Islam und Gewaltfreiheit

Ein anderes Syrien ist möglich

Der Terror, der vom Islamischen Staat (IS) und anderen Gruppen verbreitet wird, die vorgeben, „im Namen des Islam“ zu töten, führt im Bewusstsein der bürgerlichen Öffentlichkeit ebenso wie im politischen Bewusstsein vieler Linker zu einer von Unkenntnis gekennzeichneten Vermengung von „Islam“ und „Gewalt“. Doch die Existenz islamistischer Gruppen darf nicht dazu führen, die Vielfalt einer Tradition zu übersehen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts ebenso fruchtbar für die Reflexionen großer DenkerInnen, ReformatorInnen, PazifistInnen und gewaltloser RevolutionärInnen war. Unter ihnen Jawdat Saïd, der seit den 1960ern ein Konzept der Gewaltfreiheit im Islam entwickelt hat.

Viele seiner syrischen MitbürgerInnen nennen Jawdat Saïd den „syrischen Gandhi“. Er wurde 1931 in Bir Ajam auf den Golan-Höhen geboren und war tscherkessischer Herkunft.

Er hat in der Kairoer Al-Azhar-Universität rund zehn Jahre lang studiert. Als er nach Syrien zurückkam, wurde er mehrfach aufgrund intellektueller Aktivitäten und seines politischen Engagements verhaftet. Es wurde ihm nicht länger erlaubt, seine Lehre zu verbreiten. 1964 veröffentlichte er sein grundlegendes Buch „The Doctrin of the First Son of Adam Or The Problem of Violence in The Islamic Action“ (Die Doktrin des ersten Sohnes Adams oder das Problem der Gewalt in der islamischen Aktion) in einem Verlag in Beirut, Libanon. Es gibt Ausgaben in Arabisch und in Englisch (1) Darin verortete er sein Denken in der reformatorischen Tradition von Abd al-Rahman al-Kakakibi (1855-1902) oder Muhammad Iqbal (1877-1938). Der Buchtext nahm die Form einer Antwort auf die Schriften von Sayyid Qutb (1906-1966) an, einem bekannten ägyptischen Muslimbruder und Mit-Begründer des heutigen bewaffnet-islamistischen Jihad. Jawdat Saïd formulierte dabei gleichzeitig positiv ein Konzept der Gewaltfreiheit aus seiner Sicht des Islam. Seit dieser wichtigen Schrift hat der aktivistische Pazifist Jawdat Saïd sein Denken in rund fünfzehn Büchern und mehreren hundert Artikeln sowie Vorträgen ausgearbeitet. Seine Werke wurden zur Inspiration der „Syrischen Bewegung für die Gewaltfreiheit“ (al-hirak al-silmi al-suri) sowie die „Daraya Youth“, eine syrische Gruppe für direkte gewaltfreie Aktion. Jawdat Saïd hat selbst seit den ersten Stunden an der syrischen Revolution ab dem März 2011 und während der ca. sechs bis sieben Monate der gewaltfreien Phase dieses Kampfes teilgenommen, bis dieser zum bewaffneten Kampf überwechselte. Er lebt gegenwärtig 84-jährig im Exil in der Türkei. Seine Schriften werden nach wie vor in mehreren Ländern der arabischen Welt gelesen und diskutiert. Sie beeinflussen viele AktivistInnen, die für eine pazifistische sozialpolitische Veränderung eintreten.

Gewaltfreiheit als erste historische Antwort Abels
Dieser Denker strebt danach, den Koran im Lichte der menschlichen Erfahrungsgeschichte zu lesen. Jawat Saïd meinte in seinem Buch „Die Doktrin des ersten Sohnes Adams“, dass bereits die Antwort Abels an seinen älteren Bruder Kain, der eine Todesdrohung gegen ihn aussprach, entscheidend war: „Wenn du deine Hand erhebst, um mich zu töten, dann erhebe ich nicht meine Hand, um dich zu töten“ (Sure V, Vers 28). Dieser Vers äußere eindeutig die Haltung, die der gläubige Muslim einnehmen müsse, um einem gewaltsamen Menschen zu begegnen. Saïd kommentierte dazu: „Einerlei ob es sich nun um ein historisches Ereignis oder um symbolische Geschichte handelt: Was mir als wichtig erscheint ist der Weg, der hier angezeigt wird. (...) Über die Position Abels gibt es keinen Zweifel und kein Zögern. Er ist entschlossen und hat den Willen, sie auch angesichts der Konsequenzen seiner Haltung beizubehalten.“ (3) Auffällig, dass Kain gar nicht mehr als Sohn gilt, der erste Sohn wird der jüngere Abel. Indem er das Risiko zu sterben eingeht, um nicht töten zu müssen, bezeugte Abel nach Jawdat Saïd jene moralische Verantwortung, welcher der Mensch zustimmen muss, wenn er jegliche Komplizenschaft mit dem Bösen verweigern will. So habe nach dem Adam-Mythos, wie er im Koran erzählt wird, die Geschichte nicht etwa mit einem Mord begonnen, sondern durch einen Akt der Gewaltfreiheit. Die Erzählung stelle also von Anfang an die Menschheit vor die existentielle Wahl zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit. Jawdat Saïd zitierte dazu einen Hadith (Überlieferung), der vom Imam Ahmad (780-855) stammt und nach dem ein Freund den Propheten Muhammad gefragt habe: „Wenn jemand bei mir einbricht, um mich zu töten, wie soll ich mich dann verhalten?“ Darauf habe der Prophet geantwortet: „Verhalte dich so, als seist du Adams Sohn.“(3) Jawdat Saïd kritisierte damit auch die Tatsache, dass die islamische Rechtsprechung diesem Hadith-Vers nie die Bedeutung zugebilligt habe, die er verdient hatte.

