Trotz wachsender atomarer Bedrohung verdrängen wir die Gefahr.

Die nukleare "Fühllosigkeit"

von Angelika Claußen
Hintergrund
Hintergrund

Als Präsident George Bush und Präsident Michael Gorbatschow 1991 nach langen Verhandlungen ihre Unterschrift unter den START 1-Vertrag setzten, atmete die Menschen in allen Teilen der Welt auf. Die Zeit der atomaren Abschreckung schien endlich vorüber; die Ära der kontinuierlichen Abrüstung begann. Der START 2-Vertrag folgte 1993, das Atomteststoppabkommen 1994. Und 1996 traf der internationale Gerichtshof in Den Haag nach Protesten eines internationalen Netzwerkes von Anti-Atom-Organisationen die Entscheidung, dass die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht stehe.

Ein Erfolg jagte den nächsten. Und verfestigte bei vielen Menschen den Eindruck, dass es mit der Abrüstung nun automatisch weitergehe. Ein großer Irrtum: Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Nuklearstrategie der letzten verbliebenen Supermacht, der USA, trotz Unterzeichnung der Abrüstungsverträge, zunehmend am Einsatz von Atomwaffen orientiert.

Noch unter der Regierung Clinton - 1994 - erwähnt der Pentagon-Bericht zur Überprüfung der Nukleardoktrin erstmalig offiziell den Einsatz von Atomwaffen als Reaktion auf einen Angriff mit chemischen und biologischen Waffen. Die Reaktion Russlands folgte prompt: Die sowjetische Doktrin, auf einen nuklearen Erstwaffeneinsatz zu verzichten, wurde aufgehoben.

Ende 1997 folgte dann die sogenannte strategische Anweisung des US-Präsidenten, die Presidential Decision Directive (PDD 60), in der die USA auf den atomaren Ersteinsatz eingeschworen wurden. Und im diesjährigen Pentagon-Bericht wird der Ersteinsatz von Atomwaffen gegen Länder, die selbst keine Atomwaffen besitzen, zementiert - wie auch die neue Entwicklung von sogenannten "Miniatombomben" favorisiert.

Vor diesem Hintergrund warnte im Juli 2001 Stephen I. Schwartz, Herausgeber des Bulletin of Atomic Scientists vor dem neuen atomaren Wahnsinn: Eine kleine, aber sehr einflussreiche Gruppe, bestehend aus Wissenschaftlern aus den Atomschmieden Los Alamos und Scandia National, früheren Regierungsbeamten, Analysten aus rechtslastigen Instituten, z.B. NIPP (National Institute for Public Policy) aus Fairfax, Virginia. und konservativen Kongressabgeordneten bereiteten das Comeback der neuen angepassten "Miniatomwaffen" vor (Bulletin of the Atomic Scientists, Vol.57, No.4, July/Aug.2001: "The new-nuke chorus tunes up").
 

Dazu im Originalton Paul Robinson, Direktor des Scandia Labors: "Die USA brauchen zweifellos neue Atomwaffen ... weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Zerstörungskraft der Waffen, die aus dem Kalten Krieg übrig geblieben sind, für die Ziele der Abschreckung in einer multipolaren Welt mit hohem Proliferationsniveau zu groß ist. Wenn wir die Situation nicht ändern, schrecken wir nur uns selbst ab."

Stephen Younger, der stellvertretende Direktor von Los Alamos stellte schon 2000 seine Pläne "Atomwaffen im 21. Jahrhundert" einer interessierten Öffentlichkeit vor. Darin wurden Miniatomwaffen ebenso wie die jetzt bekannt gewordenen "Bunker-Buster" erwähnt.

"Das Präzisionszielen kann die atomare Sprengkraft, die zur Zerstörung solcher Ziele nötig ist, weitgehend reduzieren. Nur wenige Ziele benötigen eine hohe Atomsprengkraft. Die Vorteile niedriger Sprengkraft sind: reduzierte Kollateralschäden, Rüstungskontrolle für die USA und die Möglichkeit, dass solche Waffen zu geringeren Kosten und mit mehr Zuverlässigkeit zu haben sind, als die im aktuellen Arsenal," so Stephen Younger.

