Afghanistan

Die Waffen verstummen, aber Perspektiven fehlen

von Otmar Steinbicker
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der Afghanistan-Krieg geht dem Ende entgegen. Es wird voraussichtlich keine Sieger geben, nur viele Verlierer. Der Krieg blutet aus. Das Interesse der bisherigen Krieg führenden Parteien, den Waffengang weiterzuführen, ist erlahmt. Wie es weitergehen soll im Land am Hindukusch ist völlig unklar, politische Konzepte für ein Nachkriegsafghanistan sind nirgends zu sehen, allenfalls persönliche Machtambitionen.

Am auffälligsten zeigt sich das am Streit zwischen den beiden Spitzenpolitikern auf Regierungsseite, dem Präsidenten Aschraf Ghani und seinem Herausforderer Abdullah Abdullah. Nachdem es fast ein halbes Jahr gedauert hatte, bis die Wahlkommission nach der Präsidentenwahl vom September 2019 mit einer sehr geringen Wahlbeteiligung Ghani zum Sieger ausrief, ist Abdullah Abdullah nicht bereit, Ghanis Sieg anzuerkennen und rief sich seinerseits zum Präsidenten aus. Abdullah zählt dabei vor allem auf Unterstützung aus den USA. Diese Unterstützung hatte schon bei den vergangenen Wahlen 2014 dazu geführt, dass für den auch damals unterlegenen Abdullah im Widerspruch zur afghanischen Verfassung das Amt eines Regierungschefs eingerichtet wurde.

Auch auf Seiten der Taliban gibt es kein politisches Konzept für die Zukunft des Landes. Seit mehr als zehn Jahren gibt es deutliche Signale, dass sie nicht zu einer Schreckensherrschaft wie vor 2001 zurückkehren wollen und dass sie auch bereit sind, Frauenrechte zu akzeptieren. Das war es aber auch schon. Als die Taliban 2001 von der Macht verjagt wurden, erlebten die Afghan*innen dies als Befreiung. Als in den folgenden Jahren die US-Armee Hochzeitsgesellschaften und Moscheen bombardierten, solidarisierten sich nicht wenige Afghan*innen wieder mit dem Kampf der Taliban gegen die ausländische Besatzung. In dem Maße, wie sich die ausländischen Truppen ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung zurückfuhren, sank die Sympathie für die Taliban wieder.

Sorge bereitet vielen Afghan*innen, dass die Talibanführung wieder fest im Griff des pakistanischen Geheimdienstes ISI ist. Die Delegation der Taliban bei den Verhandlungen mit den USA steht unter Leitung von Mullah Abdul Ghani Baradar. Dieser galt bis 2009 als Stellvertreter des legendären Talibanführers Mullah Omar. Baradar unterhielt damals diskrete Gesprächskontakte zum UNO-Sonderbeauftragten Kai Eide und suchte eine politische Verhandlungslösung. Das war damals nicht im Interesse des ISI und der Geheimdienst verübte zur Warnung ein Attentat auf das Wohnhaus Baradars in Pakistan, bei dem die Frau Baradars schwer verletzt wurde. Im Februar 2010 wurde Baradar bei einer konzertierten Aktion des ISI und der CIA in Karatschi (Pakistan) festgenommen und blieb über Jahre im Gefängnis. Erst als die Taliban 2018 eine vom ISI handverlesene Verhandlungsdelegation zusammenstellen duften, wurde Baradar freigelassen und als Delegationsleiter aktiviert.

