Eine andere Welt

von Stefan Heym
Schwerpunkt
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Plötzlich wird bewusst, wie sehr sich alles verändert hat: in einem sel­ber, und um einen herum. Die vertrauten Muster, deren Linie man zu fol­gen gewohnt war, wenn man sich klar zu werden versuchte über die Vorgänge des eigenen Lebens wie im Leben der anderen sind außer Ordnung geraten und außer Gleichgewicht; sie haben sich auf höchste sonderbare Weise verschoben; sie hängen schief, sozusagen; wo einst links und rechts deutlich erkennbar gewesen, scheint nur noch eine Seite vorhanden, und auch diese lappt über den Rand des Geschehens, schlaff und ohne Facon, ähnlich einer der Uhren des Salvador Dali.

Es fehlt der Feind.

Es fehlt der Widersacher, der ewige Ge­genspieler, der die Alternative vertrat zu allem, was uns hoch und heilig, und den man hassen konnte im Konkreten wie im Grundsätzlichen, und dessen Kom­plotte man überall witterte, und gegen den es sich zu rüsten galt, moralisch, ökonomisch, atomar.

Wirklich, was tun wir, die wir seit kur­zem sämtlich angesiedelt sind im Reich des Guten, wenn sich kein Reich des Bösen mehr findet? Wer ist noch da, den wir mit Nutzen verfolgen, be­schimpfen, prügeln könnten? Wem das Haus über dem Kopf anzünden? Gegen wen unsere Top-Agenten entsenden? Auf wen oder was unsre Raketen richten, unsere atomkopfbestückten?

Ist ja auch schwierig, so aus dem Stand heraus, ohne Plan, ohne Konzeption, ohne Philosophie, ganze oder auch halbe Völker umzupolen vom real exi­stierenden Sozialismus auf den real exi­stierenden Kapitalismus. Umgekehrt ja, da gab's Modelle die Fülle, jede größere Parteihochschule hatte eins vorrätig. Aber für das, was dann wirklich auf uns zukam - nicht einmal eine provisorische Skizze.

Wie soll das in Wirklichkeit gehen, so ganz ohne Gegner? Was für ein Rennen, in dem nur ein Einziger läuft, was für ein Wettbewerb, den ich nur mit mir selber betreibe?

Aber man übersehe doch nicht, so wird amtlicherseits eingewandt, die Macht der Privatkonkurrenz, welche neben der Sehnsucht nach gesteigerter Rendite die Triebkraft ist der freien Wirtschaft - Schmidt&Co. gegen Schulze KG gegen Müller GmbH- , und die alles befruchtet und wachsenden Segen schafft Jahr um Jahr für ihre Teilhaber.

Doch ist Schmidt kontra Schulze kontra Müller nur Kleinkram verglichen mit der großen, der geschichtsbildenden Konkurrenz gesellschaftlicher Systeme, dem Gegensatz von Klassenposition, dem Hickhack der Ideologien, hie Marx, hie Erhard, welch alle nun geschwun­den. Es war die Präsenz der jeweiligen Anti-Welt, die, Ost wie west, die Oben zwang, die Unten zu päppeln - im real existierenden Kapitalismus durch Krankengeld, Altersrenten, Arbeitslo­senunterstützung, Mietsubventionen, Urlaubsbonus, Weihnachtsgeschenke, und und -, und die so , Schritt um Schritt, Veränderungen schuf, welche aus der freien, brutalen Marktwirtschaft eine halbwegs soziale machten und aus dem Zerrbild von Sozialismus, mit dem wir gesegnet waren, die Gorbatscho­wiade oder Jelzins Tohuwabohu. Natür­lich lag solcher Entwicklung die reine Erpressung zu Grunde: denn ständig bohrte, solange das Andere, die Alter­native, vorhanden, in den Hirnen der Oben die dumpfe, kaum je in Worte ge­kleidete Drohung der Unten: Wir kön­nen auch anders!

Im Falle des real existierenden Sozia­lismus machten die Unten die Drohung wahr: sie zerbrachen die Mauer, und prompt fiel das ganze Gebilde zusam­men.

