Wunschdenken oder reale Chance?

Die Sowjetunion ohne Atomenergie

von Heinz Laing

Ende Januar 1989 fand im Bildungszentrum Göhrde/Niedersacbsen das (Anti-) Atomseminar Grüne - KPdSU statt. Vier Tage lang diskutierten Vertreterinnen der Grünen und der Anti-AKW-Bewegung mit einer hochrangigen sechsköpftgen Delegation der KPdSU unter Leitung von Iwan Frolow (persönlicher Berater von Gorbatschow in Umweltfragen). Im Mittelpunkt der Diskussion standen fachbezogene Fragen wie radioaktive Niedrigstrahlung, AKW-Sicherheit, die Folgen von Tschernobyl, zivilmilitärische Nutzung der Atomenergie und Einsatzmöglichkeiten regenerativer Energiequellen. Es war das erste Seminar dieser Art zwischen Grünen und der KPdSU und fand in der Öffentlichkeit breiten Wider¬hall. Insgesamt wurde von allen Beteiligten eine positive Bilanz zum Verlauf und Ergebnis des Seminars gezogen. Trotzdem bleiben aber auch einige offene Fragen.

Während des Seminars vom 25. - 29. 1. erhielten die Grünen von den Sowjets zu den Folgen von Tschernobyl nur wenig Auskünfte. Hatten die Delegationsmitglieder konkrete Fakten nicht präsent oder wurden den Grünen bewußt Informationen vorenthalten? Die Tatsache, daß in den letzten Wochen eben mehr und mehr Fakten der katastrophalen Folgen von Tschernobyl in der Sowjetunion veröffentlicht werden (Evakuierung weiterer Dörfer in Weißrussland, Verdopplung der Krebsrate in bestimmten Gebieten, Frauen wird von Schwangerschaften abgeraten, Mißbildungen bei Kälbern und Ferkeln treten vermehrt auf) macht einerseits die Dramatik und schwerwiegenden Folgen der Ereignisse von Tschernobyl deutlich. Andererseits lassen diese Meldungen auch Zweifel aufkommen, ob ein Dialog mit der KPdSU, bei dem alle Karten offen gelegt werden, überhaupt möglich ist.
Die Grünen haben nach dem Seminar in der Göhrde von einem Ereignis ganz besonderer Art gesprochen, denn ein Seminar zu Fragen der Atomenergie wäre vor Jahren noch nicht denkbar gewesen. Bei einem Besuch des Bundesvorstandes der Grünen in Moskau einige Tage vor Tschernobyl 1986 wurde dieses Seminar vereinbart und ohne die innenpolitischen Veränderungen in der Sowjetunion hätte es sicherlich nicht stattgefunden. Perestroika und Glasnost sei Dank.
Aber ist es nicht gleichsam "unmoralisch", wenn sich die Grünen mit der Atommacht und den AKW-Betreibern der Sowjetunion an einen Tisch setzen? Ist es vertretbar, kontroverse Diskussionen zu Fragen der Atomenergienutzung mit den Sowjets zu führen, aber dennoch fair und freundschaftlich miteinander vier Tage lang einen Dialog zu pflegen?
Als ein Teilnehmer der öffentlichen Veranstaltung in Lüchow zum Thema "Tschernobyl - schon vergessen?" pro¬vozierend die 500 Zuhörerinnen aufforderte, "diese knallharten Betreiber aus der UdSSR" aus dem Saal zu treiben, war einen Moment lang die Verunsicherung aller im Saal zu spüren.  Die Diskussion wurde aber weitergeführt und soll auch im beiderseitigen Interesse in Zukunft intensiviert werden. Zumindest auf dieser Ebene war das Seminar ein voller Erfolg, weil es der Beginn eines Dialogs war, der weit über den Austausch von Statements und höflichen Floskeln hinausging.