Das Abkommen vom Februar
Am 29.2.2020 wurde schließlich ein gemeinsames Abkommen (1) zwischen den Taliban und der US-Regierung unterzeichnet, das vier Punkte beinhaltet: 1. eine Garantie der Taliban, dass Afghanistan nie wieder einen Boden für terroristische Aktivitäten gegen die USA bilden darf, 2. Garantien der USA und einen Zeitraum für den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan 3. die Ankündigung, dass die Taliban innerafghanische Verhandlungen mit „afghanischen Seiten“ („Afghan sides“) am 10. März starten werden, 4. dass ein dauerhafter Waffenstillstand ein fester Bestandteil der innerafghanischen Verhandlungen sein soll. Die gegenwärtige afghanische Regierung wird in diesem Abkommen mit keinem Wort erwähnt. Eine künftige afghanische Regierung, die aus den innerafghanischen Verhandlungen hervorgeht, soll gute Beziehungen zu den USA unterhalten.
Eine Vereinbarung zwischen den USA und den Taliban über einen Gefangenenaustausch, der unter anderem vorsah, dass die afghanische Regierung 5000 gefangene Taliban freilassen sollte, wurde von der Regierung nicht eingehalten, was wiederum das Inkrafttreten des Waffenstillstands verhinderte.

Insgesamt liegt das bisher Erreichte noch weit hinter dem zurück, was vor zehn Jahren zum Stichtag 1. September 2010 zum Greifen nah war. Zur Erinnerung ein kleiner Rückblick auf die damalige Entwicklung.

Vor zehn Jahren: eine vertane Chance
Entscheidend für den Start des damaligen Gesprächsprozesses war im Mai 2008 die Gründung einer Nationalen Friedensjirga Afghanistans, einer Versammlung von ca. 3000 Stammesführern, religiösen Würdenträgern und anderen, die eine politische Friedenslösung unter Einbeziehung der Taliban forderte. Diese richtete unter dem Aspekt traditioneller freundschaftlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan ihre Hoffnung auf Vermittlungsbemühungen der Bundesregierung. Anfang September 2008 forderten die Nationale Friedensjirga Afghanistans und die deutsche Kooperation für den Frieden in einer gemeinsamen Erklärung die Bundesregierung auf, in diesem Sinne aktiv zu werden.

Ende Januar 2009 trafen auf Einladung des Aachener Oberbürgermeisters der damalige Oberbefehlshaber der ISAF-Truppen, General Egon Ramms, und der Aachener Friedenspreisträger Andreas Buro im Rahmen einer Podiumsdiskussion zusammen. Während die öffentliche Debatte damals keine neuen Aspekte zeigte, überraschte Ramms bei einem anschließenden Stehempfang Andreas Buro und mich mit einer beiläufigen Bemerkung: Ihm sei klar, dass die ISAF-Truppen aus Afghanistan abziehen müssten. „Noch ein halbes Jahr afghanische Truppen ausbilden und dann Abzug“, lautete seine Perspektive. Dass das unausgesprochen das Eingeständnis beinhaltete, dass aus der Sicht des ISAF-Oberbefehlshabers der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, war uns klar. Da ich den Kontakt zur Friedensjirga hielt, bot ich Ramms an, ein Gespräch mit einem Vertreter dieser Bewegung zu führen, sobald diese in Deutschland eintreffe. Ramms Büro im NATO Joint Force Command im niederländischen Brunssum war lediglich 25 km von Aachen entfernt. Ramms zeigte sich an einem solchen Gespräch interessiert und wir tauschten unsere Visitenkarten aus.

Im März 2009 zeigte sich auf Initiative der Friedensjirga der Taliban-Kommandeur von Kundus zu einem regionalen Waffenstillstand bereit. Wir hofften durch eine solche Initiative die Bundesregierung zum Engagement motivieren zu können – vergeblich. Ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes fertigte mich am Telefon ab und gab die Nachricht auch nicht weiter. Der Taliban-Kommandeur traf sich daraufhin im Mai 2009 mit dem Spiegel-Redakteur Matthias Gebauer, um ihn um Kontaktherstellung zum deutschen Kommandeur zu bitten, um über den Waffenstillstandsplan zu verhandeln. Gebauer informierte wunschgemäß Oberst Klein, doch der setzte daraufhin nur den Taliban-Kommandeur auf die ISAF-Fahndungsliste. Der Mann wurde im November von einem US-Spezialkommando getötet.

