Oder: Warum das Freihandelsprojekt ALCA Handelsdarwinismus ist

Die Integration von Hai und Sardinen.

von Gaby Küppers
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Der 1. Januar 1994 sollte für die MexicanerInnen zu einem äußerst denkwürdigen Datum werden. An diesem Tag nämlich wollte die Regierung des Landes einen Prestigeerfolg feiern: Mexico sollte offiziell in die Erste Welt aufsteigen, indem es Mitglied der OECD, der Organisation der Industrieländer, wurde. Die Wirtschaftselite freute sich, weil mit Jahresbeginn der Freihandelsvertrag NAFTA (North American Free Trade Agreement) mit Kanada und den USA in Kraft trat. Doch eine bislang unbekannte Gruppe wurde just an Neujahr zum Spaßverderber.

Die ZapatistInnen machten den Aufstand und holten die vermeintlichen Glücksritter auf den Boden der Tatsachen eines Landes mit enormen sozialen Unterschieden zurück. Mit ihrer Rebellion gaben sie im wahrsten Sinne des Wortes den Startschuss für die inzwischen weltweite globalisierungskritische Bewegung. Die ZapatistInnen haben mit ihren Warnungen vor dem Neoliberalismus, der mit NAFTA vertraglich abgesichert die lokalen Ökonomien demontierte, Recht behalten. Dennoch steht dieser Freihandelsvertrag nunmehr Modell für eine gesamtamerikanische Freihandelszone. Von Alaska bis Feuerland, von Kalifornien bis zur Amazonasmündung sollen demnächst die gleichen Handels- und Investitionsgesetze gelten. FTAA - Free Trade Agreement of the Americas, oder auf Spanisch ALCA - Acuerdo de Libre Comercio de las Américas heißt der von der US-Regierung Mitte der 90er Jahre ausgedachte NAFTA-Klon. Er wird, das ist jetzt schon absehbar, an den gleichen Krankheiten leiden wie sein Modell.

Im NAFTA-Vertrag gelten gleiche Rechte für Ungleiche. Im anstehenden ALCA-Projekt geht es um gleiche Rechte für noch Ungleichere. Alle lateinamerikanischen und karibischen Ökonomien zusammengenommen bringen es auf etwa ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts der USA. Keine gewichtigen Partner also, die sich US-Präsident Bush da ins Boot holen will. Spätestens 2004, sagt George Dabbeljuh dennoch, ist ALCA flott. Dann sitzen sämtliche Regierungen Amerikas (halt: sämtliche außer Cuba, also insgesamt 34) zusammen in der Kajüte und drehen frei und gleich am Steuerrad der größten Freihandelszone der Welt. Alles gelogen, meint etwa der ehemalige cubanische Wirtschaftsminister Osvaldo Mart¡nez. Das Schiff hat von Anfang an Schlagseite. Bloß nicht einsteigen, ist seine Devise.

Wenn er einen Tipp abgeben müsse, sagt Osvaldo Mart¡nez, dann wird es ALCA mit 60 Prozent Wahrscheinlichkeit geben. Nun ja, pariert er die staunend hochgezogenen Augenbrauen bei seiner Befragerin, man müsse durchaus davon ausgehen, dass das Projekt zustande kommt. Zwar sei allenthalben Kritik zu hören, aber niemand lege sich wirklich quer. Das Hauptproblem sei in der Tat die Schwäche des Widerstands. Bis auf das Referendum in Brasilien im vergangenen September, bei dem sich ohne Medienunterstützung 10 Millionen BrasilianerInnen gegen ALCA aussprachen, würden kaum kritische Stimmen außerhalb der ohnehin "verdächtigen" Kreise laut. RegierungsvertreterInnen von Mexico bis Uruguay sprächen immer nur von Chancen. Bei den Verhandlungsrunden seien die anglophonen Karibikländer die einzigen, die auf die sich abzeichnenden Nachteile hinwiesen und die damit Cubas ablehnende Haltung stützten. Aber was können wirtschaftliche Federgewichte und Flecken auf der Landkarte wie St. Lucia oder Jamaika schon ausrichten, wenn große Länder wie Kolumbien oder Peru sich auf die andere Seite der Wagschale schlagen?

Dabei, so Osvaldo Mart¡nez, ist zum einen die Haltung der USA zu ALCA in Außenhandelsfragen vollkommen unglaubwürdig und lehrt zum anderen die Erfahrung mit NAFTA, dass die kleinen Fische noch immer von den großen aufgefressen wurden. Man stelle sich das Wasserbecken einmal vor, in dem ein Hai einer Handvoll Sardinen einen Integrationsvorschlag gemacht hat.

