Südafrika

Ein Regenbogen der Hoffnungen

von Dieter Lünse

Südafrika steht in diesem Jahrzehnt im Licht vieler Gewalterscheinungen. Alle Erfolge der gewaltfreien Bewegungen scheinen dahin oder nie da gewesen. Erst mit dem Blick hinter die Kulissen wird deutlich, dass gewaltfreies Handeln seinen Einfluss hatte und auch heute noch hat. Mit der Frage: Wie gelingt der Umgang mit Gewalt und Konflikten seit dem Ende der Apartheid?, lassen sich viele Erfolge aufzeigen.

Mit der Freilassung von Nelson Mandela am 11.2.1990 durch den neuen Präsidenten der weißen Apartheid Regierung, F.W. de Klerk und dem Beginn der offiziellen Verhandlungen 1990 manifestierte sich ein Wendepunkt in der südafrikanischen Geschichte. Er hatte mehreren Quellen. Das Land hatte sich durch seine schreckliche Apartheidspolitik über Jahre isoliert. Weltweit hatte die Unterdrückung der schwarzen und farbigen Mehrheit durch die weiße Minderheit zu einer Reihe von solidarischen Boykottmaßnahmen geführt, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Sehr bekannt ist der Früchteboykott, wie auch Demonstrationen gegen die Geschäfte von deutschen Banken und Firmen wie Mercedes Benz in Südafrika. Zugleich ist bemerkenswert, dass der Weltkirchenrat, die Vereinten Nationen, verschiedene Nichtregierungsorganisationen der Anti-Apartheid-Bewegung, die Evangelische Frauenarbeit, Dritte-Welt-Läden usw. viele Kontakte zur unterdrückten Bevölkerungsmehrheit in Südafrika hielten. So wurde der ANC, die Black Counciousness Movement und vor allem die örtlichen Kirchengemeinden darin bestärkt, die Hoffnung nicht aufzugeben und  immer wieder eine Perspektive für den Kampf gegen Unterdrückung zu entwickeln. Der ANC konnte in London eine eigene Auslandsvertretung aufbauen und die Einrichtung von Bildungseinrichtungen in Tansania und Indien für ausgewählte Gruppen der gegeißelten Bevölkerung wurden ermöglicht.

Gewaltfreie Basisarbeit
Die politische Wende startete nicht als Stunde Null. Die politische Arbeit „von oben“ war einher gegangen mit einer gut organisierten kommunalen Basisarbeit, in der kirchliche Organisationen eine sehr wichtige Rolle spielten. Denn auch unter der sehr starken Unterdrückung durch die weiße Minderheit galt es, das tägliche Leben zu organisieren. Die Kirchen leisteten nicht nur seelischen Beistand, sie leisteten die Sozialarbeit vor Ort und regelten Streitigkeiten. Denn persönliche oder politische Konflikte dem Gegner zuzutragen und oder gar seine Gerichtsbarkeit oder Strukturen zu nutzen, kam gar nicht in Frage. So entwickelten sich bereits die konstruktiven Strukturen in einer unterdrückten Parallelgesellschaft. In der Anti-Apartheidgeschichte ist dies eine wenig bekannte Seite der gesellschaftlichen Entwicklung. Bekannt sind die großen Kämpfe und Demonstrationen bis hin zu den kriegerischen Auseinandersetzungen. Bilder der Gewalt in Südafrika, mit brennenden Autoreifen, gingen um die Welt und machten Orte wie Soweto bei Johannesburg für seinen Aufstand weltberühmt. Das tägliche gewaltfreie Leben unter kriegerischen Verhältnissen wurde kaum abgebildet.

Der National Peace Accord
Als am 14.9.1991 der National Peace Accord (NPA) unterzeichnet wurde, zeigte sich alsbald, dass alle Vereinbarungen von den lokalen Gruppen hervorragend umgesetzt wurden. Der NPA war ein sehr wichtiger Schritt der Verhandlungen auf dem Weg letztendlich zur neuen Verfassung 1994. In ihm wurde u.a. vereinbart: „Keine politische Partei oder Organisation oder irgendein offizieller Vertreter einer solchen Partei soll:

  • irgendeine andere Person im Zusammenhang mit den politischen Überzeugungen, Worten, Schriften oder Aktionen dieser Person töten, verletzen, Gewalt gegen sie anwenden, einschüchtern oder bedrohen;
  • ein Symbol oder andere Materialien irgendeiner anderen politischen Partei oder Organisation entfernen, verunstalten, zerstören, plagiatisieren oder auf andere Weise missbräuchlich nutzen … .“ (http://www.anc.org.za/ancdocs/history/transition/npaccord.html, chapter 2.3.)

Weitere Abkommen bis hin zur Wahl 1994 stützten den NPA und ermöglichten, dass das Abkommen nicht isoliert blieb, sondern ergänzt werden konnte. Seit der ersten Wahl und der neuen Verfassung sind bis heute keine politischen Morde mehr vorgekommen! Durch die Bildung der lokalen NPA Committees wurde die politische wie auch gesellschaftliche Sicherheit hergestellt. Es bildete sich die Hoffnung, das Vertrauen und der Umgang in die eigenen und „neuen“ staatlichen Organe zum Umgang mit Gewalt und Konflikten. 11 regionale Peace Committees und 263 lokale leisteten genau die Arbeit, für die u.a. kirchliche Organisationen über Jahrezehnte die Strukturen gelegt hatten. (Siehe Denis Dressel und Jochen Neumann,  Der lange Weg zum Frieden; Hamburg 2001.) Neu war, dass sie durch das Abkommen eine Legitimation für den gesamtgesellschaftlichen Prozess hatten. Sie lösten tägliche Streitigkeiten, organisierten Runde Tische und Mediationen. Sie leisteten den Beziehungsaufbau zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen. Sie entwickelten sich zur neuen positiven Autorität im Vakuum der niedergehenden Apartheid.

„Ich wusste, die Menschen erwarteten von mir, dass ich Zorn auf die Weißen hegte. Doch das war nicht der Fall. Im Gefängnis nahm mein Zorn auf die Weißen ab, aber mein Hass auf das System wuchs. Südafrika sollte sehen, dass ich sogar meine Feinde liebte, das System jedoch hasste, dass uns gegeneinander aufbrachte. (...) Wir wollten das Land nicht zerstören, bevor wir es befreiten, und die Weißen zu vertreiben würde die Nation vernichten. Ich sagte, es gebe einen Mittelweg zwischen weißen Ängsten und schwarzen Hoffnungen und den würden wir vom ANC finden“, schreibt Nelson Mandela in seiner Biographie (Der lange Weg zur Freiheit; Frankfurt am Main 1994, S. 759). Zwischen Hoffnungen der Schwarzen und den Ängsten der Weißen zu vermitteln ist den Menschen in den Peace Committees erfolgreich gelungen. Sie haben einen wichtigen und zutiefst gewaltfreien Weg geebnet, sich nicht nur von der Unterdrückung zu befreien, sondern vom Hass auf andere Menschen und den Schmerz der eigenen Wunden.

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission von 1994 bis 1999 ist ein weiterer Schritt, der Südafrika weltberühmt gemacht. Nach der Apartheid und einem Übergang mit vielen Konflikten und Gewalt arbeitete die Kommission zwischen 1996 und 1998 vor Ort in allen Bereichen des Landes. Die Kommission hatte 400 MitarbeiterInnen, und ein Teil ging in den zwei Jahren der Untersuchung von Ort zu Ort. Jeden Abend lief über zwei Jahre in den Hauptfernsehnachrichten des Landes mindestens ein Bericht aus der Kommission an einem der vielen Orte im Land. Bei den Menschen bildete sich eine „Geographie und Historie des Schreckens“ heraus. Das Leid wurde ausgesprochen, und hatte in den ersten Jahren der neuen Verfassung seinen Platz, ohne neue politische Gewalttätigkeiten.

Es gibt viele Schattenseiten der Kommission, und die erste große Bilanz 2006 nach 10 Jahren fiel mit großer Bitterkeit aus. (vgl. Vera Kattermann; Kollektive Vergangenheitsbearbeitung in Südafrika – Ein psychoanalytischer Verständnisversuch der Wahrheits- und Versöhnungskommission; Gießen 2007). Bemerkenswert sind jedoch einige positive Punkte. Zuerst ist der Konsens zu nennen, dass diese Arbeit durchgeführt wurde. Dann ist die Öffentlichkeit bedeutend, die sehr nachhaltig das Bewusstsein prägte. Und die Kommission sorgte dafür, dass Traumaarbeit ein wichtiger Bereich in der Zivilgesellschaft wurde. Inzwischen beschäftigen sich staatliche Krankenhäuser, Universitäten und viele Nichtregierungsorganisationen mit dem Thema. Südafrika ist inzwischen mit seinen Einrichtungen in der Lage, in anderen Gebieten zu helfen, und es war Modell für Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in anderen Ländern. Die Bedeutung der psycho-sozialen Betreuung in postkonflikthaften Ländern ist durch sie gewachsen.

Die Sprache der Gewaltfreiheit
Doch gerade in diesem Jahrzehnt bis heute scheinen die Menschen nicht die Sprache der Gewaltfreiheit zu sprechen. Die Hoffnung zeichnet sich nicht mehr in allen Regenbogenfarben ab. Vergewaltigungen, Mord, Kindersterblichkeit, Zunahme der Arbeitslosigkeit und für ein Großteil der Menschen das Leben unter der Armutsgrenze sind eine Kehrseite zur 1994 etablierten Verfassung. Zuletzt sorgten 2008 die Rassenunruhen gegen MigrantenInnen aus anderen afrikanischen Ländern für 62 Tote und über 50.000 Vertriebene. In den townships der großen Städte wurden Menschen willkürlich aus ihren armen Behausungen vertrieben. Diese flohen und suchten Schutz in oder vor Polizeistationen, in Kirchen und kommunalen Häusern. Doch gerade dieses Beispiel zeigt, dass zivile Akteure über ein vielfältiges Maß an gewaltfreiem Handeln verfügten. In Kapstadt bildete sich ein Aktionskomitee, und unter der Mithilfe von MediatorInnen kamen Stadtteilkoordinatoren, Vertreter der Stadt wie auch der Western Cape Province und VertreterInnen der Migrantengruppen zusammen. Nach zehn Wochen war wieder so viel Vertrauen aufgebaut, dass 80% der Vertriebenen in die Wohnviertel zurückkehrten.

Bis zu einer wirklich positiven gesellschaftlichen Entwicklung für Gerechtigkeit unter allen Menschen in Südafrika ist es noch ein längerer Weg – doch das eindeutige Wissen und die Handlungsfähigkeit, mit gewaltfreiem Handeln in Gewaltkonflikte zu intervenieren, sind effektiv in der südafrikanischen Zivilgesellschaft vorhanden. Dieses Wissen wird gehalten von Menschen, die schon massiv gegen die Apartheid gekämpft haben, Teil der Friedenskomitees waren und auch die Wahrheits- und Versöhnungskommission getragen haben.  

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Dieter Lünse ist Leiter des Institut für Konfliktaustragung und Mediation in Hamburg (www.ikm-hamburg.de). Er ist Mediator und Ausbilder für Programme sozialen Lernens. Bei einer Forschungsreise 2008 und einem weiteren Aufenthalt 2009 sind viele Kontakte entstanden, die er gerne auf Anfrage weiter vermittelt, um Unterstützung wie auch gegenseitiges Lernen zu organisieren: luense@ikm-hamburg.de