Weißbuch 2016

Ein Blick zurück in die Zukunft

von Sabine Jaberg
Schwerpunkt
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Gegenwärtig erhitzen vor allem zwei Themen die friedenspolitischen Gemüter: die Umsetzung des Zweiprozentziels der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe. Und das zu Recht: Beim ersten Thema geht es um den Anteil des Bruttoinlandsprodukts, den Deutschland für seine Rüstung künftig ausgeben will, beim zweiten im Ernstfall um die Mitwirkung an einem Atomwaffenangriff der USA. Das Weißbuch 2016 bekennt sich zu beidem. (1)

Der Blick auf das unter Federführung des Verteidigungsministeriums entstandene Dokument der Bundesregierung lohnt aber vor allem zur strategischen Standortbestimmung: Zum einen markiert es den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die jene programmatischen und verfassungsrechtlichen Restriktionen zu überwinden sucht, die den Einsatz der Bundeswehr noch bis Ende des globalen Systemkonflikts 1989/90 auf die Selbst- bzw. Bündnisverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffes beschränkt hatten. Zum anderen formuliert das Weißbuch 2016 eine eigene offensive Programmatik, die bereits die heutige politische Praxis mitprägt und in die Zukunft ausstrahlt.

Eroberung und Öffnung militärischer Möglichkeitsräume
Die Kärrnerarbeit bei der Enttabuisierung des Militärischen war schon länger vollbracht. (2) Die Weißbücher von 1994 und 2006 sowie die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992, 2003 und 2011 haben neue Betätigungsfelder für die Streitkräfte programmatisch erschlossen. Die erste Zauberformel dazu hieß Krisenbewältigung, die zweite weite Sicherheit, phasenweise sogar weite Verteidigung. Das Bundesverfassungsgericht attestierte in seinem Urteil 1994 Einsätze der Bundeswehr jenseits der Selbst- oder Bündnisverteidigung ihre grundgesetzliche Zulässigkeit. Hier lautete die Zauberformel Artikel 24 (Absatz 2). Dieser erlaubt nämlich der Bundesrepublik zur Wahrung des Friedens die Eingliederung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, wozu das Judikat neben den Vereinten Nationen auch die NATO zählte. Das Problem, dass der genannte Artikel keinen expliziten Hinweis auf die Streitkräfte enthält, er mithin das Ausdrücklichkeitsgebot der Verfassung für Militärinsätze außerhalb der Verteidigung nicht erfüllt, entsorgten die Karlsruher Richter handstreichartig.

Nichtsdestoweniger trug auch das Weißbuch 2016 sein Scherflein zur Eroberung neuer und zur Festigung erst ansatzweise erschlossener militärischer Möglichkeitsräume bei. Zu den Neuerungen zählen Überlegungen, im Falle terroristischer Großlagen die Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei heranzuziehen. Diese stellen jedoch einen Sonderfall außerhalb des militärischen Kerngeschäfts dar. Während sich das Dokument mit Blick auf den – mittlerweile in einem eigenständigen Organisationsbereich abgebildeten – Cyberraum noch bedeckt hält und nebulös auf die „Arbeit an einem gemeinsamen Verständnis über die Anwendung des Völkerrechts“ (S. 38) verweist, mahnt drei Jahre später ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags die Regierung zur Zurückhaltung: Die Zulässigkeit eines Hackbacks durch die Bundeswehr sieht es verfassungsrechtlich an den Verteidigungsfall und völkerrechtlich an eine Selbstverteidigungslage gekoppelt. (3)

Unter der Schlagwortreihe „Gefährdung der Informations-, Kommunikations-, Versorgungs-, Transport- und Handelslinien und der Sicherheit der Rohstoff- und Energieversorgung“ (S. 41) positioniert sich das Weißbuch hingegen recht eindeutig: „Angesichts der Vielzahl potenzieller Ursachen und Angriffsziele muss Deutschland mit seinen Verbündeten und Partnern flexibel Elemente seines außen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums einsetzen, um Störungen oder Blockaden vorzubeugen oder diese zu beseitigen“ (ebd.). Der Hinweis auf militärische Mittel ist in der unspezifischen Rede vom sicherheitspolitischen Instrumentarium implizit enthalten. Das wurde zwar schon im Weißbuch 2006 insinuiert, und Bundespräsident Horst Köhler warb 2010 für den Einsatz militärischer Mittel, falls regionale Instabilitäten „[negativ] auf unsere Chancen zurückschlagen [...], bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern“. (4) Während damals öffentlicher Gegenwind Köhler aus dem Amt wehte, ist ein solches Krisenszenario im aktuellen Weißbuch programmatisch befestigter denn je. Das entlastet den Einsatz der Bundeswehr zusehends von der Notwendigkeit einer sicherheits- bzw. verteidigungs- oder auch friedenspolitischen Begleitrhetorik. Das nationale Interesse schält sich somit immer klarer als hinreichende Legitimation bewaffneten Einschreitens heraus. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer schreibt diese Linie fort. Ihr Plädoyer für einen stärkeren Einsatz der Bundeswehr stellt sie in engen Zusammenhang mit ihrem Bekenntnis zu einem offenen Umgang mit „eigene[n] strategische[n] Interessen“, wozu sie neben einem regelbasierten „freien Handel“ auch „offene Handelswege“ zählt. (5) Dementsprechend kündigen die vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Leitlinien zum Indo-Pazifik bereits den Ausbau der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation mit Partnern in der Region an – gemeinsame Übungen inklusive. (6)