Doppelzüngige Botschaften
Setzen wir einmal voraus, der Hai ist rhetorisch geschickt in der Beschreibung seines Integrationsprojekts. Das Grundprinzip einer Freihandelszone, führt der Fisch - ein aalglatter! - aus, besteht in der ungehinderten Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen. Dazu müssen alle Handelsschranken wie Zölle, Kontingente oder Quoten abgebaut werden. Zudem müssen - das verstehe sicher jeder - Gesetze über verbotene Zusätze, Qualitätsanforderungen, Inhaltskennzeichnungen usw. einander angeglichen werden - ein Prozess allerdings, der etwa innerhalb der EU Jahrzehnte gedauert hat. Weiß der Hai, sagt er aber nicht. Die 32 glubschäugigen Fische aus dem Süden sehen indessen quer über den Kontinent donnernde Lastwagen, die halbe Rinder aus Argentinien nach Kanada schaffen, chilenische Fischkonserven (au Backe, Kannibalen!) nach New York, brasilianischen Mandarinensaft nach San Francisco. Die Botschaft ist verlockend, die Bedingungen sind gestellt: mit der Aussicht auf ALCA werden sie hurtig alles abschaffen, was die Lastwagen aufhalten könnte: Ausländische Unternehmer werden wie einheimische behandelt; Zölle werden eliminiert; das Wort Schutz wird aus dem Landesvokabular gestrichen. Genau so hatte sich der Hai das vorgestellt.

Doch die USA selbst predigen in dieser Hinsicht Wasser und trinken Wein. Denn während alle anderen abspecken sollen, wuchtet die Bush-Administration erst noch richtig auf. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste, sprich von der Welthandelsorganisation WTO verhängte Strafen. Denn solche Strafen kann ein großer Fisch wie die USA erst mal immer wieder auf die lange Bank schieben, und danach werden wir sehen ... So etwa im sogenannten FSC-Fall (Foreign Sales Corporations), in dem die USA genau das machen, was sie anderen Ländern verbieten wollen, nämlich die einheimischen Firmen zum Nachteil ausländischer Anbieter und Investoren begünstigen. Die EU lief erst einmal Sturm gegen die FSC-Gesetzgebung und dann nach Genf ins Hauptquartier der WTO. Das WTO-Gericht verhängte eine bislang noch nie dagewesene Strafe von vier Milliarden Dollar. Diese Summe kann die EU von den USA zurückfordern als Kompensation dafür, dass US-Außenhandelsfirmen ihre Exportgewinne laut Bush`s FSC-Gesetzgebung zum Teil nicht versteuern müssen, was einer indirekten Subventionierung des US-Exportsektors gleichkommt. Das Urteil ist gesprochen, doch seit über einem Jahr ziert sich die EU, die Strafe wirklich durchzuziehen. Man will sich schließlich die Finger nicht verbrennen, denn auch die EU predigt Marktöffnung immer nur den anderen. Wohl auch deswegen hat sie das von den USA vorangetriebene ALCA-Projekt offiziell noch nie kritisiert.

Ein weiteres - und für die Nachbarn auf dem südlichen Teil Amerikas besonders bedeutsames Beispiel für die Doppelzüngigkeit der USA ist der sogenannte Fast Track. Die Schnellspur - inzwischen dezenterweise in Trade Promotion Authority (TPA) umbenannt - bezeichnet die Verhandlungsvollmacht für die Bush-Administration in Außenhandelsverträgen. Bislang konnte der Kongress im Prinzip jedwedes ausgehandeltes Vertragswerk blockieren, weil er das Recht hatte jeden einzelnen Paragraphen darin zu ändern und somit die Unterhändler kleinlaut zum Verhandlungstisch zurückzuschicken. Bill Clinton musste sich durch seine Amtszeit ohne den TPA-Freibrief durchhangeln und vom Kongress immer wieder reinreden lassen, was erklärt, dass in der WTO eine Reihe von Vertragsabschlüssen auf Eis liegen blieben. Doch nach dem 11. September 2001 kriegte sein Nachfolger Bush Kongress und Senat auf seine Seite - sie gaben ihm die TPA, allerdings ließen sie sich selbst in diesem "patriotischen Moment" noch sehr bitten und rangen ihrem Präsidenten bei allem Vertrauen in sein Verhandlungsgeschick eine Reihe geradezu paradoxer Zugeständnisse an die Unantastbarkeit der US-Industrie ab. Freihandel ja, aber nur jenseits unserer Grenzen! Unmittelbare Auswirkungen auf Lateinamerika hat etwa die Zusicherung Bushs gegenüber der Farmerlobby, bestimmte Agrarprodukte, z.B. Zitrusfrüchte, aus allen Liberalisierungsverhandlungen auszuschließen. Keine einzige Kiste Apfelsinen wird damit durch ALCA zusätzlich neben Florida-Orangen in US-Supermärkten landen. Auch nach Inkrafttreten von ALCA dürfen Agrarimporte in die USA nur in den Rubriken steigen, die das Land ohnehin nicht produziert. Kaffee etwa, der mit vermehrter Konkurrenz dann noch billiger werden dürfte. Mit welchen Argumenten lateinamerikanische Verhandlungsführer dem zustimmen und ihren Bevölkerungen erklären, sie seien dennoch nicht über den Tisch gezogen worden, wird demnächst zu erleben sein.