Doch fiel damit auch das System der Alternativen, welches, beginnend mit dem Oktober Siebzehn, das Auf und Ab der Historie dieses Jahrhunderts be­stimmte. Und die Unten werden es zu spüren bekommen, daß der Hebel zer­brochen ist, vermittels dessen sie Druck auszuüben vermochten, bei guter Gele­genheit, auf die Oben.

Zerbrochen der Sozialismus, oder das, was man so nannte: eine Puppe, mit der die Kinder zu grob gespielt, seine In­halte weniger wert noch als das Säge­mehl, das dem armen Ding aus der zer­fledderten Brust rinnt. Zerbrochen der Sozialismus, selbst in China und Kuba, wo man nach dessen Riten noch betet, und heimatlos die Linken in der westli­chen Diaspora, die bis vor kurzem noch Fünkchen von Hoffnung hegten, es könnte vielleicht noch ein Licht kom­men aus dem Lande, welches einst Le­nin geprägt.

Aber, und das ist notierenswert, geblie­ben sind Oben und Unten, auch unter den neuen Bedingungen; und in den nunmehr sozial und politisch zu ge­deihlicher Einheit zusammengequirlten Bereichen erscheint der Graben tiefer denn je, der seit Urzeiten gegähnt zwi­schen den Mächtigen und den Machtlo­sen. Und dies wird neue Probleme er­zeugen, neue Konflikte und Widersprü­che, nur daß jetzt die Alternative fehlt, die einst real existierte, so schäbig sie auch gewesen sein mochte.

Und wie umgehen mit den neuen Pro­blemen unter den neuen Umständen? Woher die neuen Ideen nehmen, die man da bräuchte? Die deutsche Linke -, und nicht nur die deutsche - ist ein ein­ziger Wirrwarr, seit sie aus der luftigen Höhe ihrer runden Tische herunterpur­zelte auf den Boden der Realität. Ach, wir Armen! Marx hat sich, so hallt es von überallher, als Versager erwiesen, Lenin gar nicht zu erwähnen; wer, oder was, ist uns geblieben zum geistigen Trost? Freud? Aristoteles? Der Apostel Paul? Oder, als letzter Helfer in Not, un­ser Dr. Kohl, der ewig sprudelnde Ur­quell hausbackener Weisheiten?

Dabei kocht es und brodelt es sichtbar­lich an allen Ecken und Enden des Glo­bus. Statt der großen Feindschaft zwi­schen den Reichen des Guten und des Bösen, welche, im Gleichgewicht ihres Schreckens, wenigstens eine gewisse Stabilität boten, brechen hundert klei­nere, doch ebenso dumme und hasserfüllte Feindschaften aus, Blut fließt auf den Kontinenten, die umspült sind von verseuchten Meeren, Erde und Luft ver­giften sich zusehends, ganze Völker­schaften, von Armut getrieben und Krieg, wandeln sich zu Asylsuchenden und machen sich auf zu den wenigen In­seln des Wohlstands - eines relativen nur, - und jeder Gebirgsstamm entdeckt sich als Nation und fordert, unter hefti­gen Drohgebärden, einen eigenen Luft­raum und eigene Zollhäuseln und, nach der Anerkennung durch Bonn, Kredite.

Und statt des Klassenfeinds - wie kann es den Klassenfeind noch geben, wenn, wie es heißt, keine Klassen mehr das sind! - richten wir unsern Hass gegen alles, was sich nicht fügen will in unsern blöden, beschränkten Horizont, gegen Ausländer und Juden besonders; da werden wir noch sehen, wer hier das Sagen hat auf der S-Bahn, und in der Regierung!

Eine andere Welt als die uns gewohnte, und keine behagliche. Wäre es nicht an der Zeit, zu ergründen, was diese Welt nun im Innersten zusammenhält, wenn überhaupt, und wie man sie gestalten könnte, sofern sie sich noch gestalten läßt?

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Stefan Heym ist Bundestagsabgeordne­ter der PDS.