Es kann nur Verlierer geben

Droht jetzt ein großer Krieg?

von Otmar Steinbicker
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Die als „Zeitenwende“ formulierte Veränderung der globalen Militärstrategie rückt die Frage nach einem möglichen, die Menschheit vernichtenden Krieg wieder in den Vordergrund. Ein solches Szenario ist heute deutlich realistischer als Anfang der 1980er Jahre, als Millionen Menschen in Europa gegen die Atomkriegsgefahr auf die Straße gingen.

Wenn wir die „Zeitenwende“ konkret analysieren wollen, dann ist der russische Überfall auf die Ukraine 2022 sicherlich ein sehr markantes Zeichen, nicht aber der Beginn der „Zeitenwende“.

Die vergangenen realen Zeitenwenden waren vor allem die Kubakrise und der Zerfall der UdSSR und des Warschauer Pakts.

Die Kubakrise im Oktober 1962 zeigte die Welt am Abgrund eines Atomkrieges und es ist realistischen Regierungschefs, US-Präsident Kennedy und KPdSU-Generalsekretär Chruschtschow und ihren jeweiligen Beratergremien zu verdanken, dass es nicht zum Atomwaffeneinsatz kam, sondern eine diplomatische und für beide Seiten gesichtswahrende Lösung der Krise gefunden wurde. Zugleich war die Kubakrise Auslöser für weitergehende Vereinbarungen, um – beginnend mit der Einrichtung einer ständigen Telefonleitung – die Gefahr eines womöglich unbeabsichtigten Krieges zu bannen und anschließend Rüstungsbegrenzungen zu vereinbaren und später sogar die Anzahl der Atomwaffen auf beiden Seiten deutlich zu reduzieren.

Eckstein der Rüstungsbegrenzung war der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) zwischen den USA und der UdSSR von 1972 zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme. Anfangs gestattete dieses Abkommen jeder Seite, zwei Systeme mit je 100 Raketen zu unterhalten, eines zum Schutz der Hauptstadt und eines zum Schutz des wichtigsten Stationierungsortes interkontinentaler Atomraketen. Später einigte man sich auf jeweils nur noch ein System. Die UdSSR entschied sich für den Schutz Moskaus, die USA für den Schutz ihrer Atomraketen. Angesichts der enorm anwachsenden Anzahl von Raketen und der Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen war beiden Seiten klar, dass es für keine von ihnen einen Schutz vor einem vernichtenden Zweitschlag geben konnte. Damit galt das Prinzip: „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.“

Diese Erkenntnis war zugleich der realistische Ansatzpunkt für eine spätere drastische Reduzierung der Atomraketen und ihrer Sprengköpfe auf beiden Seiten. Das Vorhalten einer mehrfachen Overkill-Kapazität war letztlich sinnlos.

Auch wenn die Entwicklung nicht widerspruchsfrei verlief, als Anfang der 1980er eine Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen begonnen wurde, so konnte mit dem INF-Vertrag von 1987 zumindest eine ganze Waffenkategorie, die der landgestützten Atomwaffen zwischen 500 und 5000 km Reichweite, verboten und verschrottet werden.

