Die Friedensbewegung der letzten fünfundzwanzig Jahre

Ein Mani Stenner Dialog-Zentrum?

von Andreas Buro

Die westdeutsche Friedensbewegung hat seit 1945 viele höchst unterschiedliche historische Phasen durchschritten und jeweils der Situation entsprechende, zum Teil komplexe Leitvorstellungen verfolgt. Bis zur Mitte der 1950er Jahre stand der Kampf gegen die Remilitarisierung im Vordergrund, der sich häufig mit der Frage nach Neutralisierung Deutschlands und seiner Wiedervereinigung verbunden hat.

Danach ging es um den Kampf gegen Atomwaffen. Es wurde klar, wie sehr Mitteleuropa zum atomaren Schlachtfeld werden würde. Bis 1959 organisierten vorwiegend SPD und Gewerkschaften mit Anteilen der evangelischen Kirche den ‚Kampf gegen den Atomtod’, gaben diesen jedoch zugunsten einer Politik der Großen Koalition auf. Ab 1960 griff die erste von Parteien und großen Organisationen unabhängige außerparlamentarische Bewegung, der ‚Ostermarsch gegen Atomwaffen in Ost und West’ und später die ‚Kampagne für Demokratie und Abrüstung’ das Thema auf: Ihre Leitvorstellungen: Nukleare Abrüstung, Überwindung des Abschreckungssystems und auf dem Wege dazu die Bildung atomwaffenfreier Zonen in Mitteleuropa.

Von der Mitte der 1960er Jahre bis zum Ende der 1970er weiteten sich die Perspektive der Friedensarbeit auf die Demokratisierung der Gesellschaft, Anti-Imperialismus und Solidarisierung mit der sogenannten Dritten Welt aus.

Der Protest gegen den Nachrüstungsdoppelbeschluss konzentrierte in den 1980er Jahren wieder auf die nukleare Bedrohung Mitteleuropas. Eine Leitvorstellung zur Überwindung dieser Bedrohung sollte die Ausbildung von Defensivsystemen in West und Ost sein. Sie sollten zu einer Deeskalation durch beidseitige Bedrohungsreduzierung führen.

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstand für die Friedensbewegung die neue Situation, grenzüberschreitende Friedensarbeit zu leisten. Früher hatte es bereits sogenannte Solidaritäts-Bewegungen wie zum Beispiel „Waffen für El Salvador“ gegeben, also eine Unterstützung in einem Krieg für diejenigen, die man für die gerechterweise militärisch Kämpfenden hielt. Doch das entsprach keineswegs mehr dem verstärkt pazifistischen Verständnis der Bewegung. Musste man nicht Verständigungsprozesse unterstützen, um militärischen Konfliktaustrag zu überwinden?

Eine der ersten großen Aktionen war die Friedenskarawane der Helsinki Citizens Assembly durch alle Balkanstaaten und ihre Gespräche mit Regierungen, Parlamenten, Kirchen, Gewerkschaften, Basisorganisationen usw. Bald kam hinzu, gemeinsam mit vielen internationalen Friedensorganisationen, die Unterstützung gewaltfreier, demokratischer Basisorganisationen und mit der Ausweitung der Kampfhandlungen humanitäre Hilfe. Ein weiteres neues Element waren Kurse in Gewaltfreiheit und Mediation. Aus diesen Erfahrungen entwickelten sich bis heute die Bemühungen um einen basisbezogenen zivilen Friedensdienst. Mittlerweile gibt es viele unabhängige Organisationen, die in diesem Feld arbeiten. Ich nenne stellvertretend das Forum Ziviler Friedensdienst und die bis heute fortgeführte Aktion „Ferien vom Krieg“.

Für diese Art von Aktivitäten kam in Deutschland der Begriff der ‚Zivilen Konfliktbearbeitung’ (ZKB) auf.

Dabei wurde immer wieder auf die Europäische Union verwiesen, die es geschafft habe, dass viele Mitgliedstaaten ihre Konflikte durch zivile Institutionen und Verfahren beilegen konnten. Der Haken bestand allerdings darin, dass die EU bis heute nach außen gerichtet, in Verbindung mit der NATO, durchaus als Militärmacht auftritt, also die inneren Verhaltensweisen der zivilen Konfliktbearbeitung im Verhalten gegenüber der internationalen Welt keineswegs anwendet.

Der zweite bedeutende Einfluss kam von den Vereinten Nationen. Nach der Agenda for Peace des früheren UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali (1992-1996) sollten Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung auf den folgenden Handlungsebenen eingesetzt werden: Vorbeugende Diplomatie (preventive diplomacy), Friedensschaffung (peace making), Friedenssicherung (peace keeping) und Friedenskonsolidierung (post conflict peace building). Akteure könnten zivilgesellschaftliche Institutionen und Verbände (NGOs) sein, aber auch internationale oder nationale staatliche und staatsnahe Institutionen. Doch auch hier stand im Hintergrund die UN-Charta, die durchaus gewaltsamen Konfliktaustrag unter bestimmten Bedingungen gestattete.

So sehr die Friedensbewegung zu schätzen weiß, wenn Konflikte auf der Ebene von Verhandlungen ausgetragen werden, so sehr ist sie sich auch bewusst, dass dabei andere Druckmittel aus dem Arsenal der strukturellen Gewalt eine Rolle spielen und angewandt werden. Die Auseinandersetzungen um die Ukraine bieten dafür ein vorzügliches Beispiel. Das entspricht keineswegs ihren Vorstellungen. Sie sieht ZKB nicht als die Fortsetzung der Konfrontation mit nicht-militärischen Mitteln.