Hier wird der Eindruck erweckt, kleine Atomwaffen seien ungefährlicher als die herkömmlichen, könnten präzise und sauber, ohne "Kollateralschäden", das militärische Ziel vernichten. Etwa wenn sie als sogenannte bunker buster gegen einen unterirdischen Bunker von Saddam Hussein eingesetzt werden sollten. Das ist eine Lüge! Die Druckwelle einer unterirdischen Atomexplosion wird einen großen Krater erzeugen, der dabei herausgeschleuderte Feuerball bricht die Erdoberfläche und schleudert große Mengen Erde und Trümmer in die Luft. Der radioaktive Niederschlag aus der Wolke des aufsteigenden Atompilzes wird binnen Stunden bis Tagen die akute Strahlenkrankheit bei Mensch und Tier erzeugen, von den Langzeitschäden ganz zu schweigen.

Nach dem 11. September haben diese Pläne, die schon während der Clinton-Ära in der Schublade lagen, im Rahmen der neuen Nuklearen Strategie eine bedrückende Aktualität gewonnen.

Die Ursachen für das Fortbestehen und Weiterentwickeln von Atomwaffen
Warum erleben die Atomwaffen, von den Militärstrategen dargestellt als "saubere Atomwaffen", eine Renaissance? Wie kommt es, das die Bevölkerung von Indien und Pakistan, die noch vor wenigen Monaten am Rande des Atomkriegs standen, die atomare Bedrohung vollkommen verdrängten? Wie kommt es, das Israel den Irak angesichts der angespannten Lage warnt, dass es bereit sei, seine Neutronenbomben, auch im Präventivfalle, einzusetzen?

Ist es Größenwahn, männliche Herrschaftspsycholgie oder "Holocaustsyndrom"? Oder geht es um das Streben nach absoluter Sicherheit?

Das atomare Wettrüsten erzeugte eine "nukleare Fühllosigkeit"
Vor 56 Jahren wurden die ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Seitdem leben wir mit der atomaren Bedrohung - ohne, dass sie uns wirklich nahe geht. R.J. Lifton, ein Forscher, der die psychischen Auswirkungen auf die Hiroshima-Überlebenden und die Soldaten untersucht hat, die die Bombe abwarfen, spricht von "nuklearer Fühllosigkeit", die es uns ermöglicht, mit der Tatsache zu leben, dass Atombomben alles Leben auf unserem Planeten auslöschen können.

Doppeltes Selbst
Durch die Ideologie des "Nuklearismus", wie er es nennt, wird ein doppeltes Selbst erzeugt, bei den Militärs und der Bevölkerung; Der Teil, der die Bedrohung wahrnimmt, ist abgespalten, der andere Teil, das "Nuklearselbst", verherrlicht die Atomwaffen wegen ihrer technischen Perfektion und der durch sie verliehenen absoluten Macht. Die betroffene Bevölkerung nimmt, unter Ausblendung der absoluten Bedrohung, psychisch teil am Status, eine Großmacht, eine weltbeherrschende Macht zu sein.

Das Verdrängen der atomaren Bedrohung ist sicherlich ein natürlicher menschlicher Vorgang. Üblicherweise identifizieren sich die Menschen mit den Opfern. Sich die Gefahren und die Zerstörung durch die Atomwaffen vorzustellen, ist so angsterregend, dass es uns lebensunfähig machen würde. Es würde Denken und Fühlen vergiften. Eine Kollegin sagte mir einmal: "Lieber grabe ich meinen Garten um und säe und pflanze, anstatt dass ich mein Denken und Fühlen mit diesen Irrwitzigkeiten und Schrecken der Militärs vergiften lasse."

Militärstrategen hingegen blenden die Opferposition systematisch aus. Sie sind identifiziert mit ihrem jeweiligen Auftraggeber, derjenigen Regierung, die einen Krieg plant und führbar machen will. Sie haben eine Scheinwelt, eine "technostrategische Welt" für sich konzipiert, in der die menschlichen Opfer nicht existieren.

Der endgültige Abschied vom Humanismus am Beispiel der Sprache der Atomstrategen
Carol Cohn, eine amerikanische Feministin, hat die Rolle der Fachsprache, die sie "technostrategisch" nennt, analysiert. ("Sex and Death in the Rational World of Defense Interlectuals", Exposing Nuclear Phallacies, 1989, Pergamon Press)

Cohn beschreibt den auffälligen Gebrauch von Abstraktionen und Euphemismen, der die Realität des nuklearen Holocaust sprachlich ausschließt: Es gibt keine "eingeäscherten Städte", sondern nur "ausgleichende Angriffe". Menschlicher Tod wird als "Kollateralschaden" klassifiziert.

Auffällig ist auch eine ausgeprägte sexuelle Metaphorik bei der Nuklearstrategen: "vertical erector launchers", "soft lay downs", "deep penetration"; man bezieht sich auf die "Jungfräulichkeit" nicht nuklearer Staaten (z.B. hätte Indien seine nicht nukleare Jungfräulichkeit verloren). Außerdem scheinen Phantasien über die männliche Geburt durch. Die Wasserstoffbombe hieß "Teller`s baby", die Bomben, die Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche legten, wurden "little boy" und "fat man" genannt. Psychoanalytiker deuten Waffen als Phallus-Substitute, die verdrängte Wünsche nach Allmacht sättigen.

Zur Fachsprache der Militärstrategen gehören außerdem die Abkürzungen. Cohn beschreibt ihr Gefühl beim Erlernen dieser Insider-Sprache: "Was ich lernte war, dass es Spaß macht über Atomwaffen zu diskutieren. Die Sprache ist kraftvoll und zweideutig, sexy, zackig. ..." Die Benutzung dieser Militärsprache vermittelt dem Benutzer das Gefühl der "kognitiven Meisterschaft", sie führt ungewollt zum Perspektivenwechsel, man wird zu demjenigen, der den Finger am Drücker hält und ist damit weit weg vom Opfer.

"Was bedeutet - psychisch gesehen - der Besitz von Atomwaffen?
Der Besitz von Atomwaffen bedeutet nicht nur über Macht, sondern über totale Macht zu verfügen. Sie erzeugt bei den Akteuren - und hierin gleichen sich alle Regierungen, die über Atomwaffen verfügen oder deren Besitz anstreben - den Schein, in einer Zeit von Bedrohung durch Krieg oder Terrorismus die eigene Angst vor Verletzlichkeit und die Angst vor dem Tod zu besiegen. Denn wer über totale Macht verfügt, und sei es die Fähigkeit zur Selbstauslöschung, der hat den Tod transzendiert, der braucht den Tod nicht mehr zu fürchten.

So wird die israelische Atombombe als "Samson-Option" bezeichnet, nach der biblischen Geschichte von Samson, der die Säulen des Königspalastes einriss, um die Philister zu vernichten, wobei er auch selbst starb.

Atomwaffen zu besitzen wiegt die Besitzer in der Illusion, totaler Herrscher sein zu können. Dazu Thomas Friedman, Assistent der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright: "Damit die Globalisierung funktioniert, dürfen die Vereinigten Staaten nicht zögern, als die unbesiegbare Weltsupermacht zu agieren, die sie sind. Die unsichtbare Hand des Marktes funktioniert nicht ohne die unsichtbare Faust. McDonalds kann nicht prosperieren ohne McDonel-Douglas, Fabrikant der Kampfflieger F-15. Diese Faust sind die Landstreitkräfte, die Marine, die Luftwaffe und das Marinechor der Vereinigten Staaten." Und ich füge hinzu: die Atomwaffen.

Die Alternativen
Im Gegensatz zum Terror der Atomwaffen und dem Terror des Krieges hat die Friedensbewegung in vielen Ländern auf dieser Welt machbare Alternativen ausgearbeitet, wie internationales Recht gestärkt werden kann statt wieder auf das Recht des Stärkeren zu setzen:
 

  •  Eine Konvention für eine atomwaffenfreie Welt analog der Chemiewaffenkonvention
     
  •  die Weiterentwicklung der bestehenden völkerrechtliche Bestimmungen zur Verhütung von Kriegen in rechtlich bindende Vereinbarungen, denen sich alle Staaten beugen
     
  •  Verankerung von Mechanismen zur zivilen Konfliktschlichtung in den bestehenden Völkerrechtsvereinbarungen. Der internationale Strafgerichtshof ist ein Baustein dafür.
     

Die Zeit für einen Paradigmenwechsel ist überfällig. Wir stehen auf für ein besseres Leben jenseits von Krieg und atomarer Bedrohung!

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund

Themen