Friedensgutachten 2011

Doch wo bleibt da der Frieden?

von Andreas Buro

Das neue Friedensgutachten, ein umfangreiches Werk von 390 Seiten, wird von der IFSH Hamburg, der HSFK Frankfurt, dem BICC aus Bonn, dem INEF in Duisburg und der FEST in Heidelberg herausgegeben. Es enthält eine 30-seitige Stellungnahme mit Empfehlungen der Herausgeber zu aktuellen Entwicklungen als zentrale Aussage der Institute. Diese ist in vier Abschnitte gegliedert: 1. Der revolutionäre Aufbruch in der arabischen Welt, 2. Europa in der Krise, 3. Interventionen ohne Ende? 4. Militär, Macht, Rüstung. Darauf folgen 25 Analysen von FriedensforscherInnen, die thematisch diesen vier Kapiteln zugeordnet sind. Kurzzusammenfassungen der Einzelbeiträge ermöglichen dem Leser eine schnelle Orientierung.

In der Stellungnahme werden einerseits jüngste Entwicklungen, wie beispielsweise in den arabischen Ländern, in Kürze referiert, dann aber auch Hinweise auf Probleme und Fehlentwicklungen gegeben, ohne die Situation grundsätzlicher zu hinterfragen. Ein Beispiel hierfür:

„Ziel der Intervention ( in Libyen A.B.) war es, Massaker durch Gaddafis brutal vorgehende Sicherheitskräfte und Söldner zu verhindern. Das ist mit dem Schutz der Stadt Benghasi auch gelungen. Doch wirft der nur schwer überschaubare Fortgang der Kämpfe komplizierte Fragen auf. Der angestrebte Regimewechsel überdehnt das Prinzip des Schutzes der Zivilbevölkerung.“ (S. 5)

Waren da nicht noch ganz andere Motive? Regimewechsel nur überdehnt? Freilich wird später im Text allgemein auch der Anteil an der arabischen Misere von Wirtschafts- und Finanzorganisatoren, sowie der europäischen Staaten erwähnt. Auch auf den Rüstungsexport wird verwiesen. Doch die Schlußfolgerung bleibt vage:

„Es gibt mithin auch moralische Gründe für eine Kehrtwende. Sie gebietet eine neue, am Wohl der Menschen orientierte Mittelmeerpolitik sowie eine der Menschenrechtscharta verpflichtete Asyl- und Einwanderungspolitik.“ (S. 6)

Richtig! Doch ich frage mich, reicht das als friedenspolitische Orientierung angesichts des hemmungslosen Rüstungsexports, angesichts der Negierung von Massakern andernorts? Gleich in der Nachbarschaft hat Marokko seit Jahrzehnten die ehemalige spanische Kolonie Westsahara besetzt und unterdrückt die dortige Bevölkerung mit Mord und Brandbomben. Der König ist aber ein guter Freund und Stabilitätsfaktor der USA und der EU, so dass die Unterdrückung der Sahrauis mit ihren legitimen Ansprüchen auf Selbstbestimmung toleriert werden.

In dem EU-Abschnitt werden viele zutreffende Kritikpunkte benannt. Die Institute treten für die Fortführung der Integration und für verstärkte Demokratisierung ein. Unter der Überschrift „Das Friedensprojekt Europa braucht einen glaubwürdigen neuen Einsatz“ wird das Nachlassen des Engagements für Europa beklagt und gefordert, Deutschland müsse „zur Schrittmacherrolle für ein geeintes Europa zurückfinden.“ Geht es nicht aber gerade um Demokratieentfaltung der gesamten Gemeinschaft? Kann da Deutschland, das mit seiner expansiven Wirtschaftspolitik für viele Probleme der EU verantwortlich ist, als Führungsmacht gefordert werden? Gibt die Berliner Politik überhaupt einen Hinweis auf eine nachhaltige Perspektive für EU-Europa angesichts globaler Umbrüche?

Bei der Erörterung der „EU-Dissonanzen vis-à-vis Libyen“ wird von Renationalisierung und Populismus gesprochen: „... Angela Merkel und Guido Westerwelle bedienen die Abneigung der meisten Deutschen gegen Militäreinsätze“ (S. 12). Die bisherige Nicht-Beteiligung der BRD am Militäreinsatz und die Enthaltung im Sicherheitsrat wird als schwerer Fehler bezeichnet. Deutschland stelle sich „gegen seine Verbündeten im Westen und nährte den Irrglauben (sic!), es könne jenseits der europäischen eine nationale Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen.“ (S. 13) Angesichts des menschenrechtsverachtenden Umgangs mit den nordafrikanischen Flüchtlingen fordern die Institute eine wirksame Kontrolle von Frontex und eine „Rückkehr zu Vernunft und Humanität“. Doch wo war die vorher, etwa im Vertrag mit Gaddafi, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten? Die Ursachen von Piraterie sollten beseitigt werden. Die Institute konstatieren trotzdem, „Die EU habe sich mit ihren Missionen als ernstzunehmender sicherheitspolitischer Akteur etabliert.“ (S. 15)

