Erinnern für die Zukunft

von Kurt Faller

Die kommenden Jahrestage, der 50; Jahrestag der Reichspogromnacht am 9.11.1988, der 40. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1989 und der 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges werden Höhepunkte der Erinnerungsarbeit und der politischen Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der Bundesrepublik sein. Schon am 30. Januar 1983 und am 40. Jahrestag der Befreiung 1985 wurde deutlich: die Diskussion um die Vergangenheit ist eigentlich eine Diskussion um die Zukunft.

In einer Umbruchsituation spielt die Frage nach den Wurzeln der heutigen Probleme und den historischen Erfahrungen des Kampfes für Frieden und Demokratie eine besondere Rolle. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft.

In der Bundesrepublik nimmt die Diskussion um die Grundfragen der Zukunft besondere Formen an. Die Auseinandersetzung um Faschismus und Krieg durchdringt auch alle aktuellen gesellschaftlichen Diskussions- und Entscheidungsprozesse. Dabei zeigt sich, daß die "Unfähigkeit zu trauern", die nichtgeleistete Aufarbeitung und die verhinderte Durchsetzung der Forderungen des antifaschistischen Widerstandes ein ständiges Hindernis für eine positive Entwicklung ist.

Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und VVN-Bund der Antifaschisten haben zum 8. Mai 1988 gemeinsam eine Erklärung vorbereitet, die von vielen Personen und Organisationen unterzeichnet wurde. In dieser Erklärung heißt es:
Wir nehmen diese Jahrestage zum Anlaß, um zu fragen, wie weit der Schwur der Häftlinge · von Buchenwald unsere Gesellschaft bestimmt hat. Ihr Schwur drückt aus, was damals viele empfunden haben: Die Abkehr vom Alten muß zu einer grundlegenden Neuordnung führen; die Neuordnung ist nicht zu haben· ohne die Absage an das Alte. Die Gründung der Bundesrepublik hatte die Befreiung vom Faschismus zur Voraussetzung. Was ist auch den Hoffnungen und Absichten geworden?

Anhand von Gedenktagen sind wir im Laufe. der nächsten Jahre aufgefordert, unseren Umgang mit der Geschichte zu überprüfen. Das erinnernde Gedenken aber muß politische Folgen haben. Wenn wir in diesem Jahr am 9. November des · 50. Jahrestages der sogenannten "Reichskristallnacht" der Pogrome gedenken, dann ist uns bewußt, daß die brennenden Synagogen das Fanal zur endgültigen Auslöschung des europäischen Judentums gewesen sind.

Wir gedenken der gemordeten Menschen. Wir fragen aber auch, ob wir in unserer Gesellschaft aus dieser Erinnerung und aus diesem Gedenken schon die notwendigen Konsequenzen gezogen haben. Noch immer gibt es Antisemitismus, der einzelne Juden in unserem Land unmittelbar bedroht und unsere politische Kultur vergiftet. Zugleich müssen wir uns immer wieder für die wenigen noch erhaltenen Spuren des Lebens der Juden und ihres Beitrags zu unserer Kultur und Sozialgeschichte einsetzen. Immer wieder aber müssen wir unwürdige Auseinandersetzungen um den Erhalt einzelner Erinnerungsstätten beobachten.

Im Mai 1989 wird der 40. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland begangen. Trotz. der moralischen Abwendung vom Hitlerfaschismus hat es die vielbeschworene "Stunde Null" nicht gegeben .. Zwar ist eine neue Verfassungsordnung geschaffen worden, aber sie wurde ausgefüllt mit den alten bürokratischen Strukturen und getragen von den alten Machteliten.

Am 1. September 1989 ist der 50. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges. Ein Raubkrieg, der sich gegen alle Völker Europas richtete und in dem über 50 Mill. Menschen sterben mußten.

Notwendig ist das gemeinsame Gespräch an den Orten und gemeinsame. Aktionen, die auch die aktuellen Probleme mit einbeziehen:
Wie können wir heute gegen Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus vorgehen?
Wie können wir heute · einen Beitrag zu einer atomwaffenfreien Welt und dem gemeinsamen Haus Europa leisten?
Was können wir heute dagegen tun, daß Massenarbeitslosigkeit und Krise wieder reaktionäre und neofaschistische Strömungen begünstigen?

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Kurt Faller ist Mitglied im Sekretariat der Vereinigung der Verfolgten des Nazi¬regimes-Bund der Antifaschisten.