Die Grünen waren nicht blauäugig, sich einzubilden, die Sowjets mal eben in vier Tagen zum sofortigen Ausstieg bewegen zu können, dafür sind die Standpunkte viel zu kontrovers. Sei es nun die Kontroverse um das Geschäft der Sowjetunion mit der deutschen Nuklearindustrie über den Bau eines Hochtemperaturreaktors an der Wolga, wo sich die UdSSR den Vorwurf gefallen lassen muß, hier der untergehenden deutschen Nuklearindustrie über den Bau eines Hochtemperaturreaktors den rettenden Strohhalm zu reichen, oder sei es die sowjetische, Illusion, mit westlicher Technik ihre Reaktoren sicher machen zu können. Kontrovers bleibt genauso die Auffassung über die Einschätzung der Gefährdung radioaktiver Strahlung gerade auch im Bereich niedriger Dosen, wie die Frage des Uranimportes aus Namibia über die BRD in die Sowjetunion. An diesem Punkt eskalierte die Diskussion sogar soweit, daß sie frühzeitig abgebrochen werden mußte. Trotz aller dieser Kontroversen wurde aber auch deutlich, welche tiefen Eindrücke und nachhaltigen Folgen Tschernobyl im Denken der Sowjets hinterlassen hat. Die Bereitschaft seitens der sowjetischen Delegation sich unserer Kritik zu stellen und nicht betonköpfig die Diskussion abzublocken, wie umgekehrt die Erfahrung für uns, einen Eindruck vom neuen Denken der KPdSU erhalten zu haben, macht Mut und Hoffnung. Hoffnung, daß sich möglicherweise in der UdSSR eine neue Betrachtung der Atomenergienutzung durchsetzt. Dieses umsomehr, da man in der Frage der Notwendigkeit des drastischen Energieeinsparens und des Einsatzes regenerativer Energien einhelliger Meinung war und den Austausch intensivieren will.
Die Vereinbarung, im September in Moskau die Diskussion fortzusetzen und zu intensivieren, wird die Möglichkeit bieten, mit mehr Menschen und Meinungen in Kontakt zu kommen. Von Seiten der Grünen verbindet sich damit die Hoffnung, die Kritiker innerhalb des KPdSU an der bisherigen Energie- und Atomenergiepolitik als auch in Kontakt und Gesprächen mit informellen und ökologischen Gruppen außerhalb der KPdSU deren Position zu stärken.
Auch wenn Herr Frolow auf der abschließenden Pressekonferenz in Bonn die Ansicht vertrat, daß die KPdSU die größte Ökologiebewegung sei, so sind die Grünen doch davon überzeugt, daß es einer breiten Bewegung bedarf, um radikale Veränderungen zu erreichen. Denn ohne Bewegung bewegt sich nichts.
Der Verlauf des Seminars hat gezeigt, daß es bei den Grünen und innerhalb der Anti-AKW-Bewegung eine große Sympathie für die Veränderungen in der Sowjetunion gibt. In diesem Kontext erwarten wir eine spannende Fortsetzung der begonnenen Diskussion über ökologische Politik. Aus Sicht der Grünen kann sich die UdSSR heute entscheiden zwischen einer fundamental ökologisch orientierten Politik und einer technokratisch auf Technologietransfer aus dem Westen aufgebauten Reperaturpolitik. In diesem Zusammenhang wird die Beantwortung vieler offener Fragen, sei es zu Tschernobyl oder atomarer Endlagerung, und die weitere Diskussion zur HTR-Technologie und der weiteren Nutzung der Atomenergie ein wichtiger Prüfstein für die Wandlungsfähigkeit der KPdSU sein.
Eine Gefahr, auf die etliche Menschen hingewiesen haben soll nicht unter den Teppich gekehrt werden: Bieten die Grünen und die Anti-AKW-Bewegung mit ihrer offenherzigen Dialogbereitschaft nicht zuviel Anschauungsmaterial, wie die KPdSU die Ökologiebewegung im eigenen Land unter Kontrolle halten kann? Die Reihe der auf Druck der Bevölkerung nicht weiter verfolgten AKW-Projekte in letzter Zeit scheinen allerdings von der Lernbereitschaft des sowjetischen Systems zu zeugen.

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Heinz Laing ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag.