Dichtung und Wahrheit: Die Grenzöffnung in Ungarn am 19.8.1989

Die Grenzöffnung in Ungarn 1989

von Otmar Steinbicker
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Dass ein geschichtsträchtiges Ereignis, bei dem zahlreiche Journalist*innen und Fotograf*innen aus der Bundesrepublik anwesend waren, noch nach über 30 Jahren überwiegend falsch dargestellt wird und Fotos von der entscheidenden Szene nicht oder mit einer falschen Bildunterschrift veröffentlich werden, sollte man nicht für möglich halten. Und doch ist es so: Es ist die Berichterstattung über die Grenzöffnung am 19.8.1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze bei Sopron, bei der mehr als 500 DDR-Flüchtlinge ungehindert die Grenze passieren konnten. Es waren ungarische Grenzer, die das Tor öffneten. Ich war mit meiner Leica dabei und habe Szenen vor und nach der Grenzöffnung im Bild festgehalten und bin mit den ersten 30 Leuten nach Österreich gegangen.

Dass ich im entscheidenden Moment vor Ort war, war mehreren Zufällen geschuldet. Am 17.8.1989 war ich nach Budapest gereist, wo sich bereits viele DDR-Bürger*innen zuerst in der Botschaft der Bundesrepublik und später in einem Zeltlager auf dem Gelände der Kirchengemeinde im Ortsteil Zugliget versammelt hatten und auf eine Ausreisemöglichkeit in die Bundesrepublik hofften. Am Folgetag suchte ich das Zeltlager auf und sprach mit einigen dieser DDR-Bürger*innen, die vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in der DDR als Motiv nannten. Im ungarischen Pressezentrum bekam ich dann den Hinweis, dass am nächsten Tag im Grenzgebiet nahe Sopron ein „Paneuropäisches Picknick“ stattfinden sollte und ich unbedingt dort hinfahren sollte, weil an der Grenze etwas geschehen würde.

Besonderes Glück hatte ich, indem ich Rod Nordland traf, der damals als Sonderkorrespondent für Newsweek arbeitete. Später wurde er als Auslandsreporter für die New York Times mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Ohne ihn wäre ich womöglich nicht von Budapest an die Grenze gekommen oder zum Picknick gegangen und hätte wie der RTL-Kollege die unmittelbare Grenzöffnung nicht mitbekommen. Doch Rod hatte Kontakte zur ungarischen Opposition, die ihm einen anderen Parkplatz genannt hatte. Von dort marschierten wir kilometerlang gemeinsam mit vielen DDR-Flüchtlingen über Wirtschaftswege in Richtung Grenztor. Als hinter uns ein Geländewagen mit bundesdeutschem Kfz-Kennzeichen aus dem Main-Spessart-Kreis auftauchte, stellten wir uns in den Weg und verlangten, als internationale Pressevertreter mitgenommen zu werden. Der Fahrer lachte uns aus, schließlich waren alle Sitze mit jungen DDR-Flüchtlingen besetzt. Wagemutig setzten wir uns auf die Kühlerhaube und erreichten so noch geraume Zeit vor der Grenzöffnung das Tor, vor dem sich schon ein ungarisches TV-Team und auf der anderen Seite eine Vielzahl von Fotojournalist*innen eingefunden hatten. Nach und nach kamen auch mehr und mehr DDR-Flüchtlinge an. Am Rande der Szene besprachen sich der Chef der ungarischen Grenzer und der österreichische Grenzpolizist. Instinktiv drückte ich auf den Auslöser der Kamera.

Bewegung kam ins Spiel, als auf der österreichischen Seite Radfahrer auftauchten: der Bürgermeister der burgenländischen Nachbarstadt Mörbisch mit Gefolge, die am „Paneuropäischen Picknick“ teilnehmen wollten. Die ungarischen Grenzer öffneten daraufhin das Grenztor und stempelten Visa in die Pässe der Österreicher*innen, die sich dann weiter auf den Weg machten. Das Tor blieb danach offen. Wenige Minuten später sprang eine kleine Gruppe von DDR-Flüchtlingen in den Straßengraben und stürmte unmittelbar danach aus dem Graben heraus und rannte durch das sperrangelweit offenstehende Grenztor. In diesem Moment klickten die Kameras der Fotojournalist*innen auf der österreichischen Seite und es entstanden die Fotos, die bis heute zu diesem Ereignis in allen Medien zu finden sind. An diese erste Gruppe schlossen sich dann weitere DDR-Flüchtlinge an und mit Rod Nordland gehörte ich wohl zu den ersten 30 Personen, die die Grenze überquerten. Auf der österreichischen Seite spielte eine Blaskapelle zum Empfang, TV-Teams machten Interviews mit Flüchtlingen und es standen Reisebusse bereit für deren Abtransport in die Bundesrepublik.

Wenig später berichtete mir ein „Bild“-Reporter, er habe bereits drei Tage zuvor mit österreichischen Stellen über diese Aktion gesprochen und in der Nacht zuvor Campingplätze in der Umgebung abgeklappert und DDR-Bürger*innen auf die Fluchtmöglichkeit hingewiesen.
Diese Version bestätigte mir fünf Jahre später eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters im österreichischen Grenzort Mörbisch. Ja, man habe damals, als die Flüchtlinge einzeln oder in kleinen Gruppen durchs Schilf kamen, helfen wollen. Gemeinsam mit ungarischen, österreichischen und bundesdeutschen Stellen und mit Wissen und Billigung der drei Regierungen habe man in aller Schnelle die Aktion vorbereitet. Natürlich wollte ich noch einmal an das Grenztor. Auf dem Weg hielten uns österreichische Soldaten auf. Nur der städtische Dienstausweis der Mitarbeiterin half weiter. Ansonsten kam niemand durch. Damals verlief hier die Außengrenze der EU. Flüchtlingen wurde konsequent der Weg versperrt.

Das Soproner Loch
FR, 27.1.2019
„...Auf den letzten Meter beginnt die Menge zu rennen. Als die Menschen den Grenzzaun erreichen, stemmen sich die ersten mit aller Macht gegen das Tor. „Mein erster Gedanke war: Was bin ich für ein Pechvogel“, erzählt Bella (der Chef der ungarischen Grenzbeamten, Anmerkung der Redaktion), „man wurde ja schon bei einem einzigen Flüchtling zur Verantwortung gezogen.“
Unter dem Druck der Menge öffnet sich das marode Tor. Im Gedränge bricht Hektik aus. Alle wollen rüber, so schnell wie möglich. Die meisten sind junge Männer und Frauen und Familien mit Kindern. Sie haben Umhängetaschen dabei und kleine Rucksäcke, haben offenkundig nur das Nötigste eingepackt. Einige fassen sich an den Händen. Sie haben Angst; schnell kann man sich aus den Augen verlieren.“
https://www.fr.de/politik/soproner-loch-11519923.html

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de