Saïd fragt jeden Muslim: „Wie kannst du nur Muslim sein, wenn du nicht dem Weg von Adams Sohn folgen willst?“ (4)

In diesem Sinne ist für Jawdat Saïd die Gewalt eine historische, erfahrungsgeschichtliche Regression, und das Verbot zu morden eine universelle Forderung an den gewissenhaften, vernunftbegabten Menschen, die bereits den Anfangskern der Geschichte gebildet hatte.

Der Mensch als Träger der Sprache und der Freiheit
Nach dem Koran (Sure II, Vers 30) fragten laut Jawdat Saïd die Engel in dem Moment, als Gott den Menschen aus der Erde schuf und als seinen Stellvertreter einsetzte: „Wirst du ihn beauftragen, Unordnung zu verbreiten und Blut zu vergießen, während wir, die Engel, zu deinem Lobpreis über deine Reinheit singen und für dich Gesundheit erbitten?“ Die Antwort Gottes: „In Wahrheit weiß ich das, was ihr nicht wisst!“ Jawdat Saïd beobachtete bis in die menschliche Gegenwart hinein, dass die Geschichte den Ängsten der Engel zum Teil Recht gegeben hat, trotz des eindeutigen Ausgangspunktes der Antwort Abels. Aber Jawdat Saïd hoffte gleichzeitig auf eine Zukunft, in der die Menschheit reifer sein, dazulernen und sich schließlich des hier von Gott gezeigten Vertrauens in die Menschheit würdig erweisen werde. Im nachfolgenden Vers heißt es (Sure II, Vers 31): „Und er lehrte Adam alle Wörter, alle.“ Dank der Wissenschaft der Wörter, dank der Sprache kann der Mensch demnach Kenntnis von den Dingen erlangen. Diese Fähigkeit gibt ihm einen Vorteil gegenüber den Engeln, die im Zustand der Unwissenheit verharren. Aus dieser befreiungstheologischen Perspektive entstand bei Jawdat Saïd der Gedanke, dass die geistige Bestimmung des Menschen dank der Kenntnis der Wörter, also dank der Sprache das Zeitalter des vergossenen Blutes wieder überwinden kann, um ins Zeitalter der Vernunft und der Freiheit überzutreten.

Geheilt werden vom Krieg: Wissen als Mittel der Befreiung
Jawdat Saïd entwickelte des Weiteren das Konzept der „Vergiftung der intellektuellen Nahrungsmittel“. Diese Vergiftung ist für ihn die Ursache der Kriege. Doch so wie es den Menschen gelungen sei, die meisten körperlichen Krankheiten zu heilen, werden sie laut Jawdat Saïd auch die Krankheiten ihrer Intelligenz heilen können, die sie immer wieder dazu anleiten, Morde zu verüben. Und er schrieb weiter: „Das Böse durch den Mord zu bekämpfen ist wie eine Scheibe einzuschlagen anstatt sie zu waschen.“ (5) Das bedeute, die Krankheit – und damit den Krankheitsträger – zu töten, anstatt sie – und ihn – zu heilen. In diesem Zusammenhang griff Jawdat Saïd auch mehrfach auf seine Lektüre des jesuanischen Gebots zurück: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Damit aber der Mensch seinem Feinde gegenüber dessen Leben respektiert, müsse zwischen der physischen Person und der Krankheit seiner Intelligenz unterschieden werden. Er müsse diese Krankheit bekämpfen, nicht den Kranken; er müsse den falschen Gedanken bekämpfen, nicht die physische Person selbst.

Indem der Mensch jedoch die Gewalt zurückweist, bedeutete das nach Jawdat Saïd keineswegs, auf den Kampf für Gerechtigkeit zu verzichten. Jawdat schlug vielmehr die Annahme einer Haltung des Nicht-Gehorchens, des Mutes zum Ungehorsam vor, anstatt dass der Mensch zu einem Kriegsverbrecher werde, wenn er es hinnimmt, seine Brüder und Schwestern zu töten. Jawdat Saïd schrieb dazu: „Ein Soldat, der den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen kennt, ist für die Armeen der Welt nicht nützlich. Wer kauft schon Waffen, die dazu fähig sind, Befehle zu verweigern? Wer kauft schon ein Schwert, das zwischen Gut und Böse unterscheiden kann?“ (6)

Für Jawdat Saïd sind die Unterdrückten zu großen Teilen selbst für die Unterdrückung verantwortlich, die sie erleiden. Der Mensch befreie sich deshalb vom Tyrannen nicht dadurch, dass er ihn tötet, sondern dadurch, dass er ihm die Gefolgschaft verweigert. Deshalb wurde sein theoretischer Ansatz von europäischen Rezipienten wie etwa dem französischen Gewaltfreiheitstheoretiker Jean-Marie Muller bereits mit der These von Étienne de la Boétie (1530-1563) von der Aufkündigung der „freiwilligen Knechtschaft“ verglichen.

Sobald der Mensch durch Wissen aufgeklärt ist, kann ihn nach Jawdat Saïd niemand mehr ausbeuten oder entwürdigen, denn er würde das nicht mehr hinnehmen. Wissen ist für Jawdat eine reale Macht, ein Mittel zur Befreiung – und sein gesamtes Werk ist eine einzige Aufforderung dazu, Unwissenheit zu bekämpfen.

Darum hat seiner Ansicht nach jede Generation die Aufgabe, auf der Basis der Lehren aus der Geschichte neue Horizonte zu erschließen, die über die Wahrheiten vergangener Generationen hinausgehen. Jawdat Saïd hat ein tiefes Vertrauen in die menschlichen Fähigkeiten, aus den Irrtümern der vorausgegangenen Generationen zu lernen und er zögerte nicht, etwa zu schreiben: „So wie die Sklaverei, die eine Folge des Krieges war, abgeschafft wurde, so wird dereinst der Krieg selbst abgeschafft werden.“ (7)

Ein anderes Syrien: Tatsächlich nie mehr möglich?
Jawdat Saïds gewaltfreie Interpretation des Islam war einflussreich für die gewaltfreie Phase des syrischen Aufstands 2011. Aber vordergründig hat sie die von kontroversen Diskussionen begleitete Entscheidung der Aufstandsbewegung, zum bewaffneten Kampf überzugehen, nicht überlebt. Das Versprechen der BefürworterInnen der „Freien Syrischen Armee“ war damals: Während die Gewaltfreien es nach sechs Monaten immer noch nicht erreicht hätten, das Regime zu stürzen und die blutige Repression wirksam zu beenden, werde der bewaffnete Aufstand in zwei, drei Monaten erfolgreich sein. Es ist an dieser Stelle geboten, an dieses damalige Versprechen der BefürworterInnen des bewaffneten Aufstands zu erinnern, um das Ausmaß der Katastrophe eines nunmehr schon vierjährigen bewaffneten Bürgerkrieges ohne jede unmittelbare Friedensperspektive zu verdeutlichen. War das andere Syrien des Jawdat Saïd nur ein Traum, war ein anderes Syrien nur damals möglich, aber nicht mehr in der Zukunft?

Viele lang andauernde Bürgerkriege, etwa in Uganda, Liberia usw. schienen nie enden zu wollen und gingen doch irgendwann zu Ende. Grund dafür waren Kriegsmüdigkeit und unvorhergesehene Entwicklungen. In Liberia etwa wurden Frauen plötzlich massenweise politisch aktiv und zwangen ihre Männer, die Waffen endlich zum Schweigen zu bringen.

Die Übersättigung nach vier Jahren Bürgerkrieg ist bereits weit verbreitet – das beweist die Massenflucht aus Syrien. Dauert der Krieg nun aber noch Jahre an oder tritt der plötzliche geistige Umschwung in Syrien früher oder später ein? In einem solchen Fall ist es nicht unwahrscheinlich, dass an das Wissen an eigene gewaltfreie Traditionen wie diejenige des Jawdat Saïd angeknüpft werden kann. Es ist vorhandenes Wissen, es bleibt untergründig bekannt, es wurde nur jahrelang kriegerisch unterdrückt.

 

Anmerkungen

1 Online: „Jawdat Said: Non-Violence. The Basis of Setting Disputes in Islam“. Download: www.jawdatsaid.net/en/index.php?title=Main_Page, dort dann Non-Violence anklicken.

2 Jawdat Saïd zit. nach einem Artikel von Jean-Marie Muller: „Visite à Jawdat Saïd (Zu Besuch bei Jawdat Saïd“, im französischen Bulletin der War Resisters’ International, „Le Sentier de la paix“ (Der Weg des Friedens), April 2009.

3 Zit. nach www.bladi.net

4 Jawdat Saïd: „Antworten auf Fragen von Abdul-Jabbar Al-Rifa’ee, Chefredakteur der iranischen Zeitung Current Islamic Issues, siehe: www.jawdatsaid.net

5 Jawdat Saïd: „Law, Religion and the Prophetic Method of Social Change“, in: Journal of Law and Religion, 15. Jahrgang, Nr. 1-2, Jahr 2000, S. 128.

6 Ebenda, S. 124.

7 Ebenda, S. 118.

Der Artikel wurde aus der Graswurzelrevolution Nr. 403, November 2015, www.graswurzel.net, entnommen und leicht gekürzt. Der Autor wünscht, das Pseudonym „Absent Friend“ zu nutzen.

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