Ein beispielhafter Vertrag

von Gregor Witt

In der laufenden Ratifizierungsdebatte im US-amerikanischen Senat über den Raketenabrüstungsvertrag haben die Abrüstungsgegner einen schweren Stand. Denn noch nie gab es ein derart präzises und kontrollierbares Abkommen zwischen USA und UdSSR wie dieses. Ein Grund mehr für die Friedensbewegung, sich intensiv mit dem Vertrag zu befassen und ihn für sich nutzbar zu machen.

Das Gesamtwerk besteht aus dem eigentlichen "Vertrag über die Beseitigung der Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite" sowie dem Memorandum zur Verständigung über die Festlegung von Ausgangsangaben, dem Protokoll für die Verfahren zur Beseitigung der Raketenmittel und dem Protokoll über Inspektionen. Dem Memorandum liegt eine genaue Aufstellung der "Raketenmittel" (das sind neben den Raketen selbst die Startvorrichtungen, Hilfsanlagen und Hilfsausrüstungen), der Stationierungsgebiete, Produktionsanlagen usw. bei. Alle diese Dokumente müssen vom Obersten Sowjet bzw. vom amerikanischen Senat ratifiziert werden.

Was wird wie beseitigt?

Dem Abkommen entsprechend wird es drei Jahre nach dessen Ratifizierung weltweit keine landgestützten Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite (1000 bis 5500 bzw. 500 bis 1000 km) mehr geben. Bereits stationierte oder produzierte Systeme sowie deren Startvorrichtungen, Hilfsanlagen und Hilfsausrüstungen werden liquidiert. Demgemäß müssen die USA die Pershing II, bodengestützte Cruise Missiles, Pershing IA, die UdSSR SS 20, SS 4 und SS 5, bodengestützte Cruise Missiles sowie SS 12 und SS 23 vernichten.

Zu verschrotten sind auf Seiten der USA 429 stationierte und 260 nichtstationierte Raketen mittlerer sowie 170 Raketen kürzerer Reichweite; auf sowjetischer Seite 470 stationierte und 356 nichtstationierte Raketen mittlerer Reichweite sowie 926 Raketen kürzerer Reichweite. Insgesamt müssen die beiden fast 4000 Gefechtsköpfe zerstören.

Die Verfahren zur Liquidierung sind unterschiedlich. Die USA wollen den Festbrennstoff verbrennen, alles andere zerpressen. Die Sowjetunion will ihre Raketen sprengen. Möglich ist auch die Vernichtung von bis zu 100 Mittelstreckenraketen durch Start oder Abschießen. Das Gehäuse des Kopfteils der Raketen (der Gefechtskopf), soll unter der Presse zusammengedrückt werden. Die nukleare Ladung kann von beiden Seiten nach Belieben verwertet werden.

Der Zeitplan

Der Zeitplan für die Beseitigung der Systeme beginnt mit dem Inkrafttreten des Vertrages durch die Ratifizierung durch beide Staaten. 30 Tage danach sollen sie die Stationierung einstellen.

Die Beseitigung der Raketen mittlerer Reichweite soll innerhalb von drei Jahren in zwei Etappen erfolgen. Nach 29 Monaten dürfen von den noch vorhandenen Systeme nicht mehr als 180 Sprengköpfe abschießbar sein. 7 Monate später müssen alle Raketenmittel beseitigt sein. Die Raketen kürzerer Reichweite sollen 90 Tage nach Inkrafttreten des Vertrages zu den Liqidierungsorten gebracht worden sein und dort innerhalb von 18 Monaten beseitigt werden.

Die amerikanischen Sprengköpfe für die 72 Pershing 1A der Bundeswehr, an denen die Bundesregierung den Vertrag zum Scheitern bringen wollte, müssen in den letzten beiden Wochen der 3-Jahres-Frist liquidiert werden. Das ist im Liquidierungsprotokoll geregelt.

Information und Kontrolle

30 Tage nach Inkrafttreten des Vertrages müssen die von den Vertragsparteien bei der Unterzeichnung vorgelegten Daten aktualisiert werden. Danach werden alle sechs Monate aktuelle Daten ausgetauscht. Außerdem benachrichtigen sich beide Seiten 30 Tage im Voraus über geplante Liquidierungen.

Inspektionen sind sowohl in den beiden Vertragsstaaten als auch in den Stationierungsländern DDR und CSSR sowie Bundesrepublik, Belgien, Großbritannien, Italien und Niederlande vorgesehen. Entsprechende Verträge sind von beiden Großmächten mit ihren Bündnispartnern bereits abgeschlossen worden.

Im Einzelnen sind Inspektionen vorgesehen:

  • zur Prüfung der Ausgangsangaben innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages
  • während der 3 Jahre dauernden Liquidierung zur Feststellung, ob angekündigte Liquidierungen von Raketenstützpunkten und -unterstützungseinrichtungen erfolgt sind
  • zur Beobachtung der Liquidierung von Raketen vor Ort
  • zur Überwachung je eines Herstellerwerkes
  • auf Verdacht an den Operationsbasen und Hilfsobjekten der Raketen nach festgelegten Quoten für die Dauer von 13 Jahren.

Bis zu 200 Inspektoren kann jede Seite für diese Inspektionen auf die Reise schicken. Gleichzeitig dürfen Überwachungen des anderen mit seinen nationalen technischen Mitteln nicht gestört, sondern müssen erleichtert werden.

