Mitarbeiter von "The Other View" kämpften früher in den Untergrundgruppen Nordirlands

Eine Zeitschrift ehemaliger Feinde

von Thomas Pfeiffer
Friedensbewegung international
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Die jüngsten Bilder aus Nordirland zeigen altbekannte Szenen: Märsche protestantischer Traditionalisten, die einen mehr als dreihundert Jahre zurückliegenden Triumph zelebrieren, katholische Anwohner, die sich provoziert und gedemütigt fühlen, Straßenschlachten mit Polizei und Armee. Es scheint, als habe es den Friedensprozess der vergangenen Jahre nie gegeben. Die Zeitschrift "The Other View" will gegensteuern.

Dass Versöhnung ein schwieriges Unterfangen ist, wissen wenige besser als die Mitarbeiter des Magazins, dessen erste Ausgabe jetzt in Monaghan (Republik Irland) erschienen und in den Hauptstädten Belfast und Dublin vorgestellt worden ist. Etliche Mitarbeiter der Zeitschrift haben früher mit der Waffe in der Hand für ein vereintes Irland gekämpft. Oder dafür, dass der Norden der Insel auf alle Ewigkeit der britischen Krone treu bleiben möge. Sie gehörten paramilitärischen Einheiten an, die sich schier unversöhnlich gegenüberstanden und am Tod von über 3.000 Menschen während der mehr als 30-jährigen blutigen Unruhen beteiligt waren. Billy Mitchell und Tommy McKearney, die beiden Initiatoren von "The Other View", saßen jahrelang im selben Gefängnis, dem berüchtigten nordirischen Hochsicherheitsknast Long Kesh: Der eine als Mitglied der loyalistisch-protestantischen "Ulster Volunteer Force" (UVF), der andere der Irish-Republikanischen Armee (IRA).

Die Zeitschrift verfolge zwei Ziele, schreibt Mitchell: Einerseits wolle sie einen konstruktiven Dialog über strittige Punkte auslösen. So sollten Kommunikationsbarrieren zwischen beiden Bevölkerungsgruppen durchbrochen werden, statt alte Stereotype aufzuwärmen. Andererseits sollten Gemeinsamkeiten ausgelotet werden. "Es geht nicht darum, die Meinung der anderen zu ändern, sondern falsche Vorstellungen über die andere Seite auszuräumen. Vor allem geht es um wechselseitiges Verstehen, Vertrauen und Respekt." Dem schließt sich McKearney an, betont aber, die Unterschiede seien fundamental. Lakonisch setzt er sich von "Meinungsführern der Mittelschicht" ab, die glaubten, gemeinsame Ausflüge, integrierte Schulen und "ökumenisches Hymnensingen" könnten die Probleme lösen: "Diese Bemühungen sind ehrenwert, nur haben sie leider wenig Wirkung gezeigt."
 

Die Organisation Expac (Ex-Prisoners Assistance Committee), die Eingliederungshilfe für ehemalige Gefangene unabhängig von politischen oder konfessionellen Bindungen leistet, zählt zu den Herausgebern der Zeitschrift. Das Blatt finanziert sich unter anderem aus dem "Programm für Frieden und Versöhnung" der EU. Ungewöhnliche Perspektiven prägen die Beiträge von "The Other View". So haben vier protestantische Mitarbeiter/innen Angehörige der GAA, des Verbands der gälischen Sportarten, in Dublin interviewt. Spiele wie Gaelic Football, Hurling oder der Frauensport Camogie sind eng verbunden mit dem keltischen Revival der Jahrhundertwende und zu Symbolen des irischen Nationalismus geworden. In Nordirland werden sie ausschließlich von Katholiken betrieben. Regel 21 des GAA-Statuts schließt Angehörige der nordirischen Streitkräfte von der Mitgliedschaft aus. Protestanten sehen die Spiele daher meist als Fortsetzung des Konflikts mit sportlichen Mitteln. Von ihrem Besuch in Dublin berichten die Reporter/innen, dass Politik und Religion für die dortigen Hurling- oder Football-Spieler keine Rolle spielten. Der ehemalige IRA-Gefangene John Nixon schreibt über eine Ausstellung, die protestantische Paramilitärs über ihre Zeit im Gefängnis organisiert haben und entdeckt manche Parallele zur "Gefängniskultur" der Republikaner. Billy Mitchell und der ehemalige IRA-Gefangene Tommy Qorman diskutieren die Frage, ob die britische Monarchie eine legitime Herrschaftsform sei. Wenig überraschend, ihre Antworten könnten gegensätzlicher kaum sein.

"The Other View" ist nicht der erste publizistische Versuch, einen offenen Meinungsaustausch der nordirischen Bevölkerungsgruppen zu stiften. Bereits 1995 erschien das Buch "Perceptions. Cultures in Conflict" (Wahrnehmungen. Kulturen im Konflikt). Darin beschreiben Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt (London-)Derry wie sie die bis dahin 27 Jahre der Unruhen erlebt haben. Der Band umfasst Beiträge von Vertreterinnen und Vertretern aller Konfessionen und politischen Schattierungen. Prominentester Autor ist der spätere Friedensnobelpreisträger John Hume. Das Buch entstand kurz nach dem ersten Waffenstillstand, den die Irisch-Republikanische Armee im Herbst 1994 ausgerufen und der Friedenshoffnungen auf der Insel entfacht hatte. Im Februar 1996 detonierte eine IRA-Bombe in den Londoner Docklands, tötete zwei Menschen und verletzte über 100. Die Aufbruchstimmung war beendet.

Aus: "M", 8-9/2000 Zeitung der IG-Medien

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