Vor allem aber will das Weißbuch den Zutritt zum militärischen Möglichkeitsraum erleichtern, indem es eine der Hürden, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, beiseite räumt. Während sich der Parlamentsvorbehalt bewährt habe, hadert das Dokument mit der vorgeschriebenen Einbindung in Kollektivsysteme: „Gerade in Fällen, in denen die völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein militärisches Vorgehen ohnehin vorliegen (etwa in Form einer Unterstützungsbitte der jeweiligen Gastregierung) und die daher auch keiner weiteren völkerrechtlichen Ermächtigung bedürfen, wird die Einbindung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zunehmend schwierig“. Vielmehr „müssen wir in der Lage sein, auch diesen Herausforderungen gegebenenfalls im Wege des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte kurzfristig Rechnung zu tragen“ (S. 109). Die höchstrichterliche Vorgabe wird demgegenüber sekundär. Das zeigte sich schon vor Erscheinen des Werks: Die militärische Ausbildungsmission im Irak begann 2014/2015 allein auf Einladung der irakischen Autoritäten ohne Einbindung in ein Kollektivsystem.

Offensive Programmatik
Wenngleich die Einarbeitung des Merkel’schen Ertüchtigungsansatzes, der regionale und lokale Akteure zur eigenständigen militärischen Krisenbewältigung befähigen will, eine wachsende Skepsis gegenüber großangelegten Interventionen wie im Irak und Afghanistan signalisieren mag: Der Grundtenor des Weißbuchs ist ein anderer. Hier dominieren ein gestiegenes Selbstbewusstsein und eine größere Selbstverständlichkeit beim Einsatz der Bundeswehr. Völlig zutreffend kürt die Begleitbroschüre des BMVG, „Wege zum Weißbuch“ (2016), das omnipräsente Begriffspaar Verantwortung und Führung zum „Leitmotiv“. (S. 15) Dazu passt auch der häufig reklamierte Handlungs- bzw. Gestaltungsanspruch. Dementsprechend gilt das bereits in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011 eingeführte Konzept der Rahmennation nunmehr explizit „als Ausdruck unseres Selbstverständnisses und unseres Gestaltungsanspruchs“. Die Rahmennation gehe in Vorlage, um „anderen Nationen zu ermöglichen, ihre Fähigkeiten zum Nutzen aller in einen multinationalen Verbund einzubringen“ (S. 68). In dieser Funktion leitet Deutschland eine Gruppierung von mittlerweile 21 Staaten. (7)

Aber nicht nur beim Aufbau militärischer Strukturen, auch bei politischen Initiativen mit militärischen Implikationen schlägt sich der im Weißbuch reklamierte Führungs- und Gestaltungsanspruch schon nieder. Erinnert sei paradigmatisch an den eigenmächtigen Vorstoß der Verteidigungsministerin im Oktober 2019 zur Errichtung einer Schutzzone in Nordsyrien, an der sich auch die Bundeswehr hätte beteiligen sollen. Im gängigen Politjargon heißt das: Nicht länger nur „am Spielfeldrand stehen und kluge Ratschläge geben“, sondern „aus eigenen Interessen Verantwortung übernehmen“ (8). Wenngleich der Vorschlag weder in der Regierungskoalition noch im Bündnis reüssierte, untermauerte er doch erstmals die Ambitionen Deutschlands, auch dort „selbst die Initiative ergreifen, Impulse setzen, Optionen aufzeigen“ zu wollen, wo es der prinzipiellen Bereitschaft bedarf, „das Spektrum an Fähigkeiten, über das wir verfügen, auch zur Verfügung zu stellen“ (9). In genau dieser Hinsicht ging es um den Versuch einer weiteren „Trendwende in der deutschen Sicherheitspolitik“ (10), auf die Advokaten einer forscheren weltpolitischen Rolle Deutschlands wie Wolfgang Ischinger schon länger drängen.