Von vielen Verhandlungen kennen wir den Vorgang, daß die USA weitreichende vor-Ort-Kontrollen verlangten, die Moskau ablehnte, weil sie dahinter Spionageabsichten vermutete, woraufhin die USA die Sowjetunion verdächtigten, Vertragsverstöße vorzuhaben. Verhandlungen wurden dadurch verzögert, Vereinbarungen wie jetzt über die chemischen Waffen drohen daran zu scheitern. Die im Raketenvertrag festgelegten Kontrollen geben beiden Seiten das Recht zu so viel legalisierter "Spionage" wie notwendig ist, um die Vertragseinhaltung zu überprüfen. Der Vertrag kann damit bahnbrechend für weitere Abkommen sein.

Zur Bedeutung des Abkommens

Zunächst zu einigen Lücken, die nicht übersehen werden dürfen: zwar müssen die Gefechtsköpfe der Raketen zerstört werden, das spaltbare Material darf aber für beliebige Zwecke, auch für militärische Verwendung finden. Weiterhin müssen die Raketenbasen nicht zwingend aufgelöst werden, sondern dürfen für andere militärische Aufgaben genutzt werden. über dahingehende Überlegungen für Raketenbasen in der Bundesrepublik wird schon berichtet.

Möglich ist außerdem die Entwicklung von Boden-Luft-Raketen, die den zu verschrottenden Raketen ähnlich sind. Das sind bodengestützte Raketen, mit denen fliegende Objekte abgefangen und bekämpft werden können. Hier haben sich offenbar jene durchsetzen können, die Raketenabwehrsysteme aufbauen wollen.

Diese Lücken schmälern aber nur begrenzt die abrüstungs- und sicherheitspolitische Bedeutung des Raketenvertrages. Sie mißt sich auch weniger daran, wie viele Waffen zerstört werden. Viel entscheidender ist zum einen die Schrittmacherfunktion des Abkommens, zum anderen die mit der Qualität der abzurüstenden Waffen verbundene Sicherheitszuwachs für Europa.

Dennoch ein Wort zur Quantität, die mit dem zumeist angegebenen Wert von drei Prozent völlig unterschätzt wird. Wenn es stimmt, daß gegenwärtig weltweit zwischen 50 und 60.000 Atomsprengköpfe existieren, und davon nach dem Raketenvertrag 4000 zu beseitigen sind, verringern sich die Atomwaffenpotentiale um 6 - 8 Prozent!

Der Vertrag ist der erste echte atomare Abrüstungsschritt und belegt zugleich, daß Abrüstung machbar ist. Er unterscheidet sich damit von allen bisherigen Vereinbarungen über Atomwaffen, die auf Festlegung von Obergrenzen beschränkt waren. Das gilt z.B. für den SALT II - Vertrag über strategische Interkontinentalwaffen, der von den USA nicht ratifiziert, dennoch mehrere Jahre von USA und UdSSR eingehalten und dann von den USA gebrochen wurde.'

SALT II legte die Zahl der Atomwaffenträger für beide Seiten auf höchstens 2250 fest. Daraufhin mußte die UdSSR zwar rund 300 Trägersysteme verschrotten. Im Rahmen der festgelegten Obergrenzen hätten aber theoretisch die USA die .Zahl ihrer Atomsprengköpfe fast verdoppeln, die UdSSR sie nahezu verdreifachen können. Zudem waren die in Protokollabsprachen festgelegten Modernisierungsbeschränkungen sowohl lückenhaft als auch zeitlich befristet, womit dem qualitativen Rüstungswettlauf kaum Schranken gesetzt waren.

Der vorliegende Vertrag führt dagegen zur vollständigen weltweiten Abrüstung von zwei Waffenklassen, die weder veraltet noch strategisch unwichtig sind. Im Rahmen der "AirLand Battle"- und "Follow-on Forces“-Diskussion angestellte Überlegungen zur Verwendung von Pershing II und bodengestützten Marschflugkörpern für konventionelle Einsätze werden gegenstandslos. Der Raketenvertrag führt somit nicht nur zu atomarer Abrüstung, sondern zugleich zu konventioneller Rüstungsbeschränkung. Aus Europa verschwinden jene Waffen, die die Friedensbewegung wegen ihrer Erstschlagsfähigkeiten als besonders destabilisierend angesehen und bekämpft hat. Die Beseitigung dieser "Optionen" löst jetzt intensive Strategiediskussionen in·der NATO aus. Dabei treibt Unionspolitiker wie Alfred Dregger vor allem um, wie sie Atomwaffen überhaupt länger legitimieren können. Er will deshalb ein "NATO-Abrüstungskonzept" mit einem "Mindestmaß atomarer Abschreckung". Demgegenüber ist der Raketenvertrag ein gewichtiges Argument für das Konzept der Überwindung der Abschreckung und bestärkt Forderungen nach weitergehender Abrüstung, nach Schaffung atomwaffenfreier Zonen und für eine Welt ohne Atomwaffen.

Gemessen an der in der Präambel des Vertrages formulierten Absicht, wonach die Unterzeichner zur "Verringerung der Gefahr eines Kriegsausbruchs und zur Festigung des internationalen Friedens und der Sicherheit beitragen" wollen, ist die Raketenabrüstung erst ein Anfang. Aber wie die Chinesen sagen: Auch die weiteste Reise beginnt mit einem ersten Schritt!

 

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund