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Eine andere Welt
von
Plötzlich wird bewusst, wie sehr sich alles verändert hat: in einem selber, und um einen herum. Die vertrauten Muster, deren Linie man zu folgen gewohnt war, wenn man sich klar zu werden versuchte über die Vorgänge des eigenen Lebens wie im Leben der anderen sind außer Ordnung geraten und außer Gleichgewicht; sie haben sich auf höchste sonderbare Weise verschoben; sie hängen schief, sozusagen; wo einst links und rechts deutlich erkennbar gewesen, scheint nur noch eine Seite vorhanden, und auch diese lappt über den Rand des Geschehens, schlaff und ohne Facon, ähnlich einer der Uhren des Salvador Dali.
Es fehlt der Feind.
Es fehlt der Widersacher, der ewige Gegenspieler, der die Alternative vertrat zu allem, was uns hoch und heilig, und den man hassen konnte im Konkreten wie im Grundsätzlichen, und dessen Komplotte man überall witterte, und gegen den es sich zu rüsten galt, moralisch, ökonomisch, atomar.
Wirklich, was tun wir, die wir seit kurzem sämtlich angesiedelt sind im Reich des Guten, wenn sich kein Reich des Bösen mehr findet? Wer ist noch da, den wir mit Nutzen verfolgen, beschimpfen, prügeln könnten? Wem das Haus über dem Kopf anzünden? Gegen wen unsere Top-Agenten entsenden? Auf wen oder was unsre Raketen richten, unsere atomkopfbestückten?
Ist ja auch schwierig, so aus dem Stand heraus, ohne Plan, ohne Konzeption, ohne Philosophie, ganze oder auch halbe Völker umzupolen vom real existierenden Sozialismus auf den real existierenden Kapitalismus. Umgekehrt ja, da gab's Modelle die Fülle, jede größere Parteihochschule hatte eins vorrätig. Aber für das, was dann wirklich auf uns zukam - nicht einmal eine provisorische Skizze.
Wie soll das in Wirklichkeit gehen, so ganz ohne Gegner? Was für ein Rennen, in dem nur ein Einziger läuft, was für ein Wettbewerb, den ich nur mit mir selber betreibe?
Aber man übersehe doch nicht, so wird amtlicherseits eingewandt, die Macht der Privatkonkurrenz, welche neben der Sehnsucht nach gesteigerter Rendite die Triebkraft ist der freien Wirtschaft - Schmidt&Co. gegen Schulze KG gegen Müller GmbH- , und die alles befruchtet und wachsenden Segen schafft Jahr um Jahr für ihre Teilhaber.
Doch ist Schmidt kontra Schulze kontra Müller nur Kleinkram verglichen mit der großen, der geschichtsbildenden Konkurrenz gesellschaftlicher Systeme, dem Gegensatz von Klassenposition, dem Hickhack der Ideologien, hie Marx, hie Erhard, welch alle nun geschwunden. Es war die Präsenz der jeweiligen Anti-Welt, die, Ost wie west, die Oben zwang, die Unten zu päppeln - im real existierenden Kapitalismus durch Krankengeld, Altersrenten, Arbeitslosenunterstützung, Mietsubventionen, Urlaubsbonus, Weihnachtsgeschenke, und und -, und die so , Schritt um Schritt, Veränderungen schuf, welche aus der freien, brutalen Marktwirtschaft eine halbwegs soziale machten und aus dem Zerrbild von Sozialismus, mit dem wir gesegnet waren, die Gorbatschowiade oder Jelzins Tohuwabohu. Natürlich lag solcher Entwicklung die reine Erpressung zu Grunde: denn ständig bohrte, solange das Andere, die Alternative, vorhanden, in den Hirnen der Oben die dumpfe, kaum je in Worte gekleidete Drohung der Unten: Wir können auch anders!
