Buchbesprechung

„Erde und Blut, Völkermord“

von Andreas Buro

Ben Kiernan, Professor für Geschichte und Gründungsdirektor des „Genocid Studies“ Programms an der Yale Universität stellt in einem dicken Buch die Geschichte von Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute dar. In den ersten Zeilen zitiert er zustimmend den portugiesischen Jesuiten Manuel de Nobrega. Dieser schrieb 1559: „Am Anfang der Welt war nur Mord und Totschlag“. Völkermord, Genozid oder Holocaust – Begriffe, die in diesem Zusammenhang eine Tradition haben – seien keine Erfindung der Neuzeit, sondern begleiteten die Menschheitsgeschichte. Es kursiert immer noch die Vermutung, die Neandertaler seien ein Opfer von Völkermord geworden.

Das Buch untersucht Genozide in drei Hauptteilen: I. Frühe imperiale Expansion, II. Siedlerkolonialismus, III. Genozid im 20. Jahrhundert. Es konzentriert sich auf die sechs Jahrhunderte seit 1400, die ‚Neuzeit‘ der Historiker. Kiernan erklärt: „Die Hauptkennzeichen der neuzeitlichen genozidalen Ideologie entstanden damals aus Verbindungen von religiös oder rassisch motiviertem Hass mit einem territorialen Expansionsstreben und Verklärungen einer versunkenen Zeit und bäuerlichen Lebens.“

Kiernan will die langsame Entwicklung des modernen völkermörderischen Rassismus vor dem Hintergrund eines sektiererischen Krieges, antiken Vorbildern und einer weltweiten Eroberung neuer Territorien, gepaart mit Visionen ihrer idealisierten landwirtschaftlichen Kultivierung rekonstruieren. „Wenn die Verklärung der Landwirtschaft in antiurbane oder monopolistische Denkmuster überging, verband sich der Genozid gelegentlich mit zunehmender Feindseligkeit gegenüber größeren Städten und Handelsplätzen.“ Er verfolgt dabei auch die Umdeutung von Leibeigenschaft zu rassistischen Betrachtungsweisen – ein sehr interessanter Aspekt.

Eines seines Untersuchungsergebnisse lautet, dass die vielfachen ethnischen und nationalreligiösen Unterdrückungen in der Gegenwart Aussöhnung immer schwieriger machen. Gegenläufige Trends seien das Ende des Kolonialismus und des Kalten Krieges, die Ausbreitung der Demokratie und des Völkerrechts sowie die Zunahme friedenssichernder Maßnahmen der Vereinten Nationen. Man mag Zweifel an diesem Optimismus angesichts jüngster Entwicklungen haben.

Kiernan geht in einem eigenen Kapitel historischen und juristischen Definitionen des Völkerrechts nach. Er sieht einen zentralen Ansatzpunkt in der 1948 von der UN verabschiedeten „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“, die er allerdings noch erweitern möchte, zum Beispiel um den „kulturellen Völkermord“ (Ethnozid). Auch der Begriff des „genozidalen Massakers“ sollte in die UN-Konvention eingefügt werden, worunter zeitlich und dem Umfang nach begrenzte Episoden des Mordens verstanden werden. In diesem Zusammenhang verweist er auf den Bericht des Historikers Flavius Josephus, der das Pogrom des römischen Statthalters Tiberius Julius Alexander in Alexandria 68 n.Chr. gegen die Juden beschreibt. Als Warnung an die Juden in der Stadt ließ er 50.000 jüdische Bürger der Stadt ermorden.

Genozide bedeuten massiven Einsatz von Gewalt. Der Autor erkennt aus seinen Untersuchungen, dass diese häufig mit erheblichen, oft auch schwer kontrollierbaren Prozessen verbunden sein können. Dabei weist er insbesondere auf die stalinistischen und maoistischen Genozide hin. Es könne dabei zu Spaltungen innerhalb der Täter- und der Opfergemeinschaften kommen. „Eine derart massive Gewalt und Vernichtung läßt sich ohne ideologische Windungen und Täuschungen nicht durchführen.“

Um Genoziden vorzubeugen, gälte es, rechtzeitig die Antriebe des Strebens nach Herrschaft und Gewalt sowie die ideologischen Präferenzen zu erkennen und ihnen nach Möglichkeit entgegen zu wirken.

Bei der Lektüre der vielen Beispiele aus den Jahrhunderten stößt man staunend auf die Grenzen der Untersuchung mörderischer Konflikte unter dem Gesichtspunkt der Genozidforschung. Zum Beispiel: In dem Kapitel Genozid im 20. Jahrhundert – Vom Mekong zum Nil finde ich ausführliche Berichte zu den grauenhaften Massakern des Pol Pot-Regimes und in Ruanda. Ich finde aber keinen Hinweis auf Hiroshima und Nagasaki, keinen zu dem US-amerikanischen Krieg mit Bomben, Gas, Napalm und Gift gegen Vietnam. Auch die über eine Million Tote des vom Westen unterstützten Krieges des Irak unter Sadam Hussein gegen den Iran werden nicht erwähnt, geschweige denn der Überfall der USA auf den Irak unter Bush jr. Behandelt wird dagegen Al-Qaida.

Diese Auslassungen haben nicht mit einer prowestlichen Haltung des Autors zu tun, sondern mit der oben besprochenen Definition der 1948 von der UN verabschiedeten „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“. Danach gehört Völkermord im Krieg eben nicht in diese Konvention und wird in deren Rahmen nicht verfolgt. Wäre es nicht so, dann wäre diese Konvention nie beschlossen worden, sondern sicherlich am Veto der Großmächte gescheitert. Wozu haben sie schließlich die ganzen teuren und technisch exzellenten Massenvernichtungswaffen entwickelt und installiert? Die Schlussfolgerung lautet also: Völkermord im Krieg ist kein Völkermord. Dafür dürfen auch Orden verliehen werden. Nur Völkermord ohne Krieg ist Völkermord und muss bestraft werden. Wird deshalb in Bezug auf Afghanistan so heftig um die Frage gestritten, ob dort ein Krieg geführt wird? Einen Tag, nachdem ich den letzten Satz geschrieben hatte, berichtete die FR vom 9.1.2010 über die Diskussion im politischen Establishment, den Krieg in Afghanistan nun als „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“ zu bezeichnen. Damit wären sie raus aus der Genozid-Falle der UN-Konvention. Bei Massenmord-Verbrechen können sie sich dann auf das Kriegsrecht berufen, nach dem auch Zivilisten umkommen können. Das sind häufig etwa neun mal so viel wie Soldaten. Kundus lässt grüßen.

Kiernan, Ben: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute. München 2009, DVA, 911 S. 49, 95 €. ISBN 978-3-421-05876-8

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