Kernpunkte des neuen strategischen NATO-Grundsatzdokumentes

Die weiße Rasse unter Waffen

von Andreas BuroClemens Ronnefeldt
Schwerpunkt
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"`Transatlantische Übereinkunft für eine euro-atlantische Gemeinschaft` nennt Nato-Generalsekretär Javier Solana den Kernpunkt der zum 50. Jahrestag der Allianz im April angekündigten Doktrin. `Die weiße Rasse unter Waffen` nennt dies provozierend der Londoner Guardian" (zit. nach FR-Kommentar, 23.11.98). Die vorgesehenen Änderungen der NATO-Grundlagen (u.a. Einsätze grundsätzlich ohne UN-Mandat, weltweite Verteidigung amerikanischer und europäischer Interessen) sind so schwerwiegend, dass alle demokratischen und internationalrechtlichen Alarmglocken schrillen müssten.

Im Juli 1997 begannen die Arbeiten an dem neuen Strategischen Konzept. Schon im Dezember 1997 wurden die Kernpunkte der neuen Richtlinien auf der NATO-Herbsttagung in Brüssel gebilligt. Es soll im April 1999 von dem NATO-Rat verabschiedet werden.

Derzeit ist der Entwurf noch nicht öffentlich. Den Diskussionsprozess allerdings beschreibt Dr. Karl-Heinz Kamp, Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, in dem Arbeitspapier "Das neue Strategische Konzept der NATO: Entwicklung und Probleme" (St. Augustin, August 1998), aus dem wir im folgenden ausführlich die verschiedenen Positionen zitieren:

USA
(...) "Bereits im Dezember 1997 hatte die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright anlässlich der NATO-Ministerratstagung in Brüssel ihre Amtskollegen auf die Proliferationsgefahren (Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, A.B./C.R.) hingewiesen und dabei keinen Zweifel an der Entschlossenheit und dem Führungswillen der USA gelassen. Auch war nach Ansicht der amerikanischen Vertreter die NATO das zentrale Element sicherheitspolitischen Handelns. Die Relevanz anderer Organisationen wie OSZE oder die Vereinten Nationen wurde nicht abstrakt gleichwertig, sondern eher hierarchisch anhand der konkret vorweisbaren Erfolge bewertet. (...) Entsprechend folgerichtig signalisierten die USA im Rahmen der Beratungen zum Strategischen Konzept frühzeitig, dass sie die Handlungsfähigkeit der NATO im Falle vitaler Herausforderungen nicht durch die Frage eines Mandates der Vereinten Nationen eingeschränkt sehen wollten. Statt dessen sollten militärische Operationen der NATO im Krisenfall auch ohne Legitimation des UNO-Sicherheitsrates möglich sein".
 

Großbritannien
(...) "Sehr dezidiert äußerte sich Großbritannien hinsichtlich der Nuklearproblematik. Die künftige Rolle von Kernwaffen sollte nicht Gegenstand der Diskussion in der PCG (Policy Coordination Group, die das Dokument vorbereitet, A.B./C.R.) sein, um nicht unnötig eine allianzinterne Nukleardebatte auszulösen. Eine Auseinandersetzung über die atomare Komponente des NATO-Verteidigungspotentials würde aus britischer Sicht Spannungen in das Bündnis tragen und würde gegenüber der Öffentlichkeit missverständliche Signale aussenden". (...)

Frankreich
"Auch Frankreich ging eher offen in die ersten Diskussionen zum Strategischen Konzept, setzte aber einige Akzente von Anfang an grundlegend anders. So wurde anderen Sicherheitsorganisationen und insbesondere der gemeinsamen Europäischen Außen-und Sicherheitspolitik der Europäischen Union eine weitaus größere Bedeutung eingeräumt. Die NATO solle militärisch - außer im Falle der Selbtverteidigung - nur in Unterstützung der UNO oder der OSZE tätig werden. Mithin sei immer ein Mandat dieser Institutionen erforderlich". (...).