Der INF-Vertrag
Zu dieser Zeit, gegen Ende des Kalten Krieges, wurde Militärs sowohl der NATO als auch des Warschauer Pakts zunehmend bewusst, dass nicht nur ein Atomkrieg, sondern auch ein konventioneller, weiträumig geführter Krieg zwischen den beiden hochgerüsteten Militärblöcken von keiner Seite mehr gewonnen werden konnte, sondern ein solcher Krieg letztlich nur die Zivilisation in Europa existenziell gefährden würde. Ein solcher Konsens wurde auch im Juni 1988 bei einer Tagung der Ev. Akademie Loccum mit teilnehmenden Militärs aus Bundeswehr und DDR-NVA deutlich. Dass mich auf dieser Tagung ein Offizier der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und Mitarbeiter Egon Bahrs ansprach und den Vorschlag entwickelte, dass die Bundesregierung der UdSSR ernsthafte Sicherheitsgarantien geben sollte, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg gegen die Sowjetunion ausgeht, und gleichzeitig massive Wirtschaftshilfe, um im Gegenzug die Wiedervereinigung zu erlangen, zeigte, dass auch Vordenker der Entspannungspolitik damals über den Status quo hinaus dachten. Dass die UdSSR zu dieser Zeit in massiven Wirtschaftsproblemen steckte, die letztlich dieses Angebot attraktiv erscheinen ließen, war vor allem den Folgen des sowjetischen Krieges in Afghanistan geschuldet. Bereits bei der folgenden Ost-West-Tagung der Ev. Akademie Loccum im Juni 1989 wedelte der Gorbatschow-Berater Nikolai Portugalow kaum verhohlen mit der Karte der deutschen Wiedervereinigung. Anwesende DDR-Diplomaten äußerten im Gespräch im kleinen Kreis, dass damit die DDR die Rückendeckung Moskaus verloren habe.

Der Mauerfall 1989 und die Folgen
Die nächste reale Zeitenwende läutete noch im November 1989 der Mauerfall, der anschließende Zerfall des Warschauer Pakts und der UdSSR 1991 ein.
In der Charta von Paris zeichneten im November 1990 alle Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ein Bild trauter Eintracht: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit.“ Jetzt – und besonders sichtbar durch die deutsche Wiedervereinigung – war der Weg offen für ein Ende der militärischen Konfrontation und den Beginn einer umfangreichen, nicht nur wirtschaftlichen, Zusammenarbeit zwischen Lissabon und Wladiwostok. Aus der KSZE entstand die Organisation OSZE, die als eine Regionalorganisation der UNO alle Staaten Europas sowie die USA und Kanada in einen gemeinsamen Prozess einbinden sollte. Ein solcher Prozess hätte zugleich ein Austarieren unterschiedlicher nationaler Interessen verlangt.

Ausweitung der NATO
Doch es kam anders. Als entscheidender Faktor für die Restaurierung der Konfrontation wurde die NATO beibehalten und die Bedeutung der OSZE sukzessive zurückgedrängt. In nächsten Schritten wurden die NATO und die EU bis an die Grenzen Russlands ausgeweitet mit einer deutlich sichtbaren, wenn auch nicht offen ausgesprochenen Stoßrichtung gegen Russland, das zunehmend isoliert wurde. Signale Russlands, sich in einen europäischen Prozess einzubinden – sogar bis hin zu einem NATO-Beitritt – wurden konsequent zurückgewiesen. Im militärischen Bereich wurden schon am 19. November 1990 mit dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) weitreichende Abrüstungsmaßnahmen in Europa vereinbart und entsprechend rund 51.000 Waffensysteme, darunter tausende Kampfpanzer, zerstört. Die Einhaltung des Vertrages wurde durch bis dahin ungeahnt weitreichende Inspektionen verifiziert.
Als nach der Auflösung des Warschauer Paktes, dem Zerfall der UdSSR und der ersten NATO-Erweiterung eine Anpassung des Vertrages unumgänglich wurde, einigte man sich 1999 noch auf einen adaptierten KSE-Vertrag, der von den Teilnehmerstaaten des KSZE-Gipfeltreffens in Paris unterzeichnet wurde. Ratifiziert wurde dieses Abkommen allerdings ausschließlich von den UdSSR-Nachfolgestaaten Russland, Belarus, Ukraine und Kasachstan, nicht aber von den Mitgliedsstaaten der NATO. Nachdem keine Einigungsmöglichkeit mehr in Sicht war, setzte Russland die Umsetzung des KSE-Vertrags und des Anpassungsabkommens A-KSE zum größten Teil aus. Im Mai 2023 kündigte Russland schließlich diesen Vertrag. Im Bereich der nuklearstrategischen Rüstung unternahm die US-Administration unter Präsident George W. Bush den entscheidenden Schritt mit der Kündigung des ABM-Vertrages zum 13. Juni 2002. Zuvor hatte bereits der US-Kongress 1999 noch unter Präsident Bill Clinton als Gesetz den „National Missile Defense Act“ beschlossen, in dem es heißt: „Es ist die Politik der Vereinigten Staaten, so rasch wie technologisch möglich eine effektive Nationale Raketenverteidigung zu stationieren, die in der Lage ist, das Gebiet der Vereinigten Staaten gegen begrenzte ballistische Raketenangriffe (ob nun unbeabsichtigt, ungenehmigt oder vorsätzlich) zu verteidigen und deren Finanzierung unter dem Vorbehalt der jährlichen Zuteilungsbewilligung und der jährlichen Bewilligung von Mitteln für die Nationale Raketenverteidigung steht.
Die Aufkündigung des ABM-Vertrages und der damit verbundenen Aufkündigung der gesicherten gegenseitigen Zweitschlagskapazität und damit der Aufkündigung des Prinzips „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“, konnte nur dahingehend gewertet werden, dass die USA darauf setzten, einen Atomkrieg nicht mehr prinzipiell auszuschließen, sondern ihn gegebenenfalls führbar und gewinnbar zu machen. Entsprechende Überlegungen gab es bereits 1980 in dem Artikel der Pentagon-Berater Colin S. Gray und Keith Payne „Victory is possible“ in der außenpolitischen US-Fachzeitschrift „Foreign Policy“ (Heft 39/1980). Die Aufkündigung des ABM-Vertrages folgt der Logik dieses Beitrages, den das FriedensForum in Heft 4/2019 in Auszügen veröffentlichte. Dass nach dem ABM-Vertrag auch der INF-Vertrag gekündigt wurde, folgt ebenfalls dieser Logik.