Fazit
Die Geschichte der Weißbücher und Verteidigungspolitischen Richtlinien seit Ende des globalen Systemkonflikts lässt sich als Geschichte der – höchstrichterlich abgesegneten – Eroberung und Befestigung militärischer Erlaubnisräume beschreiben. Wenngleich der Einsatz der Bundeswehr nicht das erste oder gar einzige Mittel sein muss, möchte die Politik in unterschiedlichen Konstellationen jederzeit auf diese Option zurückgreifen können. Das hat sie im Prinzip erreicht – vorbehaltlich vorhandener Ressourcen, parlamentarischer Zustimmung und eventueller bundesverfassungsgerichtlicher Überprüfung. Lediglich militärische Alleingänge jenseits der Rettung und Evakuierung deutscher Staatsangehöriger sowie erklärte Angriffskriege stehen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Die Beschreibungen der sicherheitspolitischen Herausforderungen in den Dokumenten haben demnach eher als Begründungsfolie zur Ausweitung des militärischen Aktionsradius als der Suche nach angemessenen Lösungen gedient. Diese werden im Zeichen des vernetzten Ansatzes an einen militärisch-zivilen Kooperationsverbund delegiert. Die eigenen Anteile an der Genese jener Probleme, denen auch mit militärischen Mitteln begegnet werden soll, blendet das Weißbuch jedoch durchgängig aus. Diese gälte es aber analytisch zu erfassen und praxeologisch anzugehen. Nur so ließe sich eine Sicherheitspolitik entwickeln, die dem Friedensgebot des Grundgesetzes wirklich entspricht.

Anmerkungen
1 Vgl.: Weißbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin: Bundesministerium der Verteidigung, 2016. (zit.: Weißbuch 2016.), S. 117 und S. 65.
2 Vgl.: Jaberg, Sabine: Auslandseinsätze der Bundeswehr: Jenseits der grundgesetzlichen Friedensnorm?, in: Nielebock, Thomas/Meisch, Simon/Harms, Volker (Hrsg.): Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Hochschulen zum Frieden verpflichtet. Theodor Eschenburg-Vorlesung 2011. Mit Beitr. von Jürgen Altmann u.a. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2012. (Theodor Eschenburg-Vorlesungen; 6.) S. 177-221.
3 Vgl.: Wissenschaftliche Dienste. Deutscher Bundestag: Sachstand: Cyberabwehr in Deutschland. (WD 2 – 3000 – 090/19.) (https://netzpolitik.org/2019/geheimes-bundestagsgutachten-attackiert-hac...) [abg. 2.9.20]
4 „Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen“. Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke vom 22. Mai 2010, http://www.deutschlandradio.de/sie-leisten-wirklich-grossartiges-unter-s.... [abg. 3.9.20].
5 Annegret Kramp-Karrenbauer zit. nach: Roßmann, Robert/Szymanski, Mike: Bundeswehr soll öfter ins Ausland. (https://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-kramp-karrenbauer-ausland...) (06. November 2019) (abgerufen am 01. September 2020). (zit.: Roßmann/Szymanskis: Bundeswehr.)
6 Vgl.: Leitlinien zum Indo-Pazifik. Deutschland – Europa – Asien. Das 21. Jahrhundert gemeinsam gestalten. Berlin: Auswärtiges Amt, 2020, S. 15.
7 Vgl.: Jarowinsky, Hanna: Framework Nations Concept: Militärkooperation in Europa weiter stärken. (https://www.bmvg.de/de/aktuelles/fnc-militaerkooperation-in-europa-weite...) (28. August 2020) (abgerufen am 01. September 2020).
8 Internationale Schutzzone in Syrien. Fragen und Antworten zur Initiative von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (https://www.cdu.de/faq-syrien) (abgerufen am 01. September 2020).
9 Annegret Kramp-Karrenbauer zit. nach: Roßmann/Szymanski: Bundeswehr.
10 Wolfgang Ischinger zit. nach: Hoffmann, Christiane: Wolfgang Ischinger über Nordsyrien „Frau Kramp-Karrenbauer verdient Anerkennung“. (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wolfgang-ischinger-lobt-anneg...

Dr. Sabine Jaberg ist Politologin. Sie arbeitet als Dozentin mit dem Themenschwerpunkt Friedensforschung an der Fakultät Politik, Strategie und Gesellschaftswissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Sie ist Mitherausgeberin der Vierteljahresschrift "Sicherheit und Frieden (S+F)".

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