Räubern im Revier
Eigentlich wäre es gar nicht so schwer, aus Erfahrung zu lernen. Denn ALCA soll, das geben die USA ganz offenherzig zu, so etwas werden wie "NAFTA plus". Eine Freihandelszone wie diejenige zwischen den USA, Kanada und Mexico, nur größer. Mexicos Bevölkerung aber, weist Osvaldo Mart¡nez nach, hat mit NAFTA verloren. Mexicos Wirtschaftsbasis erlebte einen Niedergang, ein kräftiger Sozialabbau ging damit einher. Mit NAFTA und der neoliberalen Phase ist das Wirtschaftswachstum des Landes nicht etwa gestiegen, sondern auf die Hälfte gesunken. Zwischen 1998 und 2000 sind gut 36 Mrd. US-Dollar ausländisches Kapital nach Mexico geflossen, aber 48 Mrd. wieder hinaus, ein Gutteil davon zurück in die US-amerikanischen Unternehmensstammhäuser. Die Handelsbeziehungen Mexicos konzentrierten sich durch NAFTA noch stärker auf die USA. Das bedeutete statt der erwarteten Diversifikation der industriellen Erzeugnisse eine Verengung der Produktionsbasis. Es wurden nicht immer mehr unterschiedliche Waren produziert, vielmehr gerieten einheimische Waren zunehmend unter Konkurrenzdruck durch billige Importe, und Hersteller mussten reihenweise aufgeben. Handelsströme kehrten sich zum Teil sogar um. Heute kommen 50 Prozent des in Mexico gegessenen Reis` aus den USA. Dabei war Mexico bis vor einigen Jahren noch ein Reisexportland. Bei Kartoffeln verhält es sich ähnlich. Aus dem Baumwollexportland wurde ein Baumwollimportland.

Fazit: seit NAFTA ist die landwirtschaftliche Anbaufläche Mexicos geschrumpft, der Landbesitz konzentriert sich auf immer weniger Besitzer. Sechs Millionen Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen setzte der freie Handel bislang frei. Der Basiswarenkorb wurde seit NAFTA um 560 Prozent teurer, die Gehälter stiegen hingegen nur um 135 Prozent. Mehr als 50 Prozent der mexicanischen LohnempfängerInnen verdienen heute weniger als die Hälfte von dem, was sie vor zehn Jahren nach Hause trugen. Ende 2000 hatte Mexico doppelt soviele Schulden wie 1982, als die Schuldenkrise ausbrach. Das, sagt Osvaldo Mart¡nez, ist der Spiegel, in dem sich Lateinamerika angesichts des drohenden ALCA-Vertrags betrachten müsse.