Folgerungen
Diese hier nur grob skizzierten Entwicklungen sind im Blick zu behalten, wenn es darum geht, die derzeitige Gefahr eines großen Krieges realistisch einzuschätzen. Die komplexen innenpolitischen Konflikte in der Ukraine, die 2014 in die Maidan-Unruhen und anschließend in einen begrenzten Krieg in der Ostukraine mündeten, trugen wesentlich zur Eskalation und Konfrontation bei, ohne letztlich die alleinige Ursache zu sein. Dass sich der russische Präsident Wladimir Putin entschloss, am 24.2.2022 die Ukraine mit einem großangelegten Angriff zu überfallen, um vermutlich die gewählte ukrainische Regierung in einem Handstreich zu stürzen, geschah vor dem dargestellten Hintergrund und über 15 Jahre wiederholten russischen Warnungen und stellte zugleich eine beispiellose Eskalation und eklatante Verletzung des Völkerrechts dar. Schon nach wenigen Tagen stellte sich Putins „Spezialoperation“ als komplette Fehlkalkulation dar und Russland war heilfroh, seine Truppen nach anfänglich massiven Verlusten später relativ verlustarm aus dem Nordosten der Ukraine zurückziehen zu können. Die daraus entstandene Situation barg die Möglichkeit für eine Friedenslösung in etwa auf der Basis des 2015 von Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland ausgehandelten Minsk-2-Vertrages. Dass eine solche Lösung bei den russisch-ukrainischen Verhandlungen im März 2022 in Istanbul nicht zustande kam, soll an der Ablehnung des NATO-Mitglieds Großbritannien gelegen haben. Dass die NATO-Staaten während und nach den Istanbul-Verhandlungen die Ukraine zunehmend massiv militärisch unterstützten, ist dabei unumstritten. Eine gewisse Zäsur gab es im November 2022, als US-Präsident Joe Biden vehement der Behauptung der ukrainischen Regierung widersprach, dass eine in einem Dorf im Südosten Polens eingeschlagene Rakete aus Russland abgefeuert worden sei. Diese Szene erinnert überaus deutlich an eine Szene aus der Kubakrise. Wie auch immer der Raketeneinschlag in Polen zustande gekommen sein mag: Biden machte damit sehr schnell und absolut klar, dass er aus dieser Szene kein Atomkriegsszenario mit Russland entstehen lassen wollte. Ansonsten befeuerten die Waffenlieferungen aus den NATO-Staaten die Eskalation. In Medienkommentaren hieß es, das laufe nach dem Prinzip, einen Frosch zu kochen. Da dürfe man nicht sofort das Wasser zum Kochen bringen, weil dann der Frosch hinausspringe, sondern man müsse die Temperatur langsam erhöhen, bis er gekocht sei. Dieses Bild ist einerseits passend, es zeigt aber auch die Gefährlichkeit. Die Frage, wann Russland mit welchen Maßnahmen auf die Waffenlieferungen aus den NATO-Staaten möglicherweise auch militärisch reagieren wird, bleibt offen. Hin und wieder gibt es aus Russland bereits mehr oder weniger offene Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz. Aus dem Kreis der Putin-Berater wird das damit begründet, dass wohl nur mit einem realen Atomwaffeneinsatz eine Angst erzeugt werden könne, wie sie den Kalten Krieg beherrschte und politische Lösungen ermöglichte. Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz sind allerdings ebenfalls eine deutliche Eskalation, die auch dazu beiträgt, einen Atomkrieg aus Versehen, also z. B. ausgelöst durch einen Fehlalarm, wahrscheinlicher zu machen. Westliche Sanktionen, die Russland nach dem Überfall auf die Ukraine in die Knie zwingen sollten, haben sich bisher nicht als erfolgreich erwiesen. Ob Russland aber seine durch den Krieg bedingten Wirtschaftsprobleme meistern kann oder am Ende damit scheitert, wie in den 1980er Jahren im Afghanistankrieg, bleibt offen. Ein von den NATO-Staaten gewünschter militärischer Sieg der Ukraine dürfte wohl Wunschdenken bleiben. Die für 2023 groß angekündigte Gegenoffensive der Offensive scheiterte und derzeit ist eher Russland dabei, unter hohen Verlusten die Front Kilometer um Kilometer nach vorn zu schieben. Ein großer Sieg, der die Ukraine zur Kapitulation zwingen würde, ist dabei bisher aber auch nicht in Sicht. Allerdings könnte ein Verhandlungsfrieden entlang der Waffenstillstandslinie derzeit eher von Woche zu Woche stärker zu Lasten der Ukraine gehen.
Unterm Strich scheint es bei der Erkenntnis vom Ende des Kalten Krieges zu bleiben, dass es in einem großen konventionell geführten Krieg in Europa keine Sieger mehr geben wird. Wenn es also nicht zur Eskalation bis hin zum großen Atomkrieg kommt, was allerdings bisher auch nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dann wird es am Ende nur Verlierer geben: An erster Stelle die Ukraine, die Menschen und Land verliert, an zweiter Stelle Russland mit ebenfalls vielen Toten und Schwerverletzten. Wirtschaftlich werden beide Länder, aber auch deren Unterstützer, also mithin auch Deutschland, durch den Krieg geschwächt werden. Das dürfte langfristig Auswirkungen auf die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Welt haben. Einen Faktor hatten die Militärs aus Ost und West 1988/89 allerdings noch nicht berücksichtigt: Die Problematik des Klimawandels, die sowohl durch die Kriegführung mit der Explosion von mehreren tausend Granaten täglich, als auch durch ein wahrscheinlich über Jahre anhaltendes Hoch- und Wettrüsten massiv befeuert wird. Wenn sich irgendwann die Erkenntnis gesetzt hat, dass es keine Sieger mehr gibt, sondern nur noch Verlierer, wird es wieder Verhandlungen geben müssen, zuerst um den Krieg zu beenden, danach aber auch wieder, um - wie zur Zeit des Kalten Krieges - weitere Kriege und Kriegseskalationen zu verhindern, und man wird auch wieder über Rüstungsbegrenzungen und Abrüstung verhandeln müssen.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de