Wie die UN mit einem neuen Sicherheitsbegriff den Großmächten in die Hände spielen

Diese Verantwortung heißt Intervention

von Christoph Marischka

Ganz klar: Aus der Sicht westlicher Industriestaaten haben sich die Bedrohungen für die internationale Sicherheit gewandelt. Ein Krieg zwischen kapitalistisch entwickelten Staaten ist gegenwärtig relativ unwahrscheinlich und deshalb müssen sich sowohl die nationalen als auch die internationalen Sicherheitssysteme neuen Bedrohungen zuwenden und einen neuen Begriff von Sicherheit entwickeln, um sich weiterhin zu legitimieren.

Die USA machten es vor
Die USA erhielten am 11. September 2001 sozusagen eine Steilvorlage für eine solche neue Bedrohungsanalyse und riefen in der Folge den "Krieg gegen den Terror" aus, der nach Bushs eigener Aussage nie zu Ende geführt werden kann und sowohl im eigenen Land als auch global geführt werden muss.

Doch die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) vom September 2002, deren Hauptthema die Bekämpfung des Terrorismus ist, umfasste in bisher nicht da gewesener Weise auch zivile Maßnahmen, und angesichts der Terroranschläge erhöhte die US-Regierung 2002 erstmals seit Jahren das Budget für Entwicklungshilfe. Auch verfolgten die USA bei ihrem Krieg gegen den Terror von Anfang an einen multilateralen Ansatz mit "Partnern" und "Freunden". Der Auftakt dieser Serie militärischer Handlungen gegen die neuen Bedrohungen, der Afghanistan-Krieg, war noch vom UN-Sicherheitsrat legitimiert worden, doch spätestens seit dem 3. Golfkrieg wurde deutlich, dass die Definitionen von Bedrohungen und die Analyse angemessener Reaktionen von den Interessen der mächtigen Staaten abhängig sind und die USA willens sind, auch ohne UN-Mandat souveräne Staaten anzugreifen. Diese Haltung gegenüber den UN brachte die US-Administration schon zuvor in o.g. Sicherheitsstrategie zum Ausdruck, in der von den UN nur ganz am Rande die Rede ist.

UNO unter Druck
Vor diesem Hintergrund konstatierte der UN-Generalsekretär Kofi Annan im September 2003, die UN seien an einem Scheidepunkt angelangt und berief eine "Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel" ein, die eine neue, konsensfähige Bedrohungsanalyse und Vorschläge zu Reformen der UN erarbeiten sollte.

Den abschließenden Bericht dieser Gruppe stellte Annan der Generalversammlung im Dezember 2004 vor, er trägt den Titel "Eine sichere Welt - unsere gemeinsame Verantwortung".

Dieser Bericht ist inhaltlich ein Kompromiss zwischen den Großmächten, welcher militärischen Interventionen Vorschub leistet. Die neuen und vorrangigen Bedrohungen werden in sechs Kategorien angegeben: 1. Kriege zwischen Staaten; 2. Gewalt innerhalb von Staaten; 3. Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörung; 4. Massenvernichtungswaffen; 5. Terrorismus und 6. Grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Damit folgt der Bericht im Wesentlichen der in der US-Amerikanischen Sicherheitsstrategie vom September 2002 gemachten Vorgabe einer Bedrohungstirade durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und gescheiterte Staaten, die von der EU in ihrer Europäischen Sicherheitsstrategie im Dezember 2003 übernommen wurde, und erweitert den Sicherheitsbegriff zugleich im Sinne sowohl der USA als auch v.a. der Europäischen Union um Themen wie Armut, Krankheiten und Umwelt.

Jede der sechs Bedrohungskategorien wird anschließend näher begründet, und vorbeugende Maßnahmen werden erörtert, wobei mit der 3. Kategorie (Armut, Krankheiten und Umwelt) begonnen wird, die dadurch eine irreführende Prominenz erhält: Zwar wird festgestellt, dass diese Probleme oft Grundlage der weiteren Bedrohungen seien und somit Entwicklung die "vorderste Verteidigungslinie eines Systems der kollektiven Sicherheit" sein muss. Doch so unterschiedliche Probleme wie Umweltzerstörung, Armut und Krankheiten werden zusammen gerade einmal so eingehend behandelt wie Massenvernichtungswaffen, Terrorismus und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität im Einzelnen. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu dem Verhältnis zwischen menschlichen Opfern durch Armut und Krankheiten einerseits und bspw. dem Terrorismus andererseits, sondern deutet auf einen grundsätzlichen Bewusstseinswandel der UN hin, die sich bislang auch stark um ökonomische, humane und ökologische Belange kümmerte, ohne dies jedoch sicherheitspolitisch zu begründen. Dies war vielleicht die wirkliche Qualität der UN, denn diese Politiken verliefen oft im tendenziellen Widerspruch zu den Machtgefällen im internationalen System.