Die Stellungnahme setzt sich verdienstvoller Weise für den Vorrang für eine zivile Außenpolitik ein: „Keine Supermacht, sondern soft power“ lautet die Parole. „Die EU sollte sich auf das konzentrieren, was sie am besten kann: soft power mit Entwicklungspolitik, wirtschaftlicher Integration, Diplomatie, Krisenprävention und Konfliktnachsorge. Ihre Strategie, Frieden nicht durch Stärke, Gleichgewichtspolitik und Streben nach Überlegenheit, sondern durch zwischenstaatliche Kooperation ... .zu sichern, ist eine Erfolgsgeschichte. Sie gilt auch über die EU-Grenzen hinaus. Deutschland sollte sein ganzes europapolitisches Gewicht in diesem Sinne nutzen.“ (S. 17/18) Auch hier meine Zweifel: Kann man deutsche Entwicklungspolitik einfach so positiv sehen? Wo blieb die Krisenprävention vor dem Kosovo-Krieg der NATO? Wo ist der friedenspolitische Einsatz der deutschen Diplomatie in Afghanistan und im türkisch-kurdischen Konflikt?

Im 3. Abschnitt ‚Interventionen ohne Ende?‘ wird ein rascher Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan für unausweichlich gehalten. Der Bundeswehreinsatz sei längst von einer Friedensperspektive entkoppelt. (Nein, er hatte nie eine! A.B.) Eine internationale Konferenzdiplomatie wird vorgeschlagen.

In Hinblick auf ‚Zivile Krisenprävention‘ wird lediglich auf eine Debatte aus den 90er Jahren über smart sanctions verwiesen und auf den Strafgerichtshof. Der Begriff der Zivilen Konfliktbearbeitung taucht nicht auf. Die afghanischen Gegner der westlichen Invasion werden immer wieder unverständlicherweise als Aufständische bezeichnet, handelt es sich doch nicht um einen Aufstand gegen ein legitimes Regime, sondern um Widerstand gegen eine ausländische Invasion.

Im 4. Abschnitt über Militär, Macht, Rüstung wird die NATO gewarnt, sich mit dem Begriff der ‚umfassenden Sicherheit‘ zu übernehmen. Die Raketenabwehr wird als überflüssiger Stolperstein auf dem Weg zu mehr Sicherheit bezeichnet und die NATO solle ernsthafte Schritte zur atomaren Abrüstung umsetzen, indem sie ihre eigenen militärischen Fähigkeiten begrenzt. Frankreich und England sollten ihre nuklearen Potentiale zu Disposition stellen. Gleichzeitig wird aber bemängelt, dass von der anvisierten Truppenstärke der Bundeswehr von 180.000 nur 15.000 gleichzeitig in Auslandsmissionen eingesetzt werden könnten. (S. 28/29) Ich frage mich, sollte das Ziel nicht Friedensmacht Europa mit Vorrang für Zivil sein?

Abschließend wird die ‚Vernetzte Sicherheit‘ kritisiert und die Aufteilung in die verschiedenen Komponenten gefordert. Der Versuch, das westliche Demokratiemodell mit militärischen Mittel zu exportieren, wird beanstandet. Einsätze der Bundeswehr über die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung hinaus erforderten ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Wäre hier nicht eine kritische Auseinandersetzung mit der NATO-Strategie erforderlich gewesen?

Die Stellungnahme enthält wichtige kritische Anregungen zu vielen Bereichen im Sinne der Verbesserung bestehender Politik. Eine Skizzierung der bestehenden Macht- und Einflussstrukturen, von denen ausgehend eine Friedenspolitik erst entwickelt werden könnte, ist für mich nicht zu erkennen. Der Text liest sich, als könne man den guten Willen für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Überwindung von Armut einzutreten, bei den westlichen Staaten, um die es in diesem Text geht, voraussetzen. Das jedoch ist unrealistisch, sind es doch gerade diese Mächte, die für einen großen Teil der Kriege und Gewaltstrukturen des 20. und 21. Jahrhunderts verantwortlich sind. Sonderbarer Weise wird in der Stellungnahme nicht der Versuch gemacht, die Ursachen von Unfrieden darzustellen und eine Perspektive für Friedenspolitik zu entwickeln. Ansätze zu Ziviler Konfliktbearbeitung kommen in dem Text nicht vor. Friedenspolitische Alternativen? Fehlanzeige. Die bange Frage taucht auf, wandelt sich die mit so viel Hoffnung besetzte Friedensforschung zur traditionellen, wenn auch zunächst kritischeren Politikberatung? Diese Aussagen beziehen sich auf die Stellungnahme der Institute, nicht aber auf die 25 Einzelbeiträge, auf die ich hier nicht eingehen kann. Allerdings finde ich auch dort mehr analytische als friedenspolitische Aussagen.

Institut für Friedensforschung und Sicherhheitspolitik an der Universität Hamburg et al (2011) Friedensgutachten 2011. Münster:Lit, ISBN 978-3-643-11136-4.  393 S., 12,90 €. Internet: www.friedensgutachten.de

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