Und doch hinkt der Vergleich. Denn die Ausgangsposition ganz Lateinamerikas ist sogar noch ungleich schlechter als die Mexicos vor dem NAFTA-Eintritt. Zum einen warnen Ökonomen generell vor ungenügendem Wirtschaftswachstum in der Region. Zum anderen verstecken einige auf den ersten Blick positive Zahlen bittere Wahrheiten. Der Welthandelsanteil Lateinamerikas stieg in den neunziger Jahren um zwei Prozent. Doch das lag in erster Linie an vermehrten Importen, weniger an Exporten. Die Handelsbilanzen des Subkontinents gerieten dadurch weiter in Schieflage. Auch hört es sich gut an, dass die Investitionen in den Subkontinent zwischen 1991 und 2000 schneller als in jeder anderen Weltgegend wuchsen: so verzeichnete Lateinamerika in der ersten Hälfte der neunziger Jahre 29 Prozent der globalen Investitionsflüsse, in der zweiten Hälfte gar 40 Prozent. Solch einen Zuwachs gab es in keiner anderen Weltgegend, bemerkte voller Anerkennung der für Außenpolitik zuständige Kommissar der EU, Chris Patten, bei einer Rede Anfang Oktober in Miami über die "Europäische Dimension Lateinamerikas". Doch er musste dann ebenfalls zugeben, dass gleichzeitig drei andere Dinge genauso schnell gewachsen sind: Armut, Ungleichheit und Marginalisierung. Seltsam.

Man muss schon genauer hinsehen. Tatsächlich sind ein Drittel der Investitionen Spekulationsgelder, die von heute auf morgen abgezogen werden, wenn sich Zinssätze, politische Kontexte oder der Gemütszustand des Investors ändern. Ein weiterer großer Teil besteht in Aufkäufen privatisierter Betriebe, also einmaliger Zahlungen. Viel zu privatisieren bleibt in den meisten Ländern heute überdies nicht mehr, um Bilanzen schön zu schreiben. Dazu kommt der wortwörtliche Schuldenberg. Er stieg von 300 Mrd. im Jahre 1985 auf 750 Mrd. Dollar heute. Von 1992 bis 1999 betrug der Schuldendienst allein 913 Mrd. 56 Prozent der Einkünfte aus dem Export von Waren und Dienstleistungen werden heute davon aufgefressen. 1980, vor der neoliberalen Ära, waren 20 Prozent der Bevölkerung arm, heute sind es 44 Prozent

Geostrategische Absichten
Was, bitte schön, fragt sich nach dieser desolaten Zustandsbeschreibung, versprechen sich die USA eigentlich von ihrem ALCA-Projekt? Wo locken überhaupt noch Gewinne? Was kommt unter dem Strich nach langwierigen Verhandlungsrunden für sie dabei heraus? Außerdem, zynisch angemerkt: wären nicht eine Reihe von Zugeständnissen bilateral oder über die WTO-Knute verhandlungsenergiesparender erzielbar? Brauchen Großfirmen überhaupt gesetzliche Regelungen? Investitionsliberalisierung beispielsweise. Kein Chef eines großen Konzerns hat heute einen Ministerialbeamten mit einem Vertragstext unter dem Arm nötig, um ein Land zu Sonderkonditionen zu zwingen, wenn er dort arbeiten (sprich: Profite machen) will. Die lautesten Verfechter von multilateralen Vereinbarungen über Investitionen innerhalb der WTO sind daher bezeichnenderweise auch nicht Shell, Aventis oder Bayer (die beim Thema Patentschutz in der WTO - dem sogenannten TRIPS-Abkommen - durchaus Druck machen), sondern RegierungsvertreterInnen.

Richtig, meint Osvaldo Mart¡nez, ALCA ist auch kein Projekt der US-UnternehmerInnen, sondern muss geostrategisch gesehen werden. Konzernchefs setzen auch ohne Rahmenverträge durch, was sie für richtig und profitreich halten. Aber bei ALCA geht es darum, die letzten Reste nationaler Souveränität in Lateinamerika auszuschalten. Etwa mittels der Übertragung des in NAFTA verankerten Streitschlichtungsmodells auf ALCA. Laut NAFTA können Unternehmen Staaten verklagen - selbst in der ultraliberalen WTO existiert nur die Klageform Staat zu Staat. Damit werden Unternehmen juristisch Staaten gleichgesetzt. Solch eine juristische Neudefinition in einem internationalen Vertrag hat weitreichende Konsequenzen. Schließlich geht es in Lateinamerika vielleicht weniger um Kaufkraft bietende Absatzmärkte, als um Zugriff auf strategische Rohstoffe, um Öl, Holz, Biodiversität und um den Aufbau eines Netzes von Militärbasen. Nach Unterzeichnung des ALCA-Vertrages haben Länder keine Optionen mehr, sondern sie haben einen internationalen Vertrag einzuhalten. Und die Verletzung eines internationalen Vertrags wiegt schwer. Da können sich die Sardinen auf einiges gefasst machen.

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Gaby Küppers ist Mitarbeiterin der Informationsstelle Lateinamerika (ILA) Bonn.