Am 3. September konnte ich General Ramms per email informieren, dass der Auslandsbeauftragte der Friedensjirga, Naqibullah Shorish, Ende des Monats nach Deutschland käme. Am Tag darauf befahl Oberst Klein das Tanklasterbombardement bei Kundus und am nächsten Arbeitstag bekam ich einen Anruf vom Büro von General Ramms, man sei am Gespräch interessiert. Als Shorish und ich am 23.9. Ramms im NATO Joint Force Command besuchten, stimmte er sofort unserem Vorschlag zu, mit einem regionalen Waffenstillstand für Kundus einen ersten Vorstoß für eine Friedenslösung zu unternehmen. Sollte der Waffenstillstand in Kundus halten, sollten auch in anderen Regionen Waffenstillstände ausgehandelt werden. Unsere Euphorie wurde aber schon bald gedämpft. So ehrlich Ramms sich auch engagierte, so wenig waren die NATO und auch die Bundesregierung an einem solchen Weg interessiert. Ramms gab dennoch nicht auf und verschaffte Shorish einen Kontakt ins ISAF-Hauptquartier in Kabul, wo der britische General Graeme Lamb ebenfalls an einer politischen Lösung interessiert war, weil er wusste und es auch aussprach, dass der Krieg verloren sein würde.

Im Mai 2010 besuchte ich mit Shorish den damaligen Sonderbeauftragten des Auswärtigen Amtes für Afghanistan und Pakistan, Bernd Mützelburg, in dessen Büro. Mützelburg hielt nichts von unseren Waffenstillstandsbemühungen, denn diese würden ihm viel zu lange dauern. Er wolle sofortige Verhandlungen mit den Taliban. Dann sollte so schnell wie möglich ein Vertrag unterschrieben werden, der auch Menschenrechte und Frauenrechte thematisieren sollte, und danach sollte eine schneller Abzug der ISAF-Truppen erfolgen.

Mützelburgs Überlegungen stießen wiederum bei den Taliban auf Interesse. Sie fragten: „Was sollen wir unterschreiben, damit die ausländischen Truppen abziehen?“ Im Ergebnis legten sie eine eigene 11-Punkte-Erklärung vor: 1. keine Neuauflage der Regierungspraxis bis 2001, 2. keine Verbindungen zu Al Qaida, 3. keine Verbindungen zum ISI (Inter-Services Intelligence, ein pakistanischer Geheimdienst), 4. keine Basis für terroristische Aktivitäten in Afghanistan, 6. neutrales und blockfreies Afghanistan und Anerkennung der UNO-Menschenrechtskonvention , 7. keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans oder Afghanistans in die inneren Angelegenheiten anderer Länder;  8. Neubestimmung der afghanischen Innenpolitik durch eine Loya Jirga, 9. Umwidmung der Taliban zu einer politischen Partei, die an Wahlen teilnimmt, 10. Innenpolitik gemäß den nationalen Traditionen Afghanistans, 11. Frauenrechte, u.a. aktives und passives Wahlrecht sowie Recht auf Bildung und Berufsausübung.

Im Juli und August 2010 berieten in Anwesenheit von Shorish ISAF-Offfiziere aus Großbritannien, den USA und Deutschland gemeinsam mit hohen Taliban-Führern in Camp Warehouse in Kabul. Einen generellen Waffenstillstand lehnte die NATO dabei vor einer Einigung auf politischen Grundlagen ab. Den Taliban war wichtig, ihre Führung aus dem pakistanischen Exil nach Afghanistan zu holen, um sie dem Zugriff des ISI zu entziehen. Daher einigte man sich darauf, die Provinz Jalalabad an der Grenze zu Pakistan zu einer neutralen Zone zu erklären, die eine Übergangsregierung bekommen sollte, die aus Experten gebildet werden sollte, von denen jeweils eine Hälfte das Vertrauen der afghanischen Regierung bzw. der Taliban erhalten müsse. Zum 1. September 2010 war dieses Experiment umsetzungsreif. Doch nach der Pensionierung von General Ramms am 30. September 2010 brach die NATO jegliche Kontakte ab.

Anmerkung
1 https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/Agreement-For-Bringing-...

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de