Im Falle des real existierenden Sozialismus machten die Unten die Drohung wahr: sie zerbrachen die Mauer, und prompt fiel das ganze Gebilde zusammen.
Doch fiel damit auch das System der Alternativen, welches, beginnend mit dem Oktober Siebzehn, das Auf und Ab der Historie dieses Jahrhunderts bestimmte. Und die Unten werden es zu spüren bekommen, daß der Hebel zerbrochen ist, vermittels dessen sie Druck auszuüben vermochten, bei guter Gelegenheit, auf die Oben.
Zerbrochen der Sozialismus, oder das, was man so nannte: eine Puppe, mit der die Kinder zu grob gespielt, seine Inhalte weniger wert noch als das Sägemehl, das dem armen Ding aus der zerfledderten Brust rinnt. Zerbrochen der Sozialismus, selbst in China und Kuba, wo man nach dessen Riten noch betet, und heimatlos die Linken in der westlichen Diaspora, die bis vor kurzem noch Fünkchen von Hoffnung hegten, es könnte vielleicht noch ein Licht kommen aus dem Lande, welches einst Lenin geprägt.
Aber, und das ist notierenswert, geblieben sind Oben und Unten, auch unter den neuen Bedingungen; und in den nunmehr sozial und politisch zu gedeihlicher Einheit zusammengequirlten Bereichen erscheint der Graben tiefer denn je, der seit Urzeiten gegähnt zwischen den Mächtigen und den Machtlosen. Und dies wird neue Probleme erzeugen, neue Konflikte und Widersprüche, nur daß jetzt die Alternative fehlt, die einst real existierte, so schäbig sie auch gewesen sein mochte.
Und wie umgehen mit den neuen Problemen unter den neuen Umständen? Woher die neuen Ideen nehmen, die man da bräuchte? Die deutsche Linke -, und nicht nur die deutsche - ist ein einziger Wirrwarr, seit sie aus der luftigen Höhe ihrer runden Tische herunterpurzelte auf den Boden der Realität. Ach, wir Armen! Marx hat sich, so hallt es von überallher, als Versager erwiesen, Lenin gar nicht zu erwähnen; wer, oder was, ist uns geblieben zum geistigen Trost? Freud? Aristoteles? Der Apostel Paul? Oder, als letzter Helfer in Not, unser Dr. Kohl, der ewig sprudelnde Urquell hausbackener Weisheiten?
Dabei kocht es und brodelt es sichtbarlich an allen Ecken und Enden des Globus. Statt der großen Feindschaft zwischen den Reichen des Guten und des Bösen, welche, im Gleichgewicht ihres Schreckens, wenigstens eine gewisse Stabilität boten, brechen hundert kleinere, doch ebenso dumme und hasserfüllte Feindschaften aus, Blut fließt auf den Kontinenten, die umspült sind von verseuchten Meeren, Erde und Luft vergiften sich zusehends, ganze Völkerschaften, von Armut getrieben und Krieg, wandeln sich zu Asylsuchenden und machen sich auf zu den wenigen Inseln des Wohlstands - eines relativen nur, - und jeder Gebirgsstamm entdeckt sich als Nation und fordert, unter heftigen Drohgebärden, einen eigenen Luftraum und eigene Zollhäuseln und, nach der Anerkennung durch Bonn, Kredite.
Und statt des Klassenfeinds - wie kann es den Klassenfeind noch geben, wenn, wie es heißt, keine Klassen mehr das sind! - richten wir unsern Hass gegen alles, was sich nicht fügen will in unsern blöden, beschränkten Horizont, gegen Ausländer und Juden besonders; da werden wir noch sehen, wer hier das Sagen hat auf der S-Bahn, und in der Regierung!
Eine andere Welt als die uns gewohnte, und keine behagliche. Wäre es nicht an der Zeit, zu ergründen, was diese Welt nun im Innersten zusammenhält, wenn überhaupt, und wie man sie gestalten könnte, sofern sie sich noch gestalten läßt?