Mit dem Grundlagenpapier "Eine sichere Welt - unsere gemeinsame Verantwortung" wird menschliche Sicherheit nicht mehr als Selbstzweck definiert, sondern als Interesse der westlichen konsolidierten Staaten. Armut wird nicht als Problem an sich betrachtet, sondern als Nährboden für Krieg und Terrorismus und deshalb eingereiht in eine Reihe von Bedrohungen, denen letztendlich militärisch zu begegnen ist. Denn die "Hochrangige Gruppe" hat zwar wohl erkannt, dass viele neue Bedrohungen, sowie internationale Politik insgesamt, zunehmend von nicht-staatlichen Akteuren gestaltet wird, bleibt aber im alten Denkmuster verhaftet, dass nur Staaten (im Staatenbund) Sicherheit gewährleisten können. Aus der Feststellung, dass im Verhältnis immer weniger Konflikte zwischen Staaten ausgetragen werden als innerhalb von Staaten, folgt eine Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass viele Gefahren für die Individuen von Staaten und einem durch die mächtigsten Staaten forcierten Wirtschaftssystem ausgehen. Während die Idee der UN bei ihrer Gründung vor dem Hintergrund der zwei Weltkriege die Eindämmung militärischer Außenpolitik von Staaten war, fordert nun die UN verstärkte Interventionen und sogar zusätzliche militärische Kapazitäten. In diesem Kontext ist die "Verantwortung zum Schutz (der Individuen)", welche neue Leitdevise der UN werden soll, und auf die der Titel des Papiers anspielt, eine besorgniserregende Einladung zu zukünftigen Interventionen und zivilmilitärischer Zusammenarbeit. Dieser Richtungswechsel der UN folgt sicherlich zweck-rationalen Erwägungen, indem sie den strategischen Leitbildern und dem Sicherheitsbegriff der Großmächte folgt, um ihren Fortbestand und Einfluss zu sichern. Wenn aber dieser Sicherheitsbegriff, der menschliche Sicherheit mit nationaler Verteidigung auf eine Stufe stellt, durch die UN zum internationalen Konsens wird, ist ein neues Schlagwort geboren, welches, entsprechend der "humanitären Intervention", je nach Interesse einzelnen Staaten eine Legitimation bietet, hier oder dort seine "Verantwortung zum Schutz" wahrzunehmen und im Namen der "menschlichen Sicherheit" zu intervenieren.

EU wird konkret
Zeitlich parallel zur Hochrangigen Gruppe wurde vom EU-Außenbeauftragten Solana im Herbst 2003 eine Studiengruppe zu den Fähigkeiten und Möglichkeiten der europäischen Sicherheitspolitik eingesetzt, die im September 2004 abschließend eine "Human Security Doctrine for Europe" an Solana übergab. Sie ist gewissermaßen die vorauseilende Umsetzung der "Verantwortung zum Schutz" und der Beweis, dass die EU und vor allem Deutschland mit Aussicht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat es kaum erwarten können, ihre "Verantwortung" wahrzunehmen. In ihr wird vorgeschlagen, eine zivil-militärische Human Security Response Force mit 10.000 SoldatInnen und 5.000 ZivilistInnen als Speerspitze zukünftiger EU-Interventionen aufzustellen. Argumentiert wird hier ähnlich wie in dem UN-Papier zugleich über moralische Verpflichtungen und "Aufgeklärtes Eigeninteresse", die wie von Geisterhand auf dieselben Handlungen verweisen, nämlich Interventionen um in instabilen Regionen wieder funktionierende (marktliberale) Rechtsstaaten zu schaffen. Diese sollen, wenn möglich, mit Zustimmung des Sicherheitsrates stattfinden, es werden aber auch Einsätze ohne Mandat für möglich gehalten. Die Human Security Doctrine argumentiert, ähnlich wie die "Hochrangige Gruppe" der UN und die US-Sicherheitsstrategie über die Globalisierung, die Bedrohungen transnational werden lässt und somit die ganze Welt zum Einsatzgebiet macht. Damit existieren bereits drei Akteure, die für sich beanspruchen "Weltinnenpolitik" zu betreiben und global die eigene Sicherheit zu verteidigen. Die USA im Namen der "Freiheit", die EU im Namen der "menschlichen Sicherheit" und die UN im Namen einer "Verantwortung zum Schutz". Freilich gehen die USA dabei bisher am aggressivsten vor, was aber vor allem in ihrem militärischen Potential begründet liegt.

 

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Christoph Marischka ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.