa. Ein Beitrag zur Diskussion um den Nachrüstungsbeschluss, Rowohlt, 1981

6 Moderamen des Reformierten Bundes, Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche, Gütersloh, 1979; Hans-Ulrich Kirchhoff (Hrsg.), Wort an die Gemeinden  zur Kernbewaffnung, vorgelegt von der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk, Neukirchener, 1982

7 Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, Bonn 10.10.81, Lamuv Verlag, 1981, S.7

8 Thomas Risse-Kappen, a.a.O., S. 198

9 Thomas Risse-Kappen, a.a.O., S. 90, S. 104, S. 194

10 Lothar Liebsch, Frieden ist der Ernstfall. Die Soldaten des ‚Darmstädter Signals’ im Widerspruch zwischen Bundeswehr und Friedensbewegung, Verlag Winfried Jenior, 2003

11 Corinna Hauswedell a.a.O.

12 Gorbatschow hatte über die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und die Pugwashkonferenzen von dem Konzept der „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ gehört und griff dieses Thema auf. (Horst Afheldt a.a.O.

13 Thomas Risse-Kappen, a.a.O., S.196

14 Corinna Hauswedell a.a.O., S. 163 f.

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Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.