Hunderttausende BürgerInnen werden zu künftigen Verbrechern stigmatisiert: Feindbild-Konstruktion durch DNA-Tests bei Strafgefangenen

DNA-Identitätsfeststellungen bei Gefangenen

von Martin Singe
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Ende 1998 ist das sog. DNA-Identitätsfeststellungsgesetz (DNA-IFG) in erweiterter Form in Kraft getreten. Danach können auch bei lediglich beschuldigten sowie bei verurteilten Personen für den Gebrauch in zukünftigen(!) Strafverfahren DNA-Identitätsfeststellungen - durch Entnahme von Körperzellen z.B. in Form einer Speichelprobe - vorgenommen werden. Voraussetzung ist, dass "Grund zu der Annahme besteht", dass gegen den Betroffenen "künftig erneut" Strafverfahren wegen Taten von erheblicher Bedeutung "zu führen sind" (§ 81 g Strafprozessordnung - StPO).

Zuvor waren DNA-Identitätsfeststellungen bei Beschuldigten nur möglich, wenn die möglicherweise zu gewinnenden Erkenntnisse für den aktuellen Prozess von Bedeutung waren. Anschließend mussten die entnommenen Körperzellen bzw. die daraus gewonnenen Daten vernichtet werden (§ 81 a StPO). Bei Verurteilten ("Altfälle") waren DNA-Identitätsfeststellungen überhaupt nicht erlaubt.

Dass bei Beschuldigten, die im laufenden Ermittlungs- oder Strafverfahren überhaupt noch nicht einer Tat überführt sind, DNA-Identitätsfeststellungen für zukünftige Verfahren gemacht werden können, die im aktuellen Verfahren gar nicht gebraucht werden, verletzt in eklatanter Weise das Prinzip "in dubio pro reo" (Unschuldsvermutung). Wenn die Staatsanwaltschaft Beschuldigten unterstellt, dass sie künftig Straftaten begehen werden, wie sind dann wohl ihre Verteidigungschancen im aktuellen Verfahren einzuschätzen? Scheinbar will man den "genetischen Fingerabdruck" - der ja eigentlich eher einem "Ganzkörper-Abdruck" gleichkommt - routinemäßig bei Ermittlungsverfahren zur Anwendung bringen. So wurde dem Komitee für Grundrechte und Demokratie im Juli 1999 folgender Fall bekannt: Im Rahmen einer Hausdurchsuchung bei vermeintlichen Castor-Gegnern, die des Eingriffs in den Schienenverkehr und der Bildung terroristischer Vereinigungen beschuldigt werden, wurden neben Fingerabdrücken mal eben auch gleich einige Speichelproben mitgenommen.
 

Nachdem der Gesetzgeber erst einmal die Zulässigkeit von DNA-Identitätsfeststellungen für vermutete zukünftige Strafverfahren von lediglich Verdächtigen in den Gesetzestext hineingeschrieben hat, fällt es ihm natürlich leicht, diese Möglichkeit auch auf bereits Verurteilte auszudehnen. Dies geschieht dann mit einer besonders originellen Begründung: "Das Ergebnis der Zulässigkeit der Speicherung nach Verurteilung ergibt sich auch aus dem Erstrecht-Schluss. Wenn schon Verdachtsfälle eine Speicherung rechtfertigen, dann dürfen erst recht Verurteilte gespeichert werden ..." (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses; BTDrs. 13/11116, 22.06.98, S. 8)

Alles was technisch möglich ist, muss auch angewendet werden. Nach diesem Motto wird jetzt eine riesige "Verbrecher-Gendatei" beim Bundeskriminalamt (BKA) angelegt. Da den Politikern alles zu langsam bei der Erstellung dieser Datei geht, wurde im Juni 1999 nachgebessert. In einem Änderungsgesetz werden Antrags- und Übermittlungsbefugnisse präziser festgelegt. Außerdem werden die zuvor pauschal benannten Taten in einem Delikt-Katalog, der 41 StGB-Paragraphen umfasst, konkretisiert, wobei zugleich darauf hingewiesen wird, dass dieser Katalog natürlich nicht exklusiv bzw. abschließend zu verstehen sei. Seit dieser Nachbesserung ist es nun möglich, dass die Staatsanwaltschaften per Suchlauf beim BKA alle Fälle anfordern können, die in ihrem Zuständigkeitsbereich für DNA-Identitätsfeststellungen in Frage kämen. Schon diese Art der Herangehensweise macht deutlich, dass es nicht um konkrete Einzelfälle geht, in denen eine Gefährlichkeitsprognose erstellt worden wäre. Offensichtlich will man soviel Daten-Material wie irgend möglich sammeln. Das zeigt sich auch daran, dass gegenwärtig in den Gefängnissen serienweise zur "freiwilligen" Speichelabgabe aufgefordert wird. Was "Freiwilligkeit" unter den Bedingungen eines Knastes bedeutet, kann man sich gut ausmalen. Ein Gefangenensprecher aus einem süddeutschen Gefängnis schrieb an das Grundrechte-Komitee: "Ich als einer der Gefangenensprecher der hiesigen JVA (...) muss in letzter Zeit feststellen, wie bei vielen hier einsitzenden Mitgefangenen das neue DNA-Identitätsfeststellungsgesetz auf fast diktatorische Art und Weise durchgesetzt wird! Es besteht hier völlige Rechtsunsicherheit und es wird mit vagen Drohungen über angebliche Zwangsmöglichkeiten Druck dahingehend ausgeübt, die Gefangenen zur freiwilligen Abgabe der Speichelprobe zu bringen!"