Ich verbinde den Begriff der zivilen Konfliktbearbeitung mit den auf die Gedanken Mahatma Gandhis zurückgehenden Satyagraha-Normen. Diese haben nicht Sieg im Auge, sondern Gleichberechtigung, Respektierung der legitimen Interessen der Konfliktpartner, Aussöhnung und zukünftige Kooperation. Konflikte ohne militärische Drohung und Militäreinsatz bearbeiten. Sich um die Schaffung von Vertrauen und Kooperation zum beidseitigen Nutzen zu bemühen. Bei gewalttätig eskalierten Konflikten kommt hinzu: Konflikttransformation von der militärischen auf die politische Ebene. Alle Akteure sind einzubeziehen, die gesellschaftlichen, die staatlichen und die internationalen. Leitlinien sind die Menschen- und Minderheitenrechte.

Hindernisse auf dem Wege zur ZKB
Erstens: Krieg und Gewalt sind als scheinbar selbstverständliche Art des Konfliktaustrags tief in der Psyche der Menschen verankert. Die Geschichtsbücher berichten vorwiegend glorifizierend über Kriege. Sie werden demagogisch auf menschliche Eigenschaften zurückgeführt und dadurch zum letztlich unabänderlichen Naturphänomen stilisiert.

Zweitens: Militär-gestützte Politik wird begleitet von Legitimationsideologien über den „Gerechten Krieg“, die „Humanitäre Intervention“ bis zum „Krieg gegen den Terror“ und „Krieg für Menschenrechte und Demokratisierung“. Dadurch sollen die BürgerInnen über den wahren Charakter der Kriege getäuscht und zu seiner Unterstützung animiert werden. Diese Ideologien produzieren das demagogische Feindbild der Bösen und das unkritische Freundbild der Guten.

Drittens: Die materiellen Interessen an Rüstung und Krieg beim Militär, der Rüstungsindustrie, bei privaten Waffenhändlern und Söldnerunternehmen, bei Kämpfen um Rohstoffe, Märkte und strategische Positionen usw. Es kommt noch etwas hinzu: Wer wie zum Beispiel die USA und Russland sehr hohe Militärinvestitionen getätigt hat, wird immer wieder geneigt sein, diese Investitionen für die Durchsetzung seiner Interessen direkt oder indirekt einzusetzen.

Wie groß ist die Chance, ZKB tatsächlich durchzusetzen?
Unter allen Gesellschaftsformationen der Geschichte hat räuberische und kriegerische Gewalt eine große Rolle gespielt. Die Globalisierung und die damit verbundene Verzahnung der einst nationalen Kapitale und ihr Interesse an globalen Rechtsordnungen lassen hoffen, ZKB könne sich zumindest erheblich ausweiten.

Innerstaatliche Konflikte werden große Anstrengungen und auch erhebliche materielle Mittel erfordern. Hier spielen oft extreme Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Verarmung insbesondere dort eine ausschlaggebende Rolle, wo nationale „Eliten“ in Gemeinschaft mit internationalen Konzernen sich bereichern und ihre eigenen Völker ausplündern.

Der Wandel von militärischer zu ziviler Konfliktbearbeitung und die entsprechende Abrüstung werden also nicht schnell zu erreichen sein. Trotzdem ist sehr wohl vorstellbar, dass in einem langen und schwierigen Prozess der gewaltsame militärische Konfliktaustrag zurückgedrängt wird; ihm durch internationales Recht und Gerichtsbarkeit immer mehr Handlungsfelder entzogen werden; die Potentiale in den Staaten und Gesellschaften, die sich um zivile Konfliktbearbeitung und Kriegsprävention bemühen, ausgebaut werden und dadurch auch in der öffentlichen Wahrnehmung an Gewicht zunehmen. Dass frühzeitig kritische Informationen zu drohenden Konflikten vermittelt werden, eine öffentliche Debatte entzündet wird und eine energische Lobby- und Medienarbeit, verbunden mit Vorschlägen zur Prävention, betrieben wird. Dabei ist es eine wesentliche Aufgabe für zivilgesellschaftliche Gruppen, eine kritische Gegenöffentlichkeit zu schaffen und in den Gesellschaften eine Kultur des friedlichen, auch innenpolitischen Konfliktaustrages zu entwickeln, und erfolgreiche Prävention und zivile Konfliktbearbeitung mit ihrer großen Überlegenheit für Menschen und Wirtschaft in konkreten Fällen öffentlich sichtbar zu machen. So kann es gelingen, dass sich auch in den nationalstaatlichen, wie auch in den internationalen Organisationen MitarbeiterInnen  zunehmend in diesem Sinne einsetzen, um ihre je spezifischen Aufgaben besser erfüllen zu können.

Es gilt also einen Prozess zu fördern, der in der Praxis zu verstärkter Kriegsprävention und ziviler Konfliktbearbeitung führt, der immer mehr Mittel und öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenkt und von daher eine Eigendynamik erhält. Daran könnt?en die auf Frieden orientierten Teile der Zivilgesellschaft einen erheblichen Anteil haben.

Meine Lieblingsidee zur Durchsetzung von ZKB ist die Gründung einer Institution, die es KonfliktpartnerInnen weltweit ermöglicht, zusammenzukommen, um in Ruhe nach Lösungen für ihre Konflikte zu suchen. Ich würde es gerne Mani Stenner Dialog-Zentrum nennen – eine zuneigungsvolle Liebeserklärung.

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