Deutschland
"Die deutsche Ausgangsposition in den ersten Sitzungen der PCG tendierte eher zu den Auffassungen Großbritanniens und der USA - ohne allerdings in allen Punkten übereinzustimmen. Deutschland betonte die Rolle der NATO als Stabilitätsfaktor im gesamten euro-atlantischen Raum und maß insbesondere dem Mittelmeergebiet eine besondere Bedeutung bei. Dabei wurde diese Region allerdings nicht allein als eine Quelle möglicher Risiken gesehen, sondern weit eher als ein Raum für Politikgestaltung. Demgemäß wird eine Ausweitung des geographischen und funktionalen Handlungsrahmens der NATO aus deutscher Sicht nicht primär im Sinne militärischen Handelns verstanden, sondern bedeutet zunächst, dass die NATO bestimmten Regionen erhöhte Aufmerksamkeit beimisst, um dort politische Entwicklungen zu beeinflussen, bevor sie sich zu militärischen Krisen entwickeln. Auch wiesen die deutschen Vertreter in der PCG darauf hin, dass die künftigen Aufgaben der NATO jenseits des Bündnisgebietes im neuen Konzept sehr sorgfältig und vorsichtig formuliert werden müssten, um dem Eindruck einer sich künftig aggressiv gebärdenden Allianz entgegen zu wirken. Mit Blick auf das Verhältnis der NATO zu den übrigen Sicherheitsinstitutionen war die deutsche Haltung - abweichend von der Position der USA - weniger hierarchisch orientiert, sondern ging von einem engen, gleichwertigen Zusammenwirken dieser Institutionen aus". (...)
 

Der Mandatsstreit
"In der Mandatsfrage, die mit dem Aspekt der künftigen Verantwortlichkeiten des Bündnisses eng verbunden ist, stehen sich im wesentlichen Frankreich und die übrigen NATO-Partner gegenüber. (...) In den folgenden Monaten verfestigte sich diese Haltung und die französischen Vertreter in der PCG bestanden darauf, in das neue Konzept eine Formulierung aufzunehmen, welche die Handlungsfähigkeit der NATO im Bereich des Krisenmanagments zwingend an ein Mandat der UNO oder der OSZE bindet. Darin sah die überwiegende Mehrheit der übrigen NATO-Mitglieder - allen voran die USA - eine unzulässige Einschränkung des Handlungsrahmens der Atlantischen Allianz. (...)

Rückendeckung bekamen die Gegner der französischen Mandatsposition von den Mitgliedern des amerikanischen Kongresses. In der am 30. April 1998 mit 80 zu 19 Stimmen angenommenen Senatsresolution zur Ratifizierung der NATO-Osterweiterung ist die Ablehnung der unbedingten Mandatserfordernis deutlich zu erkennen. (...)

Frankreich beharrte aber auf seiner Position und warnte vor einer möglichen `Selbstmandatierung` unter Berufung auf den Artikel 51 (Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffes, A.B./C.R.). Dies würde einerseits die Gefahr in sich bergen, dass auch Russland sich diese Argumentation zu eigen machen könnte, um in dem nach der Lesart Moskaus `nahen Ausland` militärisch aktiv zu werden. Auch würde ein militärisches Handeln der NATO ohne Mandat eine Änderung von Artikel 7 des NATO-Vertrages erfordern, in dem die Verantwortung des UN-Sicherheitsrates für die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit betont wird.

Politische Aktualität gewann die Mandatsfrage mit den Entwicklungen im Kosovo seit dem Winter 1997/98. (...) Während einerseits gerade bei den europäischen NATO-Partnern die Sorge wuchs, eine Verschärfung der Kosovo-Krise könnte eine erneute Fluchtwelle von Kosovoalbanern nach Westeuropa auslösen, wurde andererseits heftig diskutiert, welche rechtlichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der NATO gegeben sein müssten. (...)

Weit interessanter als dieser innenpolitische Disput (zwischen Rühe und Kinkel um die Notwendigkeit eines UN-Mandates, A.B./C.R.), der nicht zuletzt auch von Wahlkampfüberlegungen geleitet gewesen sein dürfte, ist der Beispielcharakter der Kosovokrise für die Problematik eines völkerrechtlichen Mandats als zwingende Voraussetzung für ein militärisches Eingreifen der NATO". (...)
 

Die Frage der Kernfunktionen
"Ein zweiter Streitpunkt innerhalb der PCG bezog sich auf die künftigen Kernfunktionen der NATO und wurde zunächst zwischen Deutschland und Großbritannien ausgetragen. (...) Das deutsche Bestreben, den Artikel 5 (gegenseitige Beistandspflicht, A.B./C.R.) als die primäre Kernfunktion zu etablieren, wird nicht zuletzt aus dem Interesse genährt, die Hauptverteidigungskräfte der Bundeswehr und damit den Erhalt der Wehrpflicht rechtfertigen zu können. Großbritannien hingegen sieht für seine auf rasche Verlegbarkeit und auf power projection ausgerichtete Berufsarmee einen wesentlichen Aufgabenbereich jenseits der derzeitigen Bündnisgrenzen. Das im Juli 1998 von der Labour-Regierung verkündete neue britische Verteidigungskonzept sieht explizit mobile Streikräfte für Einsätze überall in der Welt vor, um im Sinne einer defense diplomacy frühzeitig intervenieren zu können. (...)

Ungeachtet dieser Auseinandersetzungen um Einzelaspekte sind derzeit keine wirklich fundamentalen Differenzen im Bündnis hinsichtlich des neuen Strategischen Konzeptes zu erkennen. (...) Dieser relativ harmonische Beratungsverlauf kann sich aber verändern, sollten die Überlegungen zum Strategischen Konzept von anderen anstehenden Themen, wie etwa der Umsetzung der Ende 1997 im Grundsatz beschlossenen neuen Kommandostruktur der NATO, oder die Frage einer zweiten NATO-Erweiterungsrunde überlagert werden".(...)

Der Handlungsrahmen des Bündnisses
"Der Versuch einiger NATO-Partner, den geographischen Handlungsrahmen der Allianz primär auf das Bündnisgebiet zu beschränken, entspricht kaum den künftigen Anforderungen. Statt dessen muss das neue Strategische Konzept der Tatsache Rechung tragen, dass geographische Entfernung einen immer geringeren Einflussfaktor in der sicherheitspolitischen Risikoanalyse darstellt. Durch die zunehmende Verbreitung weitreichender Trägermittel für Waffensysteme aller Art erlangen immer mehr Staaten die Fähigkeit zur militärischen Machtprojektion über weite Distanzen. (...)

Die NATO ist keine rechtsetzende Organisation und damit auf eine völkerrechtliche Legitimation für Aktionen jenseits der reinen Selbstverteidigung angewiesen. (...) Vorstellbar wäre, dass in den Situationen, in denen vitale Interessen einzelner NATO-Staaten berührt sind, ein explizites Mandat aber nicht zu bekommen ist, die betroffenen Länder individuell oder im Zusammenwirken mit Partnerstaaten ihre Interessen außerhalb des Allianzrahmens militärisch vertreten. Hier ermöglicht das NATO-Konzept der Combined Joint Task Force - die Zustimmung aller Bündnispartner vorausgesetzt - die Nutzung des militärischen Großgerätes der Allianz". (...)