Zwar stehen die DNA-Identitätsfeststellungen formal unter einem Richtervorbehalt. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Staatsanwaltschaften stapelweise Anträge für DNA-Identitätsfeststellungen von einsitzenden und entlassenen Strafgefangenen den Richtern vorlegen werden, die dann ihren Zustimmungsautomatismus in Gang setzen. Erschreckend ist die Art der Begründung für die von Staatsanwaltschaften beantragten DNA-Identitätsfeststellungen. In allen dem Komitee vorliegenden Anträgen wird pauschal darauf hingewiesen, dass wegen "Art oder Ausführung der Tat" Grund zu der Annahme bestehe, dass "künftig erneut Strafverfahren" gegen die betreffende Person "zu führen sind" (§ 81 g StPO). Die Staatsanwaltschaften zitieren gebetsmühlenartig lediglich den Gesetzestext. In keinem Fall wurde auf die Persönlichkeit des Betroffenen, auf seine Entwicklung im Vollzug eingegangen oder gar eine umfassende Gefährlichkeitsprognose auch nur ansatzweise erstellt. Wenn aber die "Art" der Tat schon ausreicht, um eine dauerhafte Gefährlichkeit zu unterstellen, dann ist mit dem Straftaten-Katalog des neuen Gesetzes ein ganzer Bereich von Delikten geschaffen worden, bei denen automatisch und pauschal "Unresozialisierbarkeit" unterstellt wird. Die Gesellschaft wird gespalten in die Bösen und die Guten. Die "Schurken" werden mit allen Mitteln und Sanktionen immer härter bekämpft, um den Guten, die über jegliches Verbrechen erhaben sind, ihre innere Sicherheit zu gewährleisten. Man wird unwillkürlich an die Feindbildkonstruktion der Schurkenstaaten durch die USA erinnert. Schwarz-weiß-Sichten machen alles so schön einfach.

Presseberichten zufolge soll die BKA-Verbrecherdatei eines Tages über 300.000 Personen erfassen. Ende Dezember 1999 waren bundesweit bereits 22.632 Personen erfasst. Aus Bayern ist zu hören, dass man dort allein bei 89.000 schon entlassenen(!) Straftätern eine DNA-Feststellung vornehmen lassen will.

Das neue Gesetz und seine Anwendung sind grundrechtswidrig. Zum einen wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unverhältnismäßig beschnitten. Zum anderen wird das Grundrecht auf rechtliches Gehör außer Kraft gesetzt, da es unmöglich ist, den von den Staatsanwaltschaften vorgetragenen vorurteilshaften Pauschalvermutungen begründet zu widersprechen.

Die grundrechtliche Problematik liegt im Gesetz selbst, das geradezu darauf angelegt ist, Verbrecherpersönlichkeiten genfest und dauerhaft zu konstruieren. Man stelle sich einmal vor, was es konkret für eine Persönlichkeit und ihr Selbstwertgefühl bedeutet, wenn die Gesellschaft - vertreten durch Staatsanwälte und Richter - ihnen geraume Zeit nach Verurteilung oder sogar nach der Entlassung aus Strafhaft die Botschaft übermittelt: "Wir nehmen von Ihnen an, dass Sie in Zukunft wieder eine schwere Straftat begehen werden"? Kann man sich eine schlimmere, ausgrenzendere soziale Stigmatisierung vorstellen? Das DNA-Feststellungsgesetz spricht dem Resozialisierungsgedanken und -gebot des Strafvollzugsgesetzes - einem Ausfluss des Menschenwürdeprinzips der Verfassung - Hohn, wenn bei ehemaligen Straftätern und sogar entlassenen Straftätern eine Wiederholungswahrscheinlichkeit ohne konkrete Begründung und ohne Ansehen der Person dauerhaft unterstellt wird.
 

Will man aktuelle Sicherheitshysterien und mediengeschürte Kriminalitätsängste dazu nutzen, die Gendaten von Hunderttausenden von BürgerInnen zu erfassen? Wäre es da nicht gerechter und auch "sicherer", gleich alle BundesbürgerInnen zum genetischen Fingerabdruck vorzuladen? - Island lässt grüßen! - Will man eines Tages gar - wenn alle Gendaten der BKA-"Verbrecherdatei" ausgewertet sind - genetische Dispositionen zum Verbrechen herauskristallisieren? Um dann irgendwann - über den Weg der Pränataldiagnostik - das Verbrechen auszumerzen?

Diese ironisch-sarkastischen Fragen machen erst den ganzen Umfang der grundrechtlichen Gefahren deutlich, die mit diesem Einstieg in die systematische Verletzung der Integrität von straffällig gewordenen Menschen auf der Tagesordnung aller Bürgerinnen und Bürger stehen. Um einer angeblichen, im einzelnen nicht skrupulös ausgewiesenen Sicherheit willen, wird zuerst für einen vorweg unbestimmten Teil der Bevölkerung das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Zugleich werden die davon Betroffenen zugriffssicher als erkannte Verbrecher festgelegt.

Schließlich wird mit dem neuen Gesetz tendenziell einer auch wissenschaftlich unhaltbaren Biologisierung von Anklage, Strafverfahren, Bestrafung und Strafvollzug der Weg eröffnet. Und dieser Weg wird bei den Angeklagten oder den als "schuldig" Überführten nicht stehen bleiben. Mit anderen Worten: Wer den grundrechtlich fundierten Rechtsstaat erhalten will, muss gegen dieses dazuhin noch von unbestimmten Rechtsbegriffen strotzende Gesetz um unserer aller human bestimmten Sicherheit willen in jeder Weise protestieren. Der anscheinhafte Fortschritt der Techniken ist ein menschenrechtlicher Rückschritt in jeder Beziehung.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".