Die Rolle von Nuklearwaffen
"Nach wie vor herrscht in der NATO mehrheitlich die Auffassung, innerhalb des neuen Strategischen Konzepts die Rolle von Kernwaffen nicht neu zu definieren, sondern sich statt dessen auf die Formulierungen des Konzepts von 1991 abzustützen. (...) Auch glaubt die Mehrheit der NATO-Partner auf diese Weise eine erneute Nukleardiskussion und damit eine weitere Erosion der Akzeptanz von Kernwaffen in der Öffentlichkeit verhindern zu können. Gegen einen solch minimalistischen Ansatz spricht allerdings, dass es in den letzten Jahren eine stetige Veränderung im Verständnis der Funktion von Kernwaffen gegeben hat, die nur schwer ignoriert werden kann. So sind gerade die amerikanischen Kernwaffen konzeptionell aus dem Ost-West Kontext herausgelöst worden und gelten zunehmend auch als Mittel zur Abschreckung gegen biologische oder chemische Waffen im Rahmen regionaler Konflikte. Seit der versteckten Nukleardrohung der USA gegenüber dem Irak im Golfkrieg hat es immer wieder Äußerungen aus der amerikanischen Administration gegeben, die das Recht der USA auf nukleare Vergeltung im Falle eines Angriffs mit Massenvernichtungswaffen betont haben.
Soweit die Arbeit der Konrad-Adenauer Stiftung.

Der neue NATO-Kurs ruft förmlich nach Protest
Was die NATO-Politiker und ihre Militärs derzeit planen, läuft auf reine Machtpolitik der reichen Staaten über den Rest der Welt hinaus: Militärische Interventionen zur Durchsetzung der eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen. Da es in einer militärisch-unipolaren Welt keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr gibt, soll die NATO auf die Legitimation militärischen Handelns durch internationales Recht und die UN verzichten. Was daraus folgt, ist das "Recht der Stärkeren", also modernisiertes Faustrecht.

Wir fragen uns, wo der Aufschrei der neuen rot-grünen Regierung in Bonn bleibt? Wird selbst in diesem Falle nur Kontinuität regieren?! Es steht diesmal noch viel mehr auf dem Spiel als "nur" friedenspolitische Glaubwürdigkeit.

- Statt NATO-Faustrecht brauchen wir eine Stärkung
  des internationalen Rechts, das auch die
  schwachen Länder schützt. Deshalb müssen die UN
  und die OSZE gefördert und ausgebaut werden.

- Statt Interventionsarmeen mit schnellen
  Eingreiftruppen zur Interessendurchsetzung der
  wohlhabenden Staaten benötigen wir die Entfaltung
  der Methoden und Instrumente ziviler
  Konfliktbearbeitung. Diese sind möglichst
  vorausschauend einzusetzen, damit Gewalt und
  Kriege vermieden werden können.

- Statt der Nuklearwaffenstrategien mit dem
  Vorbehalt, Atomwaffen als erste einzusetzen,
  benötigen wir einen schnellen Abbau dieser
  Massenvernichtungsmittel sowie wirksame Kontrollen
  zu deren Nichtweiterverbreitung.

Am 8.7.98 verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag: "Die Drohung mit und der Einsatz von Kernwaffen verstoßen generell gegen die Regeln des Internationalen Völkerrechts". 75 US-Bischöfe appellierten im Juni 1998: "Die Menschheit steht vor den schwerwiegendsten Konsequenzen, wenn die Welt von einem durch Kernwaffen repräsentierten Militarismus beherrscht wird, anstatt dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen. (...) Es gibt keine Rechtfertigung für sie. Sie sind zu verdammen" (zit. nach FR, 31.8.98).
 

Wenn die Verteidigungs- und Außenminister der NATO dennoch meinen, sie müssten mit Atomwaffen gegenüber Staaten der sog. "Dritten Welt" drohen, müssen sie vor ein internationales Tribunal gestellt werden.

- Statt der internationalen Einordnung der Militär-
  und Außenpolitiker in das globale, unipolare
  Militärsystem unter Führung der USA benötigen wir
  eine Zusammenarbeit derjenigen Staaten, die es
  ernst mit dem Satz meinen, dass Außenpolitik
  Friedenspolitik sein muss.

Das neue NATO-Dokument zeigt schon in der Planung: "Militärische Friedenspolitik" ist ein Widerspruch